Zu Beginn der Krise habe es eine reflexhafte Abschottung einiger EU-Mitgliedsstaaten gegeben. Das war ihrer Meinung nach nicht angebracht, sagte Terry Reintke. Grenzkontrollen könnten laut europäischem Recht ohnehin nur eine Zeitlang aufrechterhalten werden. Für viele Menschen seien die Grenzkontrollen massive Einschnitte in ihren Alltag.
Zweifel, dass man den Zustand der Vor-Coronazeit in Sachen Reise-Freizügigkeit nicht wieder bekäme, hat die Grünen-Politikerin nicht. "Ich denke, dass es gerade jetzt vielen Menschen klar wird, was es eigentlich bedeutet, wenn Grenzen wieder hochgezogen werden", sagte Reintke.
Zur Kritik an Deutschland in der ersten Phase des Krisenmanagements sagte Reintke, "dass die Eindrücke, die entstanden sind und die zum Teil auch nachvollziehbar waren, dass die sich nicht verfestigen". Man brauche gerade jetzt gemeinsames europäisches Handeln und europäische Solidarität von Seiten der Bundesregierung.
Das transkribierte Interview mit Terry Reintke in voller Länge.
Sandra Schulz: Es ist ein Satz, der in den vergangenen Jahren ja vielfach gesagt worden ist, immer wieder hieß es, Europa sei im Krisenmodus. Finanzkrise, Griechenlandkrise, Flüchtlingsdiskussion, Brexit – und seit diesem Frühjahr hält die Coronakrise die EU fest im Griff. Europäische Grundfreiheiten liegen auf Eis, europäische Errungenschaften wie die Freizügigkeit sind im Moment Theorie. Und was Corona mit der Europäischen Union macht, darüber konnte ich mit der grünen Europaparlamentarierin Terry Reintke sprechen und als erstes habe ich sie gefragt, in welcher Verfassung die EU denn war, als die Coronaepidemie Europa erreicht hat.
Terry Reintke: Also eigentlich waren wir gerade in so einer Stimmung, dass es jetzt richtig losgehen kann. Wir haben ja letztes Jahr ein neues Europaparlament gewählt, hatten dann eine Kommission neu ins Amt gebracht, dann sollte es jetzt losgehen. Es gab Vorschläge, was zum Beispiel den Green Deal angeht, dass die EU für das Erreichen der Pariser Klimaziele kämpft, wir hatten andere legislative Vorschläge. Und dann sind wir als Parlament und als EU so ein bisschen kalt erwischt worden mit dieser Krise, weil jetzt natürlich diese Prozesse, die nach wie vor laufen, es ist nicht so, dass nichts gemacht wird, aber das läuft alles sehr viel schwerfälliger. Und eigentlich haben wir keine Zeit zu verlieren, weil es viele wichtige Dinge zu tun gibt.
Spirit des Parlaments abrupt gestoppt
Schulz: Aber dieses Gefühl, dieser Arbeitsmodus, den Sie beschreiben, dass Sie in so einer Startposition waren, den konnte man ja auch anders wahrnehmen, wenn man geschaut hat auf die Brexitblockade, auf die Blockade in der Flüchtlingsdiskussion, darauf, dass dann doch die Nationalstaaten stärker darauf setzen, ihr eigenes Ding zu machen. Aber Ihr Bild ist da ein anderes?
Reintke: Ich glaube, dass wir im Europäischen Parlament auf jeden Fall bereit waren, diese großen Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Dass Debatten schwer sind, das ist nun mal so in der Politik, so funktioniert auch Demokratie. Gleichzeitig war uns immer klar, dass wir eben, gerade was solche Dinge wie die Klimadiskussion angeht oder auch Fragen wie Migration und die Stärkung der europäischen Demokratie, dass das nicht Dinge sind, die man auf die lange Bank schiebt. Und genau in diesem Spirit war das Parlament, bis es dann vor ungefähr zwei Monaten eben im wahrsten Sinne des Wortes nach Hause geschickt worden ist.
Schulz: Ja. Jetzt sind es ja ganz andere Fragen, die im Moment die allermeisten Europäer wälzen. Wir haben diese nicht für möglich gehaltene Dynamik gesehen mit den Einschnitten in die Bürgerrechte, die eingeführten Grenzkontrollen, die Einschnitte bei der europäischen Freizügigkeit. Ist die Zeit jetzt da, Grenzkontrollen wieder wegzulassen, wie ja verschiedentlich auch gefordert?
Reintke: Es gab in der Tat gerade zu Beginn der Krise erst mal so eine reflexhafte Abschottung einiger Mitgliedsstaaten. Ich bin nicht der Meinung, dass das an allen Stellen angebracht war. Und jetzt ist es in der Tat so, Grenzkontrollen können immer nur zeitlich begrenzt sein unter europäischem Recht, deswegen wird das jetzt nicht langanhaltend eingeführt werden können. Ich glaube, wir müssen sobald es geht die Grenzen wieder aufmachen, weil wir eben diesen gemeinsamen europäischen Binnenmarkt haben, weil es wahnsinnig viele Menschen gibt in Grenzregionen, für die das ein massiver Einschnitt in ihren Alltag ist und weil es eben auch für Europa als Ganzes schlecht ist, dementsprechend müssen wir versuchen, jetzt so schnell wie möglich die Grenzen wieder öffnen zu können.
"Reisefreizügigkeit kommt definitiv wieder"
Schulz: So schnell wie möglich heißt jetzt?
Reintke: So schnell wie möglich heißt wahrscheinlich nicht an jeder Stelle genau das Gleiche. Wie gesagt, es muss immer zeitlich begrenzt sein und es muss immer eine nachvollziehbare Argumentation geben, weswegen Grenzkontrollen eingeführt werden, das geht auch unter dem Recht des Schengenraums. Jetzt müssen wir eben schauen, wie wir möglichst schnell wieder weiterzukommen, dass es eine Freizügigkeit gibt.
Schulz: Da haben wir ja diese Situation, die vielen aufgefallen ist, dass im März, glaube ich, Angela Merkel gefragt wurde, ob die Europäische Freizügigkeit denn in der Form wiederkommen werde, wie wir sie kannten. Da hat Angela Merkel nicht mit einem entschlossenen Ja geantwortet, sondern sie hat gesagt, sie hofft das. Was ist Ihre Sicht?
Reintke: Ich denke, wir werden die Reisefreizügigkeit definitiv wiederbekommen. Ich habe auch den Eindruck, dass gerade vielen Menschen klar wird, was es eigentlich bedeutet, wenn Grenzen wieder hochgezogen werden, wir haben diese kilometerlangen Staus an einigen Grenzen gesehen, Leute, die wirklich festgesteckt haben, aber eben auch Güter, die nicht mehr frei von einem Mitgliedsstaat in den anderen gebracht werden können. Das schränkt nicht nur die Reisefreiheit der Bürgerinnen und Bürger ein, sondern bedroht schlussendlich unseren Binnenmarkt, wenn der so stark fragmentiert. Dementsprechend ist es im Interesse von uns allen, dass die Grenzen so schnell wie möglich wieder aufgemacht werden.
Schulz: Wir wissen aber andererseits auch, dass jede Form von Mobilität dem Virus natürlich hilft, das war ja auch die Begründung für diese harschen Einschnitte in der Mobilität. Sind wir da jetzt wirklich an dem Punkt, an dem man sagen kann, das stört uns jetzt nicht mehr?
Reintke: Also, wo es epidemiologisch gegeben ist, da haben wir immer gesagt, da muss es möglich sein zeitlich begrenzt mit einer Argumentation, wenn zum Beispiel die Infektionszahlen auf beiden Seiten der Grenze sehr unterschiedlich sind, um das einzudämmen. Da wird man schauen müssen, was wir auch in Zukunft eventuell noch brauchen. An einigen Stellen waren aber eben diese Argumentationen gar nicht gegeben, da wurde einfach erst mal die Grenze zugemacht, ohne genau zu schauen, bringt das was in dem Moment. Und da, glaube ich, müssen wir wieder zu einem Prozedere, wo man schaut, wo macht es Sinn, an welchem Punkt macht es Sinn, dann machen wir es – und ansonsten eben nicht.
"Brauchen gerade jetzt gemeinsames europäisches Handeln"
Schulz: Das war ein Punkt, mit dem sich Deutschland nicht unbedingt beliebt gemacht hat. Es gab viel Kritik auch an der ersten Phase des deutschen Krisenmanagements. Da war der Vorwurf, dass in Deutschland Schutzmaterial gehortet worden sei, das zum Beispiel in Italien viel dringlicher gebraucht worden wäre. Geholfen haben dann schlussendlich Russland und China. Wird das nachwirken?
Reintke: Ich glaube, wir müssen jetzt alles tun, um diese Eindrücke, die entstanden sind, die zum Teil auch nachvollziehbar waren, dass die sich nicht verfestigen. Deshalb ist es so wichtig, dass dann zu spät, aber immerhin, italienische und französische Patienten auch von deutschen Krankenhäusern aufgenommen worden sind, dass wir gemeinsam jetzt medizinisches Gerät und medizinische Ausstattung als Europäerinnen bestellen, weil wir einfach gesehen haben, dieser erste Reflex der Abschottung, der bringt uns am Ende auch nichts, deshalb brauchen wir gerade jetzt in dieser Situation gemeinsames europäisches Handeln und da eben auch europäische Solidarität von Seiten der Bundesregierung.
Schulz: Ja, das wäre eben die Frage, Sie schildern das ja auch, in der Tat hat es dann auch Solidarität gegeben, Patienten aus Frankreich, aus Italien, die auch in deutschen Krankenhäusern behandelt wurden. Uns erreichen aber Stimmen aus Rom, Schilderungen, dass hängengeblieben ist durchaus dieser erste Eindruck von dieser Startphase der Epidemie und des Managements, kann es sein, dass Corona da Vorbehalte fördert, die schon da waren?
Reintke: Deutschland hat ja jetzt die Chance, gegen diese Vorbehalte vorzugehen. Wir werden jetzt die große politische Frage zu beantworten haben, wie wir gemeinsam, europäisch den Wiederaufbau organisieren. Und da kann Deutschland definitiv mit Solidarität punkten, indem wir zum Beispiel sagen, diese Kraftanstrengung, die schultern wir gemeinsam, wir machen das jetzt zu einem großen Investitionsprogramm, wie wir genau auf diese Ziele, die wir hatten – Green Deal, eine Transformation der Wirtschaft –, weiter voranbringen können. Ich glaube, Deutschland wird da sehr viele Möglichkeiten haben, den anderen Ländern zu zeigen, dass wir auch 70 Jahre nach der Schumandeklaration überzeugte Europäerinnen sind. Da hoffe ich drauf und da hoffe ich auch gerade in der zweiten Jahreshälfte unter der deutschen Ratspräsidentschaft drauf.
"Versetze mich in die Zeit fünf Jahre nach Kriegsende"
Schulz: Es sollte ja eben heute, an diesem 9. Mai, an diesem Europatag, sollte eine Reformdebatte starten. Sehen Sie das, dass jetzt in dieser aktuellen Lage, in der viele Mitgliedsstaaten, auch viele Bürgerinnen und Bürger einfach in einem Kampf sind, den Kopf über Wasser zu halten, sehen Sie, dass da jetzt die Kraft und der Saft da ist für Reformen?
Reintke: Also, immer wenn ich an solche Punkten stehe, wo man denkt, oh mein Gott, es ist alles so verfahren, dann versetze ich mich in die Situation, in der Robert Schuman und auch andere zu dem Zeitpunkt waren, als diese Erklärung gegeben worden ist, es war fünf Jahre nach Kriegsende, Deutschland und ganz Europa lagen in Ruinen. Wenn man sich überlegt, was für einen Mut, was für eine Vision und was für eine Entschiedenheit die Menschen damals brauchten, um an diese europäische Idee zu glauben, dann bin ich sehr hoffnungsfroh, dass wir das auch heute mobilisieren können, auch wenn es Schwierigkeiten gibt, auch wenn es manchmal Konflikte gibt, die vielleicht auch besser hätten gelöst werden können. Robert Schuman hat in dieser Erklärung gesagt, Europa wird nicht in einem Stück gebaut werden, sondern es wird immer wieder kleinteilige Schritte geben müssen, um Solidarität zu zeigen. Ich hoffe, dass wir davon in den nächsten Monaten sehr viel mehr sehen.
Schulz: Und wer sind da die Köpfe, die diese Impulse geben könnten?
Reintke: Also ich wünsche mir mehr Aktivität von der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die an einigen Stellen eben nicht mit dem Verve in die Debatten gegangen ist, das ich mit gewünscht hätte. Ich wünsche mir das aber genauso gerade auch von der deutschen Bundesregierung. Die französische Regierung hat immer wieder Angebote gemacht, ich hoffe, dass Deutschland da in der zweiten Jahreshälfte unter der Ratspräsidentschaft klare Akzente setzt, natürlich im Wiederaufbau nach der Krise, aber auch zum Beispiel in der Verteidigung der europäischen Demokratie, wir sehen massive Angriffe auf Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit in einigen Mitgliedsstaaten. Ich wünsche mir, dass Deutschland da klar sagt, wir verteidigen Rechtsstaatlichkeit, wir verteidigen Demokratie in Europa.
Schulz: In welchem Zustand wird die EU sein, wenn das Ganze, wenn die Coronakrise vorbei ist, wie lange das auch dauern mag?
Reintke: Ich hoffe, in einem geeinteren Zustand, weil wir durch diese Krise natürlich auch gesehen haben, dass Zusammenarbeit was bringt, dass wir alle am Ende davon profitieren, wenn wir eben zum Beispiel in solchen Krisensituationen uns eng miteinander koordinieren und abstimmen, was die nächsten Schritte sind. Wann diese Krise vorbei sein wird, das mag ich jetzt nicht zu spekulieren, aber ich hoffe, dass wir dieses gemeinsame europäische Projekt noch viele Jahrzehnte miteinander weiterbauen werden und dass auch meine Kinder und Enkelkinder noch in einem geeinten und friedlichen Europa leben dürfen.
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