Jasper Barenberg: Herr Kaim, Emmanuel Macron wird heute seinen ersten Auftritt auf der Münchener Konferenz haben. Der französische Präsident drängt ja schon lange auf mehr europäische Eigenständigkeit in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wie dringend ist diese Debatte darüber?
Markus Kaim: Die Debatte ist ganz dringend, und sie wird ja auch bereits geführt. Sie wird auch in Deutschland geführt, nicht nur in Frankreich. Der gemeinsame Auslöser ist eine veränderte geopolitische Wetterlage, nämlich der erkennbare, vielleicht nicht Rückzug der USA aus der Weltpolitik, aber doch eine geringere Bereitschaft, sich in der internationalen Politik zu engagieren. Das hat fundamentale Konsequenzen für europäische Sicherheit im doppelten Sinne. Zum einen, wenn es um die Verteidigung, um die Landes- und Bündnisverteidigung des europäischen Kontinents geht, und zum zweiten, wenn es um die Stabilisierung, um die Befriedung der europäischen Nachbarschaft geht, da wird Europa, so die Annahme des französischen Präsidenten, eine größere Verantwortung in der Zukunft tragen müssen. In diesem Sinne sind die Vorschläge, seine Vorschläge der letzten Monate zu lesen.
Brexit hat die "Frage der europäischen Unsicherheit noch einmal verstärkt"
Barenberg: Das wird ja auch, im Prinzip jedenfalls, von vielen geteilt, auch von der Bundesregierung. Es kommt dann immer auf die Detail an. Gehört denn in diesen Zusammenhang auch die Debatte, die es ja auch gibt, über nukleare Abschreckung in Europa, jetzt wo mit dem Brexit und seit dem Brexit Frankreich die einzige Nuklearmacht unter den EU-Partnern ist?
Kaim: In der Tat, Sie haben es gerade angesprochen, der Brexit kommt als zweite Variante oder zweite Variable hinzu, die diese Frage der europäischen Unsicherheit noch einmal verstärkt hat. Die Frage wird jetzt sein, ob es Europa gelingt, stärker eigene Verantwortung zu tragen, und eine Dimension ist auch die europäische Nukleardebatte. Er hat einige Vorschläge unterbreitet, einen strategischen Dialog mit Deutschland und den europäischen Partnern zu beginnen über Nuklearfragen, ist in vielen Details noch unklar geblieben, hat aber auch traditionell eine französische Position noch einmal wiederholt, indem er seine eigene Verfügungsgewalt über französische Nuklearwaffen nicht zur Disposition gestellt hat. Vor allen Dingen das größte Problem bleibt unberührt, wir reden hier über eine militärische Fähigkeit, aber die politischen Ordnungsvorstellungen, die diesen Einsatz einer Nuklearwaffe überwölben würden, eine europäische Nukleardoktrin sozusagen, die gibt es ja gar nicht.
"Macron wird Europa eine neue Offerte machen"
Barenberg: Und die müsste es sozusagen dringend geben. Ist das etwas, wo man gespannt sein darf, ob Emmanuel Macron heute darüber sprechen wird in München?
Kaim: Ich gehe schwer davon aus, dass er darüber sprechen wird. Vielleicht nicht im Detail, das wäre vielleicht der falsche Ort, um solche Fragen im Detail zu diskutieren, aber er wird Europa eine neue Offerte machen oder die bestehende Offerte vielleicht noch einmal bekräftigen. Oder ich glaube, er richtet sich gerade an ein deutsches Publikum und an die deutsche Bundesregierung, wo ja in den letzten Monaten immer wieder erkennbar gewesen ist, dass der französische Appell einer Verstärkung des europäischen Engagements im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, an eine europäische Verstärkung im Bereich der eigenen militärischen Fähigkeiten, nicht ganz auf den Resonanzboden gefallen ist, den der französische Präsident sich vorgestellt hatte. Der Grund dafür ist, dass die Einschätzung, die Frankreich umtreibt, dass Europa auf absehbare Zeit stärker Verantwortung für sich alleine tragen muss, von einigen in Berlin doch nicht in der Stärke geteilt wird, wie das in Paris getan wird.
Barenberg: Um noch mal einen Augenblick beim Atomwaffenarsenal zu bleiben, Sie haben es angedeutet: Frankreich hat klargemacht, der Präsident hat klargemacht, das Land will künftig sein Atomwaffenarsenal nicht mit anderen teilen. Hat sich damit jede Debatte über auch deutsch-französische Atombomben, die es ja unter anderem auch in Einzelfällen, sagen wir in Berlin, gibt, hat sich das jetzt für den schon erledigt?
Kaim: Also es gibt zumindest wenig Anknüpfungspunkte, und ich würde soweit gehen, dass einige in Berlin, glaube ich, ganz erleichtert sind, weil eine größere Rolle von Nuklearwaffen in der deutschen Debatte zu thematisieren, würde bedeuten, eine Art Spaltpilz in die ohnehin fragile Koalition zu treiben, weil das ist nicht nur die SPD, die sich mit diesen Fragen schwertut, sondern auch Teile der CDU haben sich eigentlich mit dem Status quo der sogenannten nuklearen Teilhabe gut arrangiert. Deutschland verfügt über keine eigenen Nuklearwaffen, es gibt nur Nuklearwaffen amerikanischer Provenienz auf deutschem Boden, die gegebenenfalls von deutschen Tornados ins Ziel getragen würden. Dadurch sichert sich Deutschland eine gewisse Mitsprache. Dieses System wird nicht offen thematisiert, es wird nicht groß infrage gestellt, aber jetzt eine große europäische Nukleardebatte anzufachen, würde, glaube ich, auch mit dem bevorstehenden Bundestagswahlkampf 2021 allein aus innenpolitischen Gründen, glaube ich, nicht viel Wiederhall finden.
"Strategischer Dialog ist ein guter Vorschlag"
Barenberg: Was könnte denn trotzdem der angebotene strategische Dialog sein, den Frankreichs Präsident da vorschlägt?
Kaim: Also ich glaube, er hatte schon Initiative unternommen mit seiner europäischen Interventionsinitiative, wo er seiner Ungeduld Ausdruck verliehen hat, mit dem Prozedere innerhalb der europäischen Strukturen, wenn es um Militärintervention in der europäischen Nachbarschaft geht, da hat er eine Gruppe von elf Staaten, die politisch und militärisch handlungsfähig sind, zusammengebracht. Ähnliche Koalitionen der Willigen könnte man sich auch für andere Politikfelder vorstellen, also Terrorismusbekämpfung in Afrika oder andere Dinge mehr, aber noch einmal: Dafür braucht es einen politischen Überbau. Wir haben so eine Tendenz, immer auf die militärischen Fähigkeiten abzuheben, aber es braucht einen politischen Überbau. Man muss sich darüber verständigen, was man denn überhaupt erreichen möchte, mit welchen Partnern, mit welchen Zielen und vieles andere mehr. In diesem Sinne ist ein strategischer Dialog, glaube ich, ein guter Vorschlag, weil er fügt sich insofern ja auch ganz gut ein, weil im zweiten Halbjahr die deutsche Bundesregierung den Vorsitz und die Präsidentschaft in der Europäischen Union innehat und die ja auch bereits angedeutet hat, sie wolle eine größere Initiative zur europäischen Außensicherheitspolitik unternehmen. Von daher sollte sie gut beraten sein, diesen Ball aufzunehmen.
Barenberg: Wird das aber trotzdem ein Spagat werden, wenn es auf der einen Seite heißt, es gibt derzeit keine Alternative zum transatlantischen Bündnis, auch zur engen Anbindung an die USA und ihrem atomaren Schutzschirm auf der einen Seite, und auf der anderen Seite gesagt wird, die EU muss natürlich mehr eigene Fähigkeiten und eigene strategische Ziele entwickeln?
Kaim: Also ich glaube, da wird ein kleines Datum der 3. November sein, der hat gar nichts mit Europa zu tun, sondern das sind die amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Dann wird die Frage entschieden werden, ob Donald Trump eine Episode gewesen ist der amerikanischen Außenpolitik oder nicht. Ich glaube, dann, wenn er es nicht bliebe und für weitere vier Jahre gewählt würde, wird die französische Position in der europäischen Debatte deutlicheren Aufwind bekommen, weil es gibt nach wie vor – ich habe das eben versucht anzudeuten – in Berlin und in anderen Hauptstädten eine Haltung, die da lautet: Donald Trump ist vielleicht ein unangenehmer Partner, aber lasst uns den Kopf in den Sand stecken, und er wird schon vorübergehen, und dann wird deutlich werden, dass das nicht vorübergeht. Dann wird, glaube ich, die Dringlichkeit von Macrons Initiative auch noch dem Letzten klarwerden.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Disku