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Europa und die USA
"Wir können uns nicht länger an der Schulter Amerikas ausruhen"

Der Chef der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, Manfred Weber, spricht sich für konkrete Schritte hin zu einer Europäischen Verteidigungsunion aus. Die EU müsse nach der Wahl von Donald Trump zum neuen US-Präsidenten mehr Selbstverantwortung übernehmen, sagte Weber im Deutschlandfunk. In der Frage der Selbstverteidigung müsse man "erwachsen werden".

Manfred Weber im Gespräch mit Jörg Münchenberg |
    Manfred Weber (CSU), Fraktionsvorsitzender der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europäischen Parlament.
    EVP-Fraktionsvorsitzender Manfred Weber (dpa/ picture alliance / Michael Kappeler)
    Münchenberg: Herr Weber, US Präsident Barack Obama war jetzt noch mal auf seinem letzten Staatsbesuch in Europa. Und man muss ja sagen, eine seiner Hauptbotschaften an die Europäer war – ein bisschen salopp gesagt – "fürchtet euch nicht vor Donald Trump", mit dem ja auch die Europäer doch große Schwierigkeiten haben oder sehr skeptisch sind. Diese – man muss ja fast sagen – fast beschwörenden Worte jetzt von Barack Obama – hat Sie das vielleicht auch ein bisschen beruhigt?
    Weber: Schon, würde ich schon sagen, dass mich das beruhigt. Und ich gehöre auch zu denen, die sagen, mich hat der Wahlkampf verängstigt, weil der amerikanische Wahlkampf war geprägt von Spaltung, ein Stück weit von Hass, von Wut. Es war kein "yes we can", kein Aufbruch da, sondern es war destruktive Stimmung da. Und das macht mir Sorge, wenn ich an Amerika denke. Allerdings war ich auch bei denen dabei, die gesagt haben, wir müssen demokratisches Ergebnis auch respektieren. Da kommt ein neuer Präsident – sicher mit viel Unsicherheit. Wir wissen nicht, was auf uns zukommt. Aber bitte, das Ergebnis gilt es zu respektieren. Das heißt, wir müssen jetzt einem Partner gegenübertreten, dem wir mit offener Hand sozusagen begegnen, die Hand ausstrecken und sagen: Lasst uns die Welt gemeinsam gestalten und Respekt vor dem Ergebnis haben.
    "Wir werden mehr Selbstverantwortung übernehmen müssen"
    Münchenberg: Sie haben trotzdem die Unsicherheit schon angesprochen, die in Europa herrscht, weil man letztlich gar nicht weiß: Wofür steht Donald Trump eigentlich? Und gerade bei den wichtigen Themen für die Europäer weiß man das nicht, zum Beispiel bei dem Verhältnis der USA zur NATO, beim Klimaschutz zum Beispiel, beim Freihandelsabkommen TTIP oder auch beim Verhältnis jetzt zu Russland. Kann man aber trotzdem sagen, dass jetzt schon absehbar ist, dass die Zeiten für die Europäer in jedem Fall – ich würde mal sagen – ungemütlicher werden?
    Weber: Was man sicher sagen kann, ist: Eine Überschrift wird es über Donald Trumps Präsidentschaft geben und die heißt "America first". Das hat er mehrfach zum Ausdruck gebracht und das wird seine Präsidentschaft prägen. Und das heißt für uns, wir können uns als Europäer nicht länger an der Schulter Amerikas ausruhen und anlehnen. Wir werden mehr Selbstverantwortung übernehmen, Selbstgestaltung übernehmen müssen. Und das lässt sich an einem ganz konkreten Punkt festmachen. Die Tausenden und Zehntausenden von Soldaten, die aus den Vereinigten Staaten in Europa stationiert sind, die derzeit beispielsweise auch an der Ostgrenze des NATO-Gebietes die Grenze sichern, da werden Diskussionen aufkommen. Wie stark ist denn eigentlich der Beitrag der Europäer? Und Europa muss auch in dieser Frage der Verteidigungsfähigkeit erwachsen werden. Das bedeutet ganz konkret, wir brauchen Fortschritte bei der Europäischen Verteidigungsunion. Das Geld, das wir heute in Europa für Verteidigung ausgeben, das die 28 Staaten für Verteidigung ausgeben, wäre vielfach besser investiert, wenn wir sie mehr zusammen ausgeben, die Gelder. Und da müssen wir dran arbeiten.
    Münchenberg: Ich würde da gleich noch mal drauf zu sprechen kommen, aber noch mal konkret die Frage - Trump hat ja in seinem Wahlkampf sozusagen eine Art Preisschild auf die Beistandspflicht draufgeklebt und hat gesagt, nur, wenn ein Staat auch seine Verpflichtung erfüllt, wären die Amerikaner bereit, dann auch im Krisenfall zu helfen. Ist das für Sie tatsächlich vorstellbar, dass so was auch in praktische Politik mündet, dass die Amerikaner sich sozusagen von ihrer Beistandspflicht tatsächlich entsagen im Falle der NATO?
    Weber: Verträge gelten. Auch der NATO-Vertrag gilt und deswegen kann ich mir jetzt so den direkten Zusammenhang zwischen Geld und Beistandsgarantie nicht vorstellen. Das werden wir auch nicht dulden. Das werden die anderen Partner auch nicht dulden. Wir werden die Amerikaner auch daran erinnern, dass Verträge gelten, und dass diese Verträge ja in allererster Linie Gedanken der Wertegemeinschaft umfassen. Sowohl die NATO als auch unsere Europäische Union, aber vor allem die NATO ist eine Wertegemeinschaft. Wir haben gemeinsame Ideen, für die wir eintreten und die gilt es zu verteidigen. Egal, ob man fünf Euro auf den Tisch legt oder zehn Euro auf den Tisch legt.
    Mehr gemeinsame Investitionsprogramme
    Münchenberg: Trotzdem, wenn man mal schaut auf diese Verteidigungs- und Sicherheitspolitik – das sagen Sie ja auch und das ist ja auch die allgemeine Erwartung in Europa, in Brüssel, dass die Europäer hier mehr gefordert sein werden. Es geht aber nur in Trippelschritten in diese Richtung. Es war ja mal von einem EU-Hauptquartier zum Beispiel die Rede auf Vorschlag Deutschlands und Frankreichs. Davon ist jetzt im Augenblick auch schon keine Rede mehr. Man redet jetzt nur über Rüstungskooperationen, gemeinsame Forschungsvorhaben. Also das hört sich doch alles nicht so an, als dass die Europäer wirklich bereit sind, substanzielle Fortschritte zu machen.
    Weber: Ich bin ein Fan davon, dann zunächst mal sehr konkret zu werden, also nicht theoretisieren, sondern sehr konkret zu werden. Und wir haben eine Reihe von sehr konkreten Fragen am Tisch. Zum Beispiel wissen wir, dass bei der Verteidigung die Technologie der Drohnen, die Drohnentechnologie Schlüsseltechnologie ist. Wer die beherrscht, wird morgen militärische Konflikte auch bewältigen können. Und da leuchtet, glaube ich, jedem Bürger in Europa ein, dass das die Österreicher, die Belgier und auch wir Deutsche alleine so nicht mehr so leicht stemmen können. Da macht es Sinn, dass wir Europäer – wie früher mal mit Airbus oder mit dem Eurofighter – einfach gemeinsame Investitionsprogramme auflegen und das gemeinsam angehen.
    Oder zweites Beispiel: Die Kriege von morgen – wir hoffen, dass sie nicht kommen, aber wenn wir uns darauf vorbereiten – werden auch im Internet geführt werden. Cyberwars, Kriege im Netz. Da macht es auch Sinn, dass wir über Verteidigungsfähigkeit im Netz im Verbund Europas reden, weil kleine Länder wie Luxemburg, wie Slowenien, Lettland und Litauen nicht in der Lage sein werden, das aufzubauen, die Kapazitäten, das Know-how, das notwendig ist, um sich dort zu verteidigen. Zwei praktische Beispiele, um zu sagen, lasst uns den konkreten, für die Menschen nachvollziehbaren sinnvollen Projekten jetzt arbeiten. Und letzter Gedanke vielleicht dazu. Das pragmatische Vorgehen ist das Eine, aber wenn wir in Europa in der Vergangenheit gesehen haben, dass wir große Schritte gemacht haben, den Euro eingeführt, den Schengenraum etabliert, die Freiheit auf unserem Kontinent umgesetzt, das Prinzip des Binnenmarktes, dass wir keine Zölle mehr haben, uns nicht mehr schützen können vor anderen Produkten oder so, sondern dass wir Handel treiben auf dem Kontinent, diese großen Schritte waren immer auch Schritte, wo Führung gefragt war, wo also große Staatsmänner – Kohl und andere, Mitterrand – einfach voran marschiert sind und große Entscheidungen gefällt haben. Und ich würde schon dafür werben, dass nach den französischen Präsidentschaftswahlen und nach der deutschen Bundestagswahl – also nachdem die zwei größten Länder der EU gewählt haben im Jahr 2017 – wir Grundsatzfragen zu klären haben, wo dann die wiedergewählten oder neugewählten Führungskräfte in Europa Grundsatzentscheidungen fällen müssen.
    Münchenberg: Und genau das ist ja das Problem. Im Augenblick ist ja eher die Devise "small is beautiful". Also die Staats- und Regierungschefs haben gesagt, wir wollen uns auf ein paar Kernprojekte konzentrieren – Migration, Sicherheit, Digitales. Aber man muss trotzdem sagen, vor den neuen – auch gerade außenpolitischen Herausforderungen, die vielleicht gerade mit Trump jetzt an die Europäer herangetragen werden, wird das doch letztlich nicht ausreichen.
    "Wir haben derzeit eine Führungslosigkeit des Kontinents"
    Weber: Ich sage zunächst: Pragmatismus ist richtig. Die Menschen wollen sehen, dass Europa funktioniert, weil sie jetzt seit Monaten vor allem in der Flüchtlingsfrage, aber auch bei der Eurofrage, bei der wirtschaftlichen Erholung des Kontinents, bei der Jugendarbeitslosigkeit im Süden sehen müssen, dass die Europäer leider Gottes sehr zerstritten sind. Übrigens nicht in Brüssel, weil Kommission und Parlament gut zusammenarbeiten, um die Dossiers voranzubringen, um die Antworten auf unsere Zeit heute zu geben. Wir sehen die Zerstrittenheit mehr unter den Mitgliedsstaaten. Das heißt im Rat, dort, wo die Staaten beisammen sitzen. Aber ich bleibe, wie ich das bei der Verteidigung gesagt habe, dabei: Pragmatismus ist das Eine.
    Wir werden aber nur mittelfristig die großen Aufgaben lösen, wenn wir wieder Leadership bekommen, wenn wir Führung bekommen. Und darunter leidet Europa, weil derzeit auf staatlicher Ebene bei den Mitgliedstaaten kaum Führungskräfte wahrnehmbar sind, die wirklich führen. In Frankreich nicht mit Hollande, eben mit Rajoy nicht – Brexit, Großbritannien fällt komplett aus, Polen mit Kaczyński nicht. Wir haben derzeit eine Führungslosigkeit des Kontinents und deswegen brauchen wir wieder nach den wichtigen Wahlen, die jetzt anstehen, einfach den Mut, in die Zukunft zu führen. Und ich gehöre zu denen, die glauben, dass Menschen in Europa bereit sind Führung zu akzeptieren. Wenn man sie erklärt, wenn man ehrlich berichtet über das, was auf der Welt passiert, dann sind Menschen auch zu Veränderung bereit.
    Münchenberg: Um noch mal den Bogen zu Barack Obama zu schlagen, der hat auch die Europäer vor den Populisten gewarnt, die auch in Europa gerade auf dem Vormarsch sind. Der Front National in Frankreich, Geert Wilders in den Niederlanden, die AfD in Deutschland – es gibt es genug Beispiele. Die Frage ist da schon … Sie haben die Wahlen angesprochen. Wir haben jetzt Präsidentschaftswahlen in Österreich. Wir haben in Frankreich Präsidentschaftswahlen, die sehr wichtige im kommenden Frühjahr. In den Niederlanden sind Wahlen, bei uns in Deutschland. Wird das Europa Ende 2017 nicht doch vielleicht ein ganz anderes sein als das heutige Europa?
    Weber: Die nächsten Monate werden historische Monate werden, vielleicht sogar noch wichtiger als die Brexit-Entscheidung sie war. Und ich sage ausdrücklich: Vieles von dem, was wir Deutschen leben, weil es uns wirtschaftlich sehr gut geht, weil wir in politisch stabilen Zeiten leben in unserem eigenen Land; vieles, was wir Deutschen mit Europa verbinden, ist nicht selbstverständlich. Das kann uns in den nächsten Monaten und Jahren wie Sand auf den Fingern wegrutschen. Und deswegen sollte niemand glauben, dass das alles garantiert ist in dem Europa, in dem wir heute leben dürfen. Man muss sich nur mal vorstellen, was heute Le Pen in einem französischen Wahlkampf eben den Leuten erzählt, nämlich zuerst die Botschaft ist: Warum sind wir Franzosen so dumm und kaufen deutsche Produkte? Das heißt, das Erste, was gemacht wird von Populisten ist Protektionismus, beenden des Binnenmarktes, was für uns als Exportweltmeister als deutscher wirtschaftlich schwierig wäre. Oder da wird natürlich das Drohgespenst gegenüber dem Europa aufgebaut, der EU aufgebaut, dem Brüssel aufgebaut im Sinne von: "Lasst uns wieder stolze Franzosen sein und nicht Europäer werden." Das ist ja die Botschaft dahinter. Das macht mir Sorge. Das macht mir teilweise auch Angst, wenn ich das höre. Wenn ich es persönlich schildern darf, kann ich nur sagen, dieses Europa, das wir heute haben, diese Freiheit auf dem Kontinent, das ist nicht perfekt, aber es ist alle Mühe wert, dieses Europa zu verbessern, anstatt es zu zerstören.
    "Politik muss Antworten geben – dafür sind wir gewählt"
    Münchenberg: Aber hat man denn Antworten gefunden auf die Bedenken, die angemeldet werden, die ja oft sehr grundsätzlich sind? Das ist Angst vor der Globalisierung. Es gibt auch viele Verlierer dieser Globalisierung, wie wir jetzt auch eben in Amerika gesehen haben, dass da am Ende etwas ganz anderes rauskam bei den Wahlen, weil viele tatsächlich auch die Sorgen der Bürger unterschätzt haben. Bei uns heißt es immer auch, man muss mehr auf die Bürger zugehen, ihnen mehr zuhören. Aber reicht das denn wirklich aus? Mein Eindruck ist schon, man hat letztlich auch in Europa keine Antworten auf die Populisten gefunden.
    Weber: Die zentrale Frage für mich ist: Politik muss führen – dafür sind wir gewählt. Politik muss Antworten geben – dafür sind wir gewählt. Natürlich zuhören, natürlich reden miteinander, aufnehmen der Stimmungen und auch der Gefühle, der Ängste, der Sorgen, die da sind. Aber man wird mittelfristig nur erfolgreich sein, wenn man führt, wenn man Ideen hat, für die man brennt und für die man steht, wenn man überzeugen will. Wir dürfen nicht zulassen, dass Themen als "politically incorrect" definiert werden. Im Sinne von "da darf man nicht drüber reden, weil das irgendwie nicht in Ordnung ist". Alle Themen, die Menschen bewegen und verängstigen und umtreiben, müssen von der Politik angesprochen werden. Beispielsweise die Frage der Identität auch, der Wurzel unseres Kontinents. Wenn viele Migranten nach Europa kommen, haben manche Menschen Sorgen. Wie wird sich unser Land verändern? Bleibt das, was mir wichtig ist, erhalten? Wie gehen wir damit um? Da kann ich nicht tabuisieren, sondern ich muss die Themen ansprechen. Aber – und das ist Aufgabe einer Partei wie der Europäischen Volkspartei oder in Deutschland der CDU/CSU – wir dürfen nie den Fehler machen, bei dem Ansprechen dieser Sorgen, die da sind, dass wir dann versuchen, Populismus mit mehr Populismus zu bekämpfen. Das ist meine rote Linie auf der anderen Seite.
    "Es ist notwendig, ein Signal zu senden"
    Münchenberg: Im Interview der Woche des Deutschlandfunks heute Manfred Weber, Fraktionschef der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament. Herr Weber, lassen Sie uns doch auf ein anderes zentrales außenpolitisches Thema zu sprechen kommen – das Verhältnis der EU zur Türkei. In der kommenden Woche wird das Europäische Parlament über eine – rechtlich nicht bindende – Resolution abstimmen. Dabei wird es wohl um ein Aussetzen der Beitrittsgespräche gehen als Reaktion auf die innenpolitischen Vorgänge in der Türkei. Zunächst einmal die Frage: Wird Ihre Fraktion dieser Resolution zustimmen?
    Weber: Ja, da muss man abwarten, was in der Resolution am Schluss drinsteht – keine Frage. Aber ich glaube, dass wir Antworten geben müssen. Die Menschen in ganz Europa sehen, dass die Türkei das Rechtsstaatsprinzip stark überdehnt und infrage stellt. Wir erleben in der Türkei mit dem Argument "Antiterrorkampf" und sozusagen "Aufräumen nach dem gescheiterten Militärputsch", erleben die Menschen, wenn sie in den Fernseher schauen, dass dort nun Journalisten festgenommen werden, dass Politiker, Abgeordnete im türkischen Parlament inhaftiert werden. Da hat man vom ersten Eindruck her ein mulmiges Gefühl. In welche Richtung entwickelt sich die Türkei? Und on Top obendrauf kommt dann noch die Diskussion um die Wiedereinführung der Todesstrafe. Das macht viel Sorge. Und deswegen glaube ich, dass es notwendig ist, einfach ein Signal zu senden: Ihr geht in die falsche Richtung, geht nicht weiter so. Und deswegen war der Beschluss der Außenminister Europas von Anfang der Woche, dass sie sagten, die Beitrittsgespräche sollten weitergeführt werden, aus meiner Sicht falsch. Wir müssen das Signal senden: So kann das nicht funktionieren. So kann eine Partnerschaft nicht ausschauen, so, wie ihr euch verhaltet. Und deswegen wird die Forderung, dass wir die Beitrittsgespräche zumindest einfrieren, ein Moratorium aussprechen, das unter bestimmte Bedingungen zu stellen, zurückkommen zum Rechtsstaat beispielsweise, das muss das Minimum sein, was wir auf den Weg bringen.
    "Lasst uns mit der Türkei pragmatisch arbeiten – wie beim Flüchtlingsabkommen"
    Münchenberg: Nun ist die Situation im Augenblick ja extrem aufgeheizt. Hat man auch gesehen, als Außenminister Steinmeier jetzt in Ankara war. Er hat sich da massive Kritik anhören müssen von der türkischen Seite. Ist nicht trotzdem die Gefahr, wenn man jetzt so eine Resolution macht, Kommission theoretisch und die Mitgliedsstaaten folgen würden, dass das Ganze noch mehr eskaliert? Und dass man dann auch den Gesprächsfaden nach Ankara verliert?
    Weber: Ja, da muss man die Frage stellen: Was hat der bisherige Gesprächsfaden gebracht? Da muss man sich mal kritisch die Frage stellen. Weil, wissen Sie, ich bin ja in einer verrückten Situation. Ich bin ja Vertreter der Europäischen Volkspartei, von CDU/CSU. Meine Parteienfamilie war immer gegen die Vollmitgliedschaft. Es waren ja Liberale, es waren ja Sozialdemokraten und Grüne, die immer für die Türkei geworben haben als Vollmitglied der Europäischen Union. Und ich bin jetzt der, der sagt: nur aussetzen der Gespräche. Es gibt ja von der linken Seite viele, die sagen: Abbruch der Gespräche und noch härter zu sein. Also ich bin in der verrückten Situation, dass ich eher die Türkei noch mal in Schutz nehme im Sinne, wie Sie es richtig andeuten, wir müssen uns jetzt klar aber klug verhalten. Und klug heißt, wenn wir Erdoğans Verhalten sehen, dann will er die proeuropäischen Kräfte im eigenen Land in die Defensive bringen. Und deswegen würde ich sagen: keinen Abbruch der Gespräche. Der Gesprächsfaden muss aufrecht erhalten bleiben, aber ein Aussetzen, ein Einfrieren der formalen Beitrittsgespräche, die derzeit laufen. Das heißt, Signal setzen, ohne Schaden zu verursachen.
    Dieser kluge Mittelweg muss uns gelingen. Und ich sage ausdrücklich noch mal dazu, wir hätten schon viel früher sagen müssen: Lasst uns mit der Türkei pragmatisch arbeiten – wie beim Flüchtlingsabkommen. An einen Tisch setzen. Wir haben eine gemeinsame Aufgabe zu klären – die Flüchtlingsfrage. Und da ganz konkrete Antworten geben. Und beim nächsten Mal setzen wir uns an einen Tisch und überlegen, wie man Studentenaustausch verbessert, wie man Kulturzusammenarbeit verbessert. Dieser pragmatische Ansatz wäre viel effizienter als diese Idee der Vollmitgliedschaft.
    "Wir sind bereit, über die Visa-Liberalisierung zu reden"
    Münchenberg: Stichwort Flüchtlingspolitik. Parallel wird ja auch noch über die Visa-Liberalisierung für Türken verhandelt. Schwierige Gespräche auch, es gibt bislang keine Fortschritte. So weit würden Sie aber nicht gehen und sagen, wir sollten auch diese Gespräche aussetzen?
    Weber: Das Angebot der Europäer ist da. Das ist in dem Flüchtlingsabkommen fixiert, dass wir bereit sind, über die Visa-Liberalisierung zu reden. Aber klar ist auch fixiert, dass das an ganz klaren Kriterien festgemacht wird – an 72 insgesamt. Und eines dieser Kriterien ist eben die Änderung des Terrorparagraphen. Das heißt: Wer ist Terrorist? Wer kann verfolgt werden aufgrund von Terror? Und das ist ja der Paragraph, den Erdoğan jetzt nutzt, um die Zivilgesellschaft, um die Journalisten ins Gefängnis zu bringen. Und genau deswegen fordern wir da eine Änderung dieser Gesetzgebung in der Türkei. Andernfalls wird es über die Visa keine Diskussion geben.
    Münchenberg: Aber müsste man nicht auch einfach realistisch genug sein und sagen, die Türkei wird sich an der Stelle nicht bewegen, also müssten wir eigentlich auch diese Gespräche einstellen?
    Weber: Die Türkei muss zunächst mal in allererster Linie einen internen Prozess durchlaufen. Wir Europäer können helfen. Wir können auch noch mal ein bisschen hilfreich sein im Sinne von Druck aufbauen und unterstützen dann auch manche Teile der Gesellschaft. Aber wir werden der Türkei das innere Ringen um den Weg, den sie jetzt gehen will, nicht abnehmen können. Ich glaube persönlich, dass es sich Erdoğan nicht leisten kann, einen Weg gegen Europa zu gehen, weil er es sich auch wirtschaftlich nicht leisten kann. Die Türkei ist wirtschaftlich schon jetzt unter Druck. Der Tourismus war eine Katastrophe in diesem Jahr, der Tourismus-Sommer für die Türkei. Die Devisen bleiben aus. Und auch wirtschaftlich nimmt das Land mittlerweile Schaden. Er wird sehen, dass er seiner Jugend in der Türkei nur eine gute ökonomische Zukunft geben kann, das Land nur stabil halten kann, wenn er mit uns Europäern kooperiert. Ich hoffe, das erkennt er. Und deswegen – ausgetreckte Hand ja, aber jetzt in der aufgeheizten Situation Türkei auch klares Signal, dass wir das nicht dulden. Ich bleibe dabei, das Minimum ist das Einfrieren der Gespräche des Memorandum.
    Münchenberg: Nun steckt die EU trotzdem in einem Dilemma, weil sie bei der Bewältigung der Migrationskrise auf die Unterstützung der Türkei angewiesen ist. Es gibt diesen EU-Türkei-Pakt. Noch hält er, muss man sagen. Die Frage ist wie lange. Das weiß man nicht. Hat sich Europa aber nicht auch durch diesen Schritt, durch diese Politik einfach sehr erpressbar gemacht?
    Weber: Nein, weil Europa mit der Türkei das Problem gemeinsam lösen muss. Also, wenn man sich mal die Zahlen anschaut, dann ist ja derzeit der haupt-betroffene Partner mit Flüchtlingen nicht Europa, sondern die Türkei. Sie hat mehr Flüchtlinge im Land wie wir Europäer aufgenommen haben. Deswegen sind ja nicht wir erpressbar, sondern wir versuchen einfach, eine ordentliche Lastenverteilung zu machen und das Management gemeinsam zu organisieren.
    "Die Türkei hat mittlerweile viel Geld bekommen von der EU"
    Münchenberg: Was bislang noch nicht funktioniert.
    Weber: Exakt. Wo wir jetzt Schritte für Schritte vorankommen. Und was ein wichtiger Punkt ist: Die Türkei hat jetzt mittlerweile viel Geld bekommen von der Europäischen Union. Das heißt das, was wir als Europäer schon vor Jahren hätten machen sollen ehrlich gesagt, nämlich in den Camps vor Ort Perspektive schaffen –beispielsweise den Kindern, die in den türkischen Camps untergebracht sind, Schulausbildung zu garantieren, um das ganz konkret zu machen – das finanzieren wir jetzt. Und das macht Europa und da können wir stolz drauf sein. Und das sind auch gute Investments. Das heißt Lastenteilung, die wir praktizieren. Es ist in beiderseitigem Interesse, das vernünftig zu machen. Und in beiderseitigem Interesse ist es, dass wir nicht die Schlepperbanden finanzieren, die Mafia finanzieren, was in den letzten Jahren der Fall war. Das ist unterbunden.
    Münchenberg: Trotzdem sitzt doch unter dem Strich Erdoğan am längeren Hebel. Wenn er die Flüchtlinge wieder ziehen lässt, dann hat erst mal Europa ein akutes Problem. Und insofern ist Europa auch erpressbar.
    Weber: Deswegen muss Europa auch in der Lage sein, die Grenzen eigenständig zu sichern. Wir sichern unsere Außengrenze heute deutlich besser, auch im Mittelmeer mit gemeinsamem Engagement, als wir das noch vor einem Jahr gemacht haben. Da ist Europa erwachsen, erwachsener geworden, würde ich formulieren. Das heißt, wir dürfen uns nicht in Abhängigkeiten begeben. Aber klar ist immer, man wird eine Grenze dann nur sinnvoll sichern können, wenn man auf beiden Seiten vernünftige Partnerschaft praktiziert. Das heißt, es ist nicht Abhängigkeit, sondern es ist einfach Vernunft, dass wir miteinander reden.
    "Wir haben weniger Tote in der Ägäis"
    Münchenberg: Gestatten Sie mir den Einwand – Vernunft und Erdoğan sind vielleicht nicht gerade Begriffe, die im Augenblick zusammenpassen.
    Weber: Das ist ein guter Einwand, ja. Aber das Abkommen bis dato funktioniert. Wir haben weniger Tote in der Ägäis. Das sind alles Fakten, die man schon sehen muss, die auch positiv sind. Es sterben keine Menschen mehr in der Ägäis. Und deswegen, bisher funktioniert das Abkommen und bisher gibt es auch keinen Zweifel daran, dass es in beiderseitigem Interesse ist, dass es weiterläuft.
    Münchenberg: Im Interview der Woche des Deutschlandfunks Manfred Weber, Fraktionschef der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament. Herr Weber, es gibt jetzt seit Monaten Spekulationen über den künftigen Parlamentspräsidenten. Die Gemengelage ist etwas kompliziert, weil der jetzige Amtsinhaber Martin Schulz von der SPD vielleicht noch mal antreten wird – entgegen aller Absprachen, muss man sagen. Gehen Sie trotzdem fest davon aus, dass der nächste Präsident des Europäischen Parlaments aus der EVP-Fraktion kommen wird?
    Weber: Ja.
    Münchenberg: Und, wenn Schulz es auf eine Kampfkandidatur ankommen lassen sollte?
    Weber: Ja, also war eine sehr kurze Antwort mit diesem Ja.
    "Wir wollen, dass das Europäische Parlament funktioniert"
    Münchenberg: In der Tat.
    Weber: Ich erläutere das gerne. Man muss sehen, wir sind als Europäische Volkspartei im Europäischen Parlament die mit Abstand größte Fraktion. Das heißt, wir wollen einen Kandidaten präsentieren, weil wir einen Wählerauftrag haben, weil wir von Menschen Vertrauen bekommen haben bei der letzten Europawahl. Die haben uns gewählt. Aus dieser Grundüberlegung heraus entsteht Führungsanspruch. Den haben wir bei der Konstituierung des Parlaments an die Sozialdemokraten abgegeben, weil wir nicht allein sind, weil wir Partner brauchen und auch wollen. Wir wollen, dass das Europäische Parlament funktioniert.
    Wir wollen liefern. Wir sind nicht wegen uns da als Politiker, sondern wir sind da, weil die Menschen Erwartungen haben, weil wir Regelungen finden müssen, Geld ausgeben müssen, Gesetze machen müssen, dass Europa funktioniert. Deswegen, der erste Punkt ist Führungsanspruch und der zweite Punkt ist verantwortliches Handeln mit anderen Partnern gemeinsam. Und das haben wir am Anfang geschafft, eben durch Unterstützung von Martin Schulz für eine zweite Amtsperiode. Das war außergewöhnlich, dass jemand eine zweite Amtsperiode bekommt. Und Martin Schulz hatte unsere Unterstützung dabei. Und jetzt bitten wir einfach nur, dass das, was wir abgestimmt haben, dass wir eben gemeinsam Verantwortung tragen, dass das jetzt auch eingehalten wird.
    Diese Woche hat sich die EVP-Fraktion wieder konstituiert. Das heißt, in der Hälfte der Legislaturperiode wurden Neuwahlen durchgeführt. Und nach dieser Konstituierung hat die neue Führung jetzt ein Mandat, die Gespräche zu führen. Und genau das wird jetzt bis Mitte Dezember passieren. Wir werden mit Sozialdemokraten reden. Ich werde auch mit Martin Schulz drüber reden. Und ich hoffe, dass es uns gelingt, dass wir eine Lösung finden, die dazu führt, dass die Institution Europäisches Parlament die nächsten zweieinhalb Jahre bis zur nächsten Europawahl funktioniert.
    Münchenberg: Nun sind Sie ja in der zurückliegenden Woche mit großer Mehrheit, fast kommunistischen Verhältnissen als Fraktionschef …
    Weber: Weise ich zurück, aber …
    Münchenberg: … bestätigt worden.
    Weber: Erfreuliches Ergebnis, ja.
    Berücksichtigung einer Frau wird "eine große Rolle spielen"
    Münchenberg: Nun gibt es ja auch innerhalb der eigenen Fraktion auch sehr starke Stimmen, die gerne wollen, dass der nächste Parlamentspräsident Manfred Weber heißt. Warum wollen Sie nicht selber antreten?
    Weber: Ich habe jetzt wirklich ein fantastisches Ergebnis bekommen bei meiner Wiederwahl – was mich freut. Man kann als Politiker nur arbeiten, auch führen, wenn man Unterstützung durch die eigene Mannschaft hat, wenn man weiß, dass die 200, knapp 220 Kollegen hinter einem stehen. Und deswegen freue ich mich. Dieses Ergebnis gibt mir Kraft und auch Gestaltungsmöglichkeiten. Und jetzt werden Gespräche geführt. Wir haben in der EVP-Fraktion eine Reihe von profilierten, guten Kandidaten, die das Amt können. Und mit all denen werden wir reden. Und dann wird die EVP mitte Dezember auch einen überzeugenden Kandidaten vorstellen.
    Münchenberg: Das heißt aber, Sie schließen eine eigene Kandidatur definitiv aus?
    Weber: Wir werden viele Gespräche führen. Wir werden Lösungen finden als EVP-Fraktion. Das Wichtigste ist, dass die Fraktion als solches geschlossen bleibt. Ich möchte einfach um Verständnis dafür werben, dass das in so einer Fraktion mit 27 Ländern nicht ganz banal ist, sondern da muss man alle einladen. Das sind alles selbstbewusste Kollegen – Gott sei Dank selbstbewusste Kollegen, die ihre Länder vertreten, ihre Regionen, ihre Bürger vertreten. Und wir wollen jetzt reden miteinander. Wie machen wir das richtig? Wie übernehmen wir Verantwortung? Worauf man sich verlassen kann ist, dass es nicht um Egoismen geht, nicht um Karrieren geht, sondern dass es für uns um die Frage geht, wie wir stabil sind. Ich möchte nicht, dass im Januar, wenn der Wahlgang ansteht, Marine le Pen und andere Populisten in diesem Haus sich freuen darüber, dass die Verantwortungsträger streiten. Das ist der erste Punkt. Und ich möchte nicht, dass diese Radikalen in irgendeiner Form Einfluss auf Personalentscheidungen und auf Sachentscheidungen im Europäischen Parlament haben. Das ist das, was mich trägt seit zweieinhalb Jahren. Die Extremisten dürfen keine Macht bekommen.
    Münchenberg: Sie schließen also die eigene Kandidatur nicht aus – so würde ich das jetzt mal interpretieren. Letzte Frage: Wäre es nicht trotzdem an der Zeit, dass wieder eine Frau an der Spitze des Europäischen Parlamentes steht? Auch mit der Irin McGuinness haben Sie eine eigene Interessentin aus der EVP. Also wäre es nicht an der Zeit, hier ein Signal zu setzen?
    Weber: Die EVP ist als Fraktion bei der Frage, dass wir Frauen einbinden müssen, dass wir geschlechter-gerecht arbeiten müssen, an vorderster Front dabei. Und wir gehen insofern als Vorbild raus, weil wir in der Fraktion eine Quote haben. Das heißt, 50 Prozent unserer Führung sind Frauen in der Fraktion. Das prägt uns sehr stark. Und deswegen wird auch diese Frage eine große Rolle spielen.
    Münchenberg: Herr Weber, vielen Dank für das Gespräch.
    Weber: Ich bedanke mich.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.