Dirk Müller: Regierungserklärung von Angela Merkel in gut anderthalb Stunden im Reichstag in Berlin. Das Thema: Der EU-Gipfel morgen und übermorgen in Brüssel. Alles unter den Vorzeichen der umstrittenen Flüchtlingspolitik. Denn die von der Kanzlerin groß propagierte Kontingentlösung macht so gut wie keiner mit. Auch das große Partnerland Frankreich nicht. Paris zeigt Angela Merkel die kalte Schulter. Selbst Wien ist längst von der deutschen Regierungschefin abgerückt, in der Praxis jedenfalls, und von der Schwesterpartei CSU ganz zu schweigen. Bleibt vielleicht die SPD; sie hält noch zu ihr.
Die umstrittene Flüchtlingspolitik, das Abrücken von der Kanzlerin fast überall in Europa und morgen dann der EU-Gipfel in Brüssel - unser Thema jetzt mit Joachim Fritz-Vannahme, Direktor des Europaprogramms der Bertelsmann-Stiftung. Guten Tag.
Joachim Fritz-Vannahme: Schönen guten Tag, Herr Müller.
Müller: Herr Vannahme, was bleibt von Angela Merkel noch übrig?
Fritz-Vannahme: Ach, es bleibt natürlich eine Position, die nach wie vor zentral ist, auch wenn sie ihre Position bei diesem Gipfel nicht überall wird durchsetzen können. Sie hat das ja in dem kleinen Mitschnitt, den Sie eben einspielten, selber schon angedeutet. Ich glaube nicht, dass der Gipfel scheitern wird, weil an verschiedenen Ecken und Enden doch jetzt Einsicht signalisiert wird und nicht mehr diese Haltung Abkehr und kalte Schulter gegenüber den Partnern, die wir in den letzten Wochen leider häufig zu Gesicht bekommen haben. Der Rest ist wie so häufig bei solchen Gipfeln Verhandlungssache. Die Maximalforderung von Angela Merkel hat die Kanzlerin selbst vom Tisch genommen, nämlich die Kontingente oder die Quoten, und das als einen zweiten Schritt beschrieben. Man wird sich, glaube ich, sehr, sehr schnell einigen, was die verstärkte Sicherung der Außengrenzen angeht. Da ist ja auch schon einiges passiert. Man wird sich auch wahrscheinlich noch mal über den Punkt Kooperation mit der Türkei intensiver beugen und sagen, da sind ja erste Schritte von der Türkei gemacht worden, können wir jetzt eventuell noch mehr machen. Man wird sich vermutlich noch nicht einmal bei der Schließung der Balkan-Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland sehr uneins sein, weil alle irgendwo das Gefühl haben, man darf hier einem noch nicht Mitgliedsstaat der Europäischen Union wie Mazedonien nicht die Verantwortung einfach aufhalsen und so tun, als ob das deren Aufgabe wäre (zumal auf die Art und Weise ja ein Mitgliedsstaat, nämlich Griechenland, plötzlich vom Rest komplett abgeschnitten würde).
Müller: Herr Vannahme, wir müssen jetzt hier zunächst einmal einen Punkt machen. Sie haben jetzt ganz viele Aspekte reingebracht. Sie sagen, es bleibt unglaublich viel davon übrig. Die ganze Sache geht weiter, geht eventuell sogar in die richtige Richtung. Wir berichten seit Tagen, seit Wochen über Grenzrestriktionen, über Grenzschließungen. Wir haben jetzt ganz jüngst über den Gipfel der Visegrád-Staaten gesprochen. Wir haben Schwierigkeiten gehabt, irgendwo ein positives Signal in Richtung Angela Merkel in Europa zu finden, auch aus Istanbul nicht, wenn man genauer dahin schaut, nämlich genauer auf die Praxis schaut. Warum und woher kommt dieser Optimismus?
Fritz-Vannahme: Nein, ich sage nicht, dass sie ihre Lösung bekommt, sondern ganz im Gegenteil. Ich glaube, sie hat ihre große Lösung, die sie angestrebt hat, soeben vom Tisch genommen und weiß jetzt, dass sie mit kleinen Schritten erst mal anfangen muss. Und da denke ich, dass viele kleine Schritte bereits getan oder eingefädelt worden sind und auch weiterhin getan werden müssen.
Ich würde persönlich davor warnen, hier an einen Königsweg oder eine Patentlösung zu glauben. Die wird es nicht geben. Wir werden 2016 nicht die Lösung der Flüchtlingskrise in Europa und an Europas Grenzen erleben, sondern das wird das Bohren von dicken Brettern sein. Man kann natürlich auch sagen, das wird der mühsame Schutz an Wassergrenzen vor allem sein. Ich glaube, dass wir da alle die Temperaturen ein wenig runterfahren müssen, und wenn Sie eben gesagt haben, Visegrád und Türkei, ich glaube, die beiden Länder haben das durchaus schon verstanden und versuchen das auch. Ob das dann reicht, ob das dann hinterher nicht wieder sofort zu Gegenreaktionen erhitzter Art führt, das müssen wir abwarten.
Müller: Das große Konzept der Kanzlerin - jetzt meine Frage -, was wir seit Monaten hier diskutieren und ventilieren, ist gescheitert?
Fritz-Vannahme: Vorläufig sehe ich keine Quotenlösung. Das ist hier, glaube ich, auch spätestens seit dem Auftritt des französischen Premierministers Valls an diesem Wochenende in München klar geworden. Die 160.000, die die Europäische Kommission vorgegeben hat zur Verteilung, die werden ja nicht verteilt. Das hat die Kanzlerin ja selber angesprochen.
Müller: Also gescheitert?
Fritz-Vannahme: Also glaube ich, dass das im Augenblick keine Lösung der Flüchtlingskrise sein kann. Quoten werden zu keiner Lösung führen.
Müller: Die Kanzlerin ist mit diesem Konzept nach Europa gegangen, in jede Verhandlung, in jedes bilaterale Gespräch, in jedes multilaterale Gespräch. Also hat sie sich verzockt, hat sie das falsch eingeschätzt?
Fritz-Vannahme: Ich glaube, dass das kein Verzocken von ihr aus gesehen war. Sie hat da versucht, einen wertebezogenen, zum Teil auch interessenbezogenen Standpunkt durchzusetzen. Das sahen andere ganz anders. Ich persönlich habe schon im letzten Herbst immer wieder davor gewarnt, bei dieser Verteilung, bitte schön, die Arbeitslosenraten in den Mitgliedsstaaten vielleicht sich noch mal genauer anzuschauen. Ich meine, wenn ich eine Jugendarbeitslosigkeit von 25 oder gar 45 Prozent habe wie in den Südländern, dann kann ich doch keine Jugendlichen (und die Flüchtlinge sind zur Hälfte unter 25) aufnehmen und in den Arbeitsmarkt integrieren. Das ist doch illusorisch.
Müller: Wenn Sie sagen, nicht verzockt, dann war es naiv?
Fritz-Vannahme: Nein! Ich glaube, sie war von Werten getrieben, durchaus übrigens auch unterstützt von interessierten Kreisen in Deutschland, unsere Demographie, unser Arbeitsmarkt und so weiter.
Müller: Also von der Wirtschaft?
Fritz-Vannahme: Ja. Und da wurde in Deutschland manchmal nicht genau genug hingeguckt, dass die Situation bei europäischen Partnern unter Umständen völlig anders ist.
Müller: Kann das sein, dass man Europa anführen will, aber gar nicht weiß, wie Europa tickt?
Fritz-Vannahme: Ja, aber ich glaube, die Erfahrung musste man im letzten Herbst und in diesem Winter in Berlin an der einen oder anderen Stelle machen und hat auch deswegen, glaube ich, im Moment die Strategie ein Stück weit verändert. Es sind nicht mehr die Quoten, die im Vordergrund stehen, sondern es sind bilaterale Absprachen, es sind praktische Lösungen, kleine Schritte, und jetzt wird man mal schauen, was dieser Gipfel an zusätzlichen kleinen Schritten ergibt. Ich glaube, die Atmosphäre wird viel, viel weniger gespannt sein, als wir das vielleicht noch vor zwei Wochen vermutet haben.
Müller: Sie sagen, Herr Vannahme, viele in Berlin haben das falsch eingeschätzt, unterschätzt, wie auch immer. Es ist nicht nur die Kanzlerin?
Fritz-Vannahme: Nein. Ich meine, die Kanzlerin steht ja nicht alleine da. Ich meine, große Teile ihrer eigenen Partei sind durchaus nach wie vor hinter ihr, Kritiker hin oder her.
Müller: Weil sich das so gehört?
Fritz-Vannahme: Ja, weil es sich vielleicht so gehört. Aber ich glaube, weil auch der eine oder andere sagt, das ist eigentlich eine vernünftige Linie. Die SPD steht auch hinter ihr. Die Grünen haben bisher - die Linken haben Sie ja eben, Herrn Bartsch zitiert in Ihrer Sendung - auch keinen Widerspruch fundamentaler Art angemeldet. Sie kann sich da innerhalb von Deutschland doch immerhin auf ein großes Maß von Einigkeit nach wie vor stützen.
Müller: Bei den Parteien, die jetzt im Parlament sind?
Fritz-Vannahme: Richtig. Wir wissen, wovon wir reden. Wenn wir natürlich auf die gucken, die ins Parlament drängen, wie die AfD.
Müller: Fanden Sie das auch unter der politikwissenschaftlichen Betrachtung und Analyse gut, oder finden Sie es gut, dass im Parlament wenig Alternativen diskutiert werden?
Fritz-Vannahme: Na ja. Die öffentliche Debatte, die diskutiert das ja, und bis das in die Parlamente reingewachsen ist, warten wir mal ab. Und ob dann diejenigen, die hier im Augenblick am lautesten nach Quoten und Grenzschließung rufen, am Ende Rezepte anbieten können, wie sie das in Praxis übersetzen wollen, das wollen wir noch mal sehen. Ich habe da ein gerüttelt Maß an Skepsis.
Müller: Ich sehe jetzt gerade wieder ein Bild von Frank-Walter Steinmeier bei uns auf dem Monitor, der wieder auch gesagt hat und bestimmt wieder sagen wird, wir müssen die Außengrenzen besser schützen. Das heißt, die Probleme, die wir nicht in den Griff bekommen, müssen dann die ärmeren, entfernteren Länder von uns erledigen?
Fritz-Vannahme: Ja, und deswegen benötigen wir eine Art Marshall-Plan, ich würde mal sagen, für die gesamte Mittelmeer-Gegend, in die auch die nordafrikanischen und Nahost-Staaten mit einbezogen werden müssen, in den selbst die Türkei mit einbezogen werden muss. Denn wer Fluchtursachen verhindern will, der muss erheblich mehr tun, als nur Frontex zu verstärken und die NATO da runterzuschicken mit ein paar Booten. Der muss dafür sorgen, dass diese Region, die ja nun wirklich ein Pulverfass ist, endlich befriedet wird und jedenfalls geregelte Gespräche wieder möglich werden, was im Augenblick mit vielen, vielen Nachbarstaaten ja überhaupt nicht mehr geht.
Müller: Aber über den klassischen Nahost-Konflikt haben wir die letzten Jahrzehnte häufig geredet, Israel, Palästina. Das ist jetzt alles viel, viel größer geworden. Ist das eine realistische Perspektive, die Situation im Nahen Osten in den nächsten Jahrzehnten zu lösen?
Fritz-Vannahme: Ich glaube, wir können es uns gar nicht aussuchen. Wir müssen es versuchen. Ob das dann und wie das dann hinterher funktioniert, das müssen wir dann im Einzelnen sehen. Ich habe im Augenblick den Eindruck, dass selbst in Libyen unter schwierigsten Verhältnissen Fortschritte nicht möglich sind. Sie haben Herrn Steinmeier angesprochen, der in diesen Tagen durchaus sagt, vielleicht lässt sich auch im Syrien-Konflikt das machen, im Syrien-Krieg das machen und versuchen, was wir mit dem Iran gerade hinbekommen haben. Beim Iran hat es zehn Jahre gedauert, bis wir wirklich zu Gesprächsergebnissen gekommen sind.
Müller: Das könnte man dem deutschen Publikum auch sagen, zehn, 15 Jahre vielleicht Minimum?
Fritz-Vannahme: Ja. Ich glaube, man muss dem Publikum nicht nur in Deutschland sagen, erstens, ihr müsst sehr viel mehr Geduld haben, und zweitens, ihr müsst sehr viel mehr euch auch darauf einstellen, dass Außenpolitik von Europa aus gemacht wird und dass das kein Wolkenkuckucksheim-Thema ist, sondern dass das Innenpolitik geworden ist. Ich meine, wir reden hier nicht über ferne Länder; wir reden über Länder, die auf unserer eigenen Türschwelle mehr oder weniger anfangen und die wir als Touristen und Reisende ja praktisch jedes Jahr intensiv kennenlernen und von denen wir plötzlich eine ganz andere soziale Realität zurückgespiegelt bekommen.
Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk Joachim Fritz-Vannahme, Direktor des Europaprogramms der Bertelsmann-Stiftung. Haben Sie vielen Dank, dass Sie für uns Zeit gefunden haben. Einen schönen Tag noch.
Fritz-Vannahme: Ihnen auch.
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