Stephanie Rohde: Unbequem sein – das wollen Menschen, die gegen etwas auf die Straße gehen. So geht es wohl denjenigen, die an den Ostermärschen an diesem Wochenende teilnehmen, aber auch denjenigen Schülerinnen und Schülern, die freitags für die "Fridays for Future"-Demonstrationen die Schule schwänzen, oder auch die Gelbwesten in Frankreich, die gegen das Establishment demonstrieren. Viele scheinen also gerade in Bewegung zu sein, und das vier Wochen vor der Europawahl. Kann man da von Aufbruchsstimmung in Europa sprechen?
Darüber habe ich mit Slavoj Zizek gesprochen, ein Mann, der auch gerne unbequem ist. Er ist einer der bekanntesten und auch streitbarsten Philosophen der Gegenwart. In seinen unzähligen Büchern analysiert er aktuelle Politik, und liest andere Philosophen gegen den Strich. Der in Ljubljana geborene Zizek ist 1990 in Slowenien als Präsidentschaftskandidat angetreten. In den vergangenen Jahren hat er die linke paneuropäische Bewegung Diem25 des ehemaligen griechischen Finanzministers Yannis Varoufakis unterstützt.
Ich wollte eingangs von Slavoj Zizek wissen: Seit einigen Monaten gehen Menschen für mehr Klimapolitik auf die Straße oder gegen steigende Mieten in Deutschland, aber eben auch wie die Gelbwesten in Frankreich gegen das Establishment. Erleben wir wenige Wochen vor der Europawahl eine Aufbruchsstimmung oder eine Abstimmung mit den Füßen in Europa?
Slavoj Zizek: Meiner Meinung nach sind diese Proteste zutiefst zwiespältig. Es gibt eine generelle Unzufriedenheit, aber bei genauerem Hinsehen merkt man, dass der Philosoph Alan Badiou es wohl am zutreffendsten beschrieben hat mit seinem Satz: Nicht alles, was sich aufbäumt oder bewegt, ist auch notwendigerweise rot. Denn ist es nicht paradox, dass wir Proteste erleben gegen hohe Lebenshaltungskosten und gegen zu niedrige Löhne, die dann aber nicht von Linken, sondern von Rechtspopulisten aufgegriffen werden?
Die Rechtspopulisten nutzen diese Proteste besser für ihre Zwecke, sie sind besser organisiert in der Hinsicht. Nicht so sehr in Deutschland, aber in anderen Teilen Europas werden Proteste eher in Verbindung mit den Rechten gemacht. Die Rechten sind auch diejenigen, die typisch sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatspolitik machen, wenn sie an die Macht kommen. Salvinis rechte Lega in Italien war die Erste, die ein Bürgereinkommen eingeführt hat.
Deshalb meine ich, wir sollten der Versuchung widerstehen, diese Proteste generell zu feiern. Ja, die Menschen haben gesprochen, ihre Unzufriedenheit ist authentisch, aber gleichzeitig haben Menschen in all ihrer Dummheit gesprochen, ich habe keine Angst davor, dieses Wort zu benutzen, mit Blick auf die Gelbwesten in Frankreich, die wortwörtlich nicht wissen, was sie wollen. Sie rufen nach niedrigen Benzinpreisen, gleichzeitig wollen sie höhere Umweltstandards. In diesem Fall gibt es keine konsistente Vision.
"Diese konkreten Proteste, die wir erleben, unterstütze ich komplett"
Rohde: Kann man das nicht auch ganz anders sehen, dass diejenigen, die gegen steigende Mieten auf die Straße gehen oder für Enteignungen von großen Immobilienkonzernen, dass die sehr, sehr genau wissen, was sie wollen?
Zizek: Ja, diese konkreten Proteste, die wir erleben, unterstütze ich komplett. Besonders die "Fridays for Future"-Demonstrationen für mehr Klimaschutz. Ich stehe an ihrer Seite. Besonders Greta Thunberg ist hier mein Ideal, das autistische Mädchen aus Schweden. Wir brauchen mehr autistische Bewegungen heutzutage. Damit meine ich, dass sie nicht in diese Falle tappt, dass man mehr debattieren muss über die Gefahr des ökologischen Kollapses und bloß nicht zu schnell handeln, denn dann tut man am Ende gar nichts.
Greta ist - kein Witz - die neue Figur der Antigone. Statt offen zu debattieren, beharrt sie dogmatisch auf ihrem Standpunkt, mit dieser Form des Protests stimme ich überein.
"Wenn wir auf die große Antwort warten, wird die große Antwort niemals kommen"
Rohde: Herr Zizek, Sie haben Linke lange kritisiert dafür, dass sie keine überzeugende große Antwort geliefert haben gegen die Auswüchse des Neoliberalismus. Vielleicht zeigen aber diese Proteste, die ja sehr spezifisch sind, dass man gar keine große Antwort braucht, sondern viele kleine Antworten, und die Bürger eben diese jetzt einfordern?
Zizek: Ja, ich stimme zu, wenn wir auf die große Antwort warten, wird die große Antwort niemals kommen.
Rohde: Weil es eine populistische ist?
Zizek: Nein, nein. Die große Kunst der Politik besteht nicht darin, gegen kleine Schritte zu sein und die große Revolution zu fordern, sondern anzufangen, mit einer ganz bestimmten, mit Bedacht gewählten Geste.
So wie Barack Obama das - natürlich mit Einschränkungen - mit der Gesundheitsreform Obamacare getan hat. Das war erschütternd revolutionär für die USA. Mit Blick auf die Proteste würde ich trotzdem immer skeptisch bleiben, denn wer weiß, wer sich diese Proteste letztlich zu eigen machen wird?
Rohde: Diese Proteste passieren, gleichzeitig erleben wir, dass es kurz vor der Europawahl die Prognose gibt, dass die drei EU-skeptischen Parteien im Europaparlament die zweitgrößte Fraktion werden könnten. Heißt das, dass es um einen Kampf um das freiheitlich-demokratische Europa geht und eine Mobilisierung auf beiden Seiten stattfindet?
Zizek: Ja, prinzipiell schon, aber auch hier bin ich wieder skeptisch. Selbstverständlich finde ich die neuen Rechtspopulisten schrecklich, aber wir sollten darüber nicht vergessen, dass das Scheitern und die Desintegration der europäischen liberalen Mitte erst dazu geführt haben, dass das emanzipatorische Europa nun bedroht ist.
Was ich nicht akzeptiere, ist, wenn viele Liberale zu den Linken in Europa sagen: Die wahre Gefahr geht von den Faschisten und ihrer Migrationsfeindlichkeit aus, deshalb lasst uns unsere Differenzen vergessen und nur darauf konzentrieren.
Natürlich, wenn Anti-Immigrationspolitiker rassistische Maßnahmen vorschlagen, sollten wir gemeinsam mit der liberalen Mitte dagegen stimmen, aber das kann nicht die endgültige Antwort sein. Die ultimative Antwort ist es, sich darauf zu konzentrieren, was mit dem links-liberalen Europa schiefgelaufen ist, dass solche migrationsfeindlichen Proteste überhaupt so viel Raum bekommen konnten. Wir sollten darauf beharren. Tun wir das nicht, sind wir verloren, dann werden die Populisten nur weiterhin siegen.
"Der Krieg wird möglich, weil wir ihn für unmöglich halten"
Rohde: Aber ist es nicht zu einfach, Neoliberalismus oder den Kapitalismus für alles verantwortlich zu machen?
Zizek: Nein, das mache ich überhaupt nicht, ich bin sehr realistisch. Um das zu belegen: Ich mag nicht mal den Begriff Neoliberalismus. Jeder gute Analyst wird dir sagen, dass Neoliberalismus ein Schimpfwort ist. Die vermeintliche Prämisse stimmt nicht, dass der Neoliberalismus dazu führt, dass der Staat seine Macht verliert und nur noch große Unternehmen regieren.
Gerade in westlichen Demokratien, in den USA von Trump, in China, Singapur, Südkorea, also in den richtig erfolgreichen Volkswirtschaften, ist der Staat stärker als je zuvor. Ich beschuldige den Kapitalismus nicht für alles. Ich sage nur, sie können nicht mit einer ökologischen Krise umgehen im Rahmen des globalen Kapitalismus, und deshalb sage ich: Wir brauchen Formen der kollektiven Entscheidungsfindung, die nicht vom Kapital kontrolliert werden.
Rohde: Sie plädieren gleichzeitig dafür, dass wir angesichts all dieser Krisen, in der die EU steckt - nationalistischen Tendenzen, Brexit, Blockaden in Fragen wie der Migration, Klimapolitik -, Sie plädieren radikal dafür, dass wir annehmen sollen, dass wir vor einem neuen Krieg in Europa stehen. Warum sollten wir das tun?
Zizek: Der europäische Konsens war eine Art links-liberaler Konsens. Ich folge hier Peter Sloterdijk, der davon spricht, dass die Grundlage des europäischen Wertesystems eine objektivierte Sozialdemokratie war. Wer immer gerade regiert hat, es war immer klar, dass der Wohlfahrtsstaat, das Gesundheitswesen, Feminismus Teil unseres Konsens waren. Und selbst wenn es nicht wörtlicher Krieg ist, ist meine These, dass der Konsens nicht mehr existiert. Das zeigt sich auch am Streit der EU mit Ungarn und Polen.
Der Krieg wird möglich, weil wir ihn für unmöglich halten, und die Parallele zu heute ist nicht etwa der Faschismus in den 30er-Jahren, sondern die Situation vor dem Ersten Weltkrieg. Damals hat ganz Europa 20 Jahre lang über Krieg gesprochen. Niemand hat damals geglaubt, dass es tatsächlich Krieg geben kann. Und dann ist der Krieg ausgebrochen.
"Wenn die Dinge so weitergehen, wie sie gerade laufen, dann wird Europa zerfallen"
Rohde: Wie ändert das unseren Blick auf das Jetzt? Wenn man Angst vor einem Krieg schürt, führt das nicht dazu, dass Politikerinnen und Politiker keine durchdachten Alternativen mehr finden, sondern ganz spontan und verrückt handeln?
Zizek: Hier folge ich dem Gedanken meines Freundes Jean-Pierre Dupuy, einem Theoretiker der Katastrophe, der genau das Gegenteil sagt: Gerade um die Bedrohung wirklich bekämpfen zu können, müssen wir sie als eine realistische Möglichkeit anerkennen, und dann müssen wir alles tun, damit es nicht passiert.
Wenn die Dinge so weitergehen, wie sie gerade laufen, dann wird Europa zerfallen, es wird möglicherweise lokale Kriege geben, weil die großen Mächte alles daran setzen, die letzten Überreste der europäischen Einheit und Geschlossenheit zu zerstören. Steve Bannon versucht mit einer Art Akademie die anti-europäischen Populisten zusammenzubringen. Putin tut alles, um die EU zu desintegrieren.
Ich sage nicht, dass die gewinnen werden. Es ist möglich, dass sie verlieren, aber es kann ähnlich wie in Großbritannien passieren, dass die Hauptverfechter des Brexit, die UKIP-Partei, praktisch verschwunden ist, aber ihre Ideen im Mainstream aufgegangen sind.
Genau deshalb bin ich sehr besorgt. Selbst wenn die einwanderungsfeindlichen Parteien verschwinden in Europa, werden sie verschwinden, weil ihre Ideen zum Mainstream geworden sind. Dieser Prozess ist unser Schicksal. Nicht Schicksal im Sinne von: Wir können nichts tun, sondern Schicksal im Sinne von: Wenn wir nichts tun, dann wird genau das passieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.