
Nachdem sich Donald Trump und sein Vize J.D. Vance Ende Februar mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus verworfen haben, scheint auch die Partnerschaft zwischen den USA und der Europäischen Union brüchiger geworden zu sein. Infrage steht der Sicherheitsgarant USA. Die Ukraine und EU müssen sich selbst verteidigen können.
Signale aus Washington an die EU
„Sie spielen mit dem Dritten Weltkrieg“, hat US-Präsident Donald Trump zu seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj gesagt. Kurz danach wurde das Gespräch abgebrochen. Selenskyj ging mit leeren Händen - ohne Sicherheitsgarantie und ohne Rohstoffabkommen.
Nur Tage nach diesem Eklat im Weißen Haus hat Trump die Militärhilfe für die Ukraine ausgesetzt – darunter Waffenlieferungen im Wert von mehr als einer Milliarde US-Dollar und Hunderte Millionen US-Dollar Hilfsgelder. Aber auch die militärische Rückendeckung für die europäischen NATO-Staaten durch die US-Amerikaner könnte bald Geschichte sein, inklusive des nuklearen Abwehrschirms.
„Europa ist jetzt ganz auf sich gestellt“, sagt Norbert Frei. Der Historiker spricht von einer historischen Zäsur, die der von 1989 bis 1991 in ihrer Tiefe und Bedeutung nicht nachstehe: „Das ist eine neue Weltordnung, die sich gerade aufbaut.“
Nach Ansicht des Militärexperten und Politikwissenschaftlers Gustav Gressel macht Trump einen größeren Krieg wahrscheinlicher, der über die Ukraine hinausgeht: „Die Chancen, dass es einen europaweiten Krieg gibt, sind derzeit höher, als dass es diesen Krieg nicht gibt.“
In einem solchen Fall könne man nicht erwarten, dass Trump zu Artikel 5 des Nordatlantikvertrags stehen werde, so Gressel. Dieser Artikel beschreibt den sogenannten Bündnisfall. Die NATO-Mitgliedsstaaten vereinbaren darin, dass ein bewaffneter Angriff gegen ein Mitglied als ein Angriff gegen alle angesehen wird. Auch die nicht angegriffenen Staaten sollen in diesem Fall das angegriffene Partnerland unterstützen, wenn nötig mit Waffengewalt.
Gressel schätzt die Kriegsgefahr in Europa als „erschreckend hoch“ ein: „Weil ein siegreiches Russland nicht in der Ukraine bleibt.“
Könnte Europa sich ohne die USA verteidigen?
Diese Frage ist komplex und nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten. Spätestens seit dem Eklat im Weißen Haus dürfte es in der Europäischen Union Konsens sein, dass die Staatengemeinschaft mehr tun muss, um sich auch ohne die Hilfe der USA verteidigen zu können.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat Anfang März einen Plan zur Stärkung der EU-Verteidigungsausgaben vorgeschlagen. So sollen bis zu 800 Milliarden Euro für die Sicherheit mobilisiert werden. Aber auch bei EU-Einzelstaaten ist der Trend zur Aufrüstung unübersehbar.
In Deutschland planen Union und SPD die seit 2011 im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse so anpassen, dass Verteidigungsausgaben ausgenommen sind, die über einem Prozent des Bruttoinlandprodukts liegen. Nach oben sollen die Ausgaben nicht gedeckelt werden. Somit wären theoretisch unbegrenzte Kredite möglich.
Litauen, das als baltischer Staat als besonders bedroht gilt, hat angekündigt, als erstes NATO-Mitglied die Militärausgaben auf mindestens fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Auch Großbritannien erhöht seinen Verteidigungsetat, im französischen Parlament wurde bereits 2023 eine Aufstockung um 40 Prozent beschlossen.
Laut dem „International Institute for Strategic Studies“ (IISS) sind die europäischen Verteidigungsausgaben im Jahr 2024 um 11,7 Prozent gestiegen - auf etwa 457 Milliarden US-Dollar. Damit erreichen sie immerhin fast die Hälfte dessen, was die USA laut dem britischen Thinktank für die Verteidigung ausgegeben haben - 968 Milliarden US-Dollar.

Allerdings: Die finanzielle Basis für eine gut funktionierende Verteidigung ist nur die eine Seite. Die andere sind fehlende militärische Fähigkeiten, auf die Europa so schnell nicht zurückgreifen könnte, wenn plötzlich US-Unterstützung wegbricht.
„Den Europäern fehlen strategische Kernfähigkeiten – etwa beim Lufttransport, der Luftbetankung, der Aufklärungs- und Geheimdienstarbeit “, sagt Ronja Kempin. Sie ist Sicherheitsexpertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Ein weiteres Problem sieht die Forscherin in teilweise veraltetem militärischem Gerät und nicht zuletzt darin, dass europäische Munitionslager nur spärlich gefüllt sind. Die europäischen Staaten habe Probleme, manche Munitionsklassen zu beschaffen, „die man sonst nur oder nur in der Quantität in den USA kriegt“, sagt Militärexperte Gustav Gressel.
Welche Veränderungen fordern Fachleute?
Gemeinsame europäische Verteidigung
Fachleute kritisieren es als Verschwendung von Kapazitäten, wenn viele europäische Länder eigene Wege bei der Verteidigung gehen. Historiker Norbert Frei rät zu einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Indes war ein solches Vorhaben „1954 zum ersten Mal gescheitert“.
Der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter spricht sich ebenfalls dafür aus. Er betont, dass eine solche EU-Verteidigungsinitiative nicht parallel zur NATO organisiert sein dürfe, sondern die europäischen NATO-Fähigkeiten einbinden. Eine Möglichkeit dazu sei das gelähmte Berlin-Plus-Abkommen.
Carlo Masala hält es für einen Fehler, nun konkret über mögliche Institutionen und Strukturen zu sprechen. „Was wir jetzt brauchen, sind Fähigkeiten und die Fähigkeit der europäischen Streitkräfte, besser zusammenarbeiten zu können“, sagt der Militärexperte.
Anfang März hatte sich auch der britische Premierminister Keir Starmer für ein Militärbündnis ausgesprochen. Mit Blick auf eine Waffenruhe in der Ukraine solle schnell und unbürokratisch eine „Koalition der Willigen“ auf die Beine gestellt werden.
Eigene nukleare Abschreckung
„Die EU wird keine Atommacht werden“, sagt Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Es bestehe aber die Perspektive, dass Frankreich und Großbritannien ihre nukleare Abschreckung auch Europa anbieten könnten. Der Fokus liege hier auf Frankreichs Atomwaffen, so die Politikwissenschaftlerin, „weil Großbritannien von den USA technisch abhängig ist.“
Auch der französische Präsident Emmanuel Macron signalisiert Bereitschaft, bei der atomaren Abwehr zu teilen: "Wir brauchen einen strategischen Dialog mit denen", die keine Atomwaffen haben, so Macron. Der Militärhistoriker Sönke Neitzel ist hingegen anderer Meinung. Die nukleare Abschreckung der USA sei durch die Europäer nicht ersetzbar.
Bei allen verschiedenen Möglichkeiten betont Militärfachmann Masala: „Die USA werden auf absehbare Zeit kein verlässlicher Werte- und Interessenspartner sein." Man werde aber auch in manchen Fällen gleich Interessen haben. "Ein unabhängig souveränes Europa macht sich dann als Partner in solchen Fällen für die USA attraktiver.“
jma