Regina Brinkmann: Sie haben es ja wahrscheinlich in den Nachrichten gehört, heute war Griechenland wieder Thema im Bundestag. Die Abgeordneten haben einem weiteren milliardenschweren Hilfspaket zugestimmt. Schon bei früheren Abstimmungen haben Parlamentarier eingeräumt, wie schwer es für sie ist, bei diesem hochkomplexen Thema noch den Überblick zu behalten und sich innerhalb kürzester Zeit in alle finanzpolitischen Details einzuarbeiten.
Vielen Lehrern, die beispielsweise Politik und Gesellschaftskunde unterrichten, geht es da nicht viel anders. Schulbücher, die diese Krise umfassend abbilden, gibt es kaum, oder sie hinken den letzten Entwicklungen schon wieder hinterher. Worauf greifen sie also zurück, wenn sie Griechenland und die Eurokrise im Unterricht zum Thema machen wollen?
Professor Till von Treeck hat mit Studierenden im Fachbereich Sozialökonomie an der Uni Duisburg-Essen verschiedene Unterrichtsmaterialien untersucht, und ich habe ihn vor dieser Sendung gefragt, welche Materialien es gibt und wie es um ihre Qualität bestellt ist.
"Schulbücher hinken der Entwicklung häufig hinterher"
Till van Treeck: Zunächst muss man wissen, dass in Deutschland in den letzten Jahren es sehr viele neue Online-Schulmaterialien gegeben hat. Also das Internet wird entdeckt als ein Markt für die Verbreitung dieser Materialien, und das ist ja auch grundsätzlich zu begrüßen, weil, wie Sie richtig sagen, Schulbücher der Entwicklung häufig hinterherhinken.
Das Problem, das man aber beobachtet bei diesen Online-Materialien, ist, dass sehr viele dieser Materialien von privaten Interessengruppen bereitgestellt werden, die in ihrer Ausrichtung nicht immer neutral sind und deswegen auch die Kontroversität von wirtschaftswissenschaftlichen, wirtschaftspolitischen Diskussionen nicht immer vollständig berücksichtigen.
Brinkmann: Wie gefärbt sind denn diese Materialien?
van Treeck: Teilweise sind die Materialien stark gefärbt. Man kann vielleicht grob unterscheiden zwischen den Materialien, die arbeitgebernah oder auch arbeitgeberfinanzierte Interessengruppen bereitstellen. Da wird dann im Hinblick auf die Eurokrise eine sogenannte neoklassische Perspektive mit wirtschaftsliberalen Politikempfehlungen häufig dargestellt. Das heißt, es wird empfohlen, dass die Arbeitsmärkte in den Krisenländern dereguliert werden, dass die Löhne gesenkt werden und dass die Staatsausgaben stark gesenkt werden. Das heißt, die Verantwortung wird in erster Linie bei den Krisenländern gesehen.
Und dann gibt es aber mittlerweile auch eher arbeitnehmernahe, gewerkschaftsnahe Materialien, wo typischerweise stärker eine sogenannte keynesianische Perspektive betont wird, die auch auf die Verantwortung der Länder mit Exportüberschüssen wie Deutschland hinweisen und die beispielsweise kritisieren die schwache Lohnentwicklung in Deutschland, die Einschnitte in den Sozialsystemen, die relativ schwache Entwicklung der Staatsausgaben, die nach dieser Perspektive die jetzigen Krisenländer unter Druck gesetzt haben, ebenfalls die Löhne zu senken, die Staatsausgaben zu reduzieren. Das heißt, da ist die Kritik viel stärker auf Deutschland und den anderen Exportüberschussländern.
Bundeszentrale für politische Bildung als erste Anlaufstelle für Lehrer
Brinkmann: Sind denn Lehrer dann besser beraten, wenn sie zum Beispiel auf Materialien von der staatlichen Bundeszentrale für politische Bildung zurückgreifen?
van Treeck: Ja, die Bundeszentrale für politische Bildung ist ja in Deutschland die Hüterin sozusagen des Kontroversitätsgebots, dem zentralen Prinzip in der politischen Bildung, und da beneidet man uns im Ausland auch für, dass es eine solche Instanz gibt. Und für Lehrerinnen und Lehrer sollte das sicherlich die erste Anlaufstelle sein, wenn es darum geht, Onlinematerialien zu aktuellen Themen zu suchen.
Aber auch da muss man natürlich von Material zu Material im Einzelnen immer schauen, ob dann die Kontroversität beachtet wird. Und gerade das Thema Eurokrise ist natürlich eines, wo wir im Moment alle nach Orientierung suchen, und das heißt, Lehrerinnen und Lehrer kommen einfach nicht daran vorbei, sich selbst in die Fachdebatten einzuarbeiten und dann jedes Material sozusagen einzeln auch vor diesem Hintergrund zu bewerten.
Brinkmann: Wie ist denn die Qualität der Unterrichtsmaterialien in anderen europäischen Ländern?
van Treeck: Was wir uns jetzt konkret angeschaut haben für unsere Studie, ist die Situation in Frankreich. Das ist hochinteressant. Frankreich ist ja ein sehr zentralisiertes Land, und da gibt das nationale Bildungsministerium einen Leitfaden heraus für Lehrerinnen und Lehrer, mit Empfehlungen, wie die Eurokrise in der Schule besprochen werden sollte.
Kritische Auseinandersetzung mit deutschem wirtschaftspolitischem Modell
Und was da eben sehr dominant ist, ist eine kritische Auseinandersetzung vor allem mit dem deutschen wirtschaftspolitischen Modell, das also auf einer relativ schwachen Entwicklung der Löhne basiert, auf einer relativ schwachen Entwicklung der Staatsausgaben und eben auf der Empfehlung, jetzt in der Krise Austeritätspolitik zu betreiben. Und ich denke, wenn diese Perspektive, die in Frankreich sehr stark an den Schulen diskutiert wird, auch in Deutschland im Unterricht stärker Berücksichtigung finden könnte, dann wäre viel getan für eine kontroversere Auseinandersetzung mit diesem Thema Eurokrise.
Brinkmann: Ja, soweit dieser Appell von Till van Treeck, Sozialökonom an der Universität Duisburg-Essen. Dort hat er verschiedene Unterrichtsmaterialien zur Eurokrise untersucht und ist dabei auf viele Unterlagen gestoßen, die das Thema nur sehr einseitig behandeln.
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