Europa wird durch Krisen stärker. Diesen Satz bekommt jeder rasch zu hören, der mit erfahrenen Eurokraten spricht und wieder einmal eine Krise der Europäischen Union beklagt. Geschwind wird dann der ganz große historische Bogen geschlagen: Jeder Streit um Referenden, Verfassungsänderungen oder neue Mitglieder habe Europa am Ende nur enger zusammengeschweißt. Die Weltwirtschaftskrise und speziell die Eurokrise hätten den Weg für neue Instrumente der Finanzaufsicht geebnet, die Coronakrise der Kommission einen Machtzuwachs beschert. Und selbst der Brexit sei am Ende eine europäische Erfolgsgeschichte gewesen: Habe er doch gezeigt, dass die Union eben nicht zu spalten sei – niemand habe den Schritt bislang nachgemacht, und die Briten seien mit ihrer Entscheidung ja alles andere als glücklich geworden.
An manchen dieser Argumente ist sogar etwas dran, Europa kann Krise gar nicht so schlecht, wie fanatische Europagegner immer suggerieren. Und doch gibt es ein Feld, in dem noch keine einzige Krise wirklich zu einem dauerhaften europäischen Durchbruch geführt hat: das Feld der Außen- und Sicherheitspolitik. Die aktuellen Konflikte in der Ukraine und dem Nahen Osten unterstreichen diesen Befund nicht nur, sie führen ihn sogar beispielhaft vor.
Keine gemeinsame Linie bei Außenpolitik
Während Europa kurz nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges erstaunlich geschlossen auftrat, ist die bekannte außenpolitische Kakofonie dort längst wieder Alltag. Den Europäern gelingt es gerade nicht einmal, lange versprochene Munition an die Ukraine auch wirklich zu liefern. Schon zuvor wurde klar, dass einige osteuropäische Staaten aus Rücksicht auf Russland nicht mehr willige Partner der Ukraine sein wollen. Im Nahen Osten wiederum können sich die Europäer nicht einmal ansatzweise auf eine gemeinsame Linie verständigen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erntete für ihren anfänglichen proisraelischen Kurs heftigen Gegenwind. Und als es um eine UNO-Resolution ging, die den Hamas-Terror nur halbherzig verurteilte, war auf europäischer Seite von Zustimmung über Enthaltung bis Ablehnung alles dabei.
Nach wie vor scheint zu gelten: Geht es um nationale Interessen, ist jede nationale Regierung sich selbst am nächsten – auch nach vielen europäischen Sonntagsreden über eine gemeinsame europäische Armee, gemeinsame Rüstungsbeschaffung, einen europäischen diplomatischen Dienst oder gar einen ständigen EU-Sitz im Uno-Sicherheitsrat.
USA keine Weltpolizei mehr
Diese europäische Uneinigkeit ist nicht nur peinlich, sie ist hochgradig gefährlich. Vor allem, da doch längst die "Zeitenwende" ausgerufen worden ist und über "Kriegstüchtigkeit" wieder ganz offen diskutiert wird. Besonders dramatisch ist sie aber, wenn man den Blick vom Klein-Klein um Waffenlieferungen auf die strategische Ebene weitet. Wir leben in einer Welt, die längst eine multipolare geworden ist. Der einstige Weltpolizist USA will diese Rolle nicht mehr spielen, wie die Diskussionen um ein Ende der Ukrainehilfe im heillos zerstrittenen amerikanischen Kongress zeigen. Die Amerikaner können sie aber auch nicht mehr spielen, weil ihnen mit China längst ein mächtiger Gegenspieler erwachsen ist und in Washington deswegen die Neigung wächst, „europäische“ Konflikte den Europäern zu überlassen.
Die Gemengelage ist also unter einem demokratischen US-Präsidenten Joe Biden – immerhin noch ausgestattet mit echtem Interesse an und Kenntnis über die Ukraine, Europa und Deutschland – schon oft ernüchternd und schwierig genug. Aber wie würde es erst, wenn Präsident Trump ins Weiße Haus zurückkehrt, der offen damit droht, die NATO aufzulösen und US-Hilfe für die Ukraine binnen 24 Stunden zu beenden?
In Berlin weigern sich die Mächtigen, diese Möglichkeit trotz immer neuer bedrohlicher Umfragewerte auch nur zu durchdenken. Biden werde schon wieder gewinnen, heißt es stoisch. Frankreich, schon immer mit einem Hang zur Emanzipation von Washington, denkt weiter und fordert eine Debatte über eine neue europäische Sicherheitsstrategie. Aber um diese wirklich ernsthaft anzugehen, müsste Europa überhaupt erst mal strategisch im Gleichklang denken. Dafür sind aktuell, trotz der offensichtlichen Notwendigkeit, leider keine Anzeichen erkennbar.
Gregor Peter Schmitz, geboren 1975, studierte Jura und Politikwissenschaft in München, Paris, Cambridge und Harvard. Viele Jahre war er als Auslandskorrespondent des SPIEGEL tätig, in Washington und Brüssel, und gehörte u. a. zum Wikileaks- und NSA-Team des Magazins. Danach übernahm er das Hauptstadtbüro der "Wirtschaftswoche" und ist seit Anfang 2018 Chefredakteur der "Augsburger Allgemeine", einer der größten deutschen Tageszeitungen. Zahlreiche Auszeichnungen, etwa mit dem "Henri-Nannen-Preis", dem "Theodor-Wolff-Preis", dem "Arthur F. Burns"-Preis, den Lead Awards und als einer der "Chefredakteure des Jahres" (2018 und 2019, Medium Magazin). Sein erstes Buch "Wetten auf Europa: Gespräche mit George Soros" war ein SPIEGEL-Besteller.