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Europa
"Man muss Solidarität neu herstellen"

Was heißt Solidarität in Europa? Viele Menschen hätten das Gefühl, von der europäischen Solidargemeinschaft nicht zu profitieren, sagte der Soziologe Heinz Bude im Dlf - im Gegenteil. Deswegen müsse man Solidarität neu herstellen und mit Inhalt füllen - und herausfinden, was die Länder miteinander teilten.

Heinz Bude im Gespräch Anja Reinhardt |
Flüchtlinge und Griechen bei einer Demonstration in Athen
Gemeinsam auf die Straße: "Der Punkt der Solidarität ist für Europa heute auch der Augenblick der Wahrheit", sagte Soziologe Heinz Bude in Dlf (picture alliance / NurPhoto / Giorgos Georgiou)
Vor 40 Jahren konnten die Bürger zum ersten Mal direkt das Europäische Parlament wählen. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt appellierte an "ein Europa der Solidarität, wo einer dem anderen hilft, ein Land dem anderen hilft". Diesen Begriff der Solidarität greift der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert im Jahr 2019 wieder auf, er will "dem Ideal einer freien, gleichen und solidarischen Gesellschaft wieder ein Stück näher kommen". Der Soziologe Heinz Bude beschäftigt sich in seinem jüngsten Buch mit dem Begriff der Solidarität.
In Österreich war die FPÖ unter Heinz Christian Strache mit ihrem Gedanken der Solidarität von rechts, also einer Solidarität des Nationalismus sehr erfolgreich, diese habe sich nun aber - was die parlamentarische Representation betreffe, entlarvt, sagte Bude im Deutschlandfunk. Dennoch betonte der Soziologe, dass viele Menschen in allen europäischen Gesellschaften das Gefühl hätten, dass sie es in Europa mit einem System des Betrugs und der Lüge zu tun haben.
Stets sei Solidarität aufgerufen, es sei aber nie gesagt worden, was das eigentlich für die Einzelnen bedeute. "Oder, von rechts gesagt: Solidarität bedeutet doch heute in Europa beispielsweise, doch, dass meine persönliche Altersversicherung sehr viel weniger wert ist. Was heißt denn da Solidarität? 'Ich bin nie gefragt worden.' Oder von links: Was heißt denn Solidarität in Bezug auf Griechenland? Man hat denen eine Verarmungspolitik vordiktiert und sagt, das sei Solidarität für Europa. Also die Ärmsten sollten mit den Stärksten, also mit den Deutschen beispielsweise, solidarisch sein," sagte Bude. Von zwei Seiten herrsche also das Gefühl, es werde zu Solidarität aufgerufen, um zu kaschieren, dass einseitig etwas abgezogen wird, über das nie geredet wird.
Was sind die Gemeinsamkeiten der Länder?
Man solle sich in Europa eingestehen, dass man Solidarität neu herstellen und mit Inhalt füllen müsse, forderte Bude. Man müsse sich fragen, was sich einzelne Länder miteinander teilen. "Was ist das, was wir mit den Briten teilen, die beschlossen haben, den Verein zu verlassen? Was teilen wir mit den Italienern, die dabei sind, die Kriterien der Stabilität des Euro zu unterlaufen?"
Man habe sich seit sehr langer Zeit, vielleicht sogar seit Helmut Schmidt, darüber hinweggetäuscht, dass die Länder doch sehr unterschiedlich seien. Es existierten unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Vorstellungen und Wünsche für die Zunkunft der Länder. "Der Punkt der Solidarität ist für Europa heute auch der Augenblick der Wahrheit." Einzig nur Enthusiasmus für Europa zu wecken, führe an den Interessen und den Empfindungen der Menschen vorbei.
Die große Stimmungsfrage im Moment sei die Frage der Zuversicht oder des Pessimismus, vor allem, was die Zukunft Europas angehe - und ob es überhaupt eine Zukunft gebe. Es gebe viele Daten, dass die Mehrheit der Menschen in Europa glaube, dass es eine verbaute Zukunft gebe, sagte Bude. "Das heißt: Was immer wir tun, es wird immer nur schlechter. Es gibt keine Idee mehr, wie es irgendwie besser werden könnte, auch im gemeinsamen Europa." Wie man gemeinsam Zukunft schaffen könne, das sei die zentrale Frage. "In einer geteilten Zukunft Europas steckt die geteilte Zukunft einer gemeinsamen Welt. Und da steckt die geteilte Zukunft einer Erde, die wir so einfach nicht verlassen können."
"Kühnert-Vorstoß ist Nostalgie"
Von dem aktuellen Vorstoß des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert, der unter anderem neue Wohnkonzepte ins Spiel bringt, hält der Soziologe nichts. "Ich halte gar nichts davon, weil er eigentlich einen nostalgischen Solidaritätsbegriff vertritt." Der Solidaritätsbegriff der Sozialdemokratie sei aus der Zeit vor Gerhard Schröder. "Aber für die Sozialdemokratie gibt es keinen Weg zurück. Das ist Nostalgie."
Eine aufgeklärte Linke habe die Möglichkeit, eine Stimmung der Zuversicht in die Gesellschaft zu bringen, aber nicht mit der Rückkehr in die 70er-Jahre. Das sei eine Denkfaulheit, man müsste sich viel mehr mit Kühnert auseinandersetzen und streiten. Die Rückkehr in eine Idee der Gesellschaft, wo es eine eiserne Solidarität gäbe, sei eine Rückkehr in eine biedere Welt, wo keiner der jungen Menschen eigentlich hin wolle.
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