Grundsätzlich seien die Grünen bereit, Jean-Claude Juncker zum Kommissionspräsidenten zu wählen, sagte Giegold - wenn vier Forderungen erfüllt seien: eine echte europäische Energie- und Klimapolitik, keine neue Genmais-Pflanzen in Europa, eine Entschärfung des Freihandelsabkommen mit den USA sowie ein neuer Aufbruch in der europäischen Demokratie. Die EU brauche mehr Bürgerbeteiligung und eine Begrenzung des überbordenden Lobbyismus. Das sei auch ein Mittel gegen das verbreitete Unwohlsein darüber, dass immer mehr Entscheidungen auf europäischer Ebene gefällt würden.
Forderungen aus Frankreich und Italien, die Kriterien des europäischen Wachstumspaktes zu lockern, erteilte der Grünen-Politiker eine Absage: "Es wäre naiv und falsch", sagte er. Stattdessen brauche man einen "echten europäischen Kampf gegen Steuerflucht und Steuerhinterziehung", damit die EU-Länder ohne zu großen Spardruck ihre Haushalte sanieren könnten.
Giegold forderte Projekte, mit denen sich die europäische Identität stärken lasse: etwa eine europäische Universität oder die Aufstockung der Erasmus-Mittel und einen Ausbau der europäischen Eisenbahnverbindungen. Auch die Energieunabhängigkeit Europas müsse gestärkt werden - etwa über ein europäisches Energienetz und eine höhere Förderung der erneuerbaren Energien.
Das Gespräch in voller Länge:
Jürgen Zurheide: Die Stimmung in der europäischen Hauptstadt, in Brüssel, ist in diesen Tagen alles andere als gut. Da ist natürlich der Erfolg der eurokritischen Parteien, vor allen Dingen auch der rechten, da ist die Eurokrise, die nicht wirklich vorbei ist, und da gibt es immer wieder Meldungen aus den Krisenländern, die nur begrenzt Hoffnung machen; dann natürlich auch die öffentliche Debatte um den Kommissionspräsidenten, über die wir hier in dieser Sendung auch schon gesprochen haben - das alles zusammen: Na ja, besonders anheiternd ist das nicht. Wir wollen mit einem reden, der schon längere Zeit im Europäischen Parlament sitzt und auch weiter dort sitzen wird, Sven Giegold von den Grünen. Erst einmal: Guten Morgen, Herr Giegold!
Sven Giegold: Ja, guten Morgen, Herr Zurheide!
Zurheide: Zunächst einmal persönlich: Wie haben Sie diese Woche in Brüssel erlebt, wie war die Stimmung?
Giegold: Wir hatten eine erste Fraktionssitzung als Grüne, andere Fraktionen waren noch nicht in voller Klassenzahl anwesend, aber bei uns in der Sitzung war schon eine gemischte Stimmung, das muss man sagen. In vielen Ländern haben wir Grünen zugelegt, aber gerade die Franzosen waren, sage ich mal, in ziemlich desolater Verfassung. Und sehr beeindruckt hat mich ein Satz einer Kollegin, die sagte: Entweder nimmt Europa jetzt eine sozialere Richtung, oder wir haben in fünf Jahren kein Europa mehr.
Zurheide: Gehen wir mal die Optionen durch, die Europa da hat, auf der einen Seite die eine Option Schuldenpolitik - gerade die Franzosen sagen, wir brauchen mehr Schulden, wir alle wissen, das wird schwierig –, die anderen sagen, die Reformen, die bisher oft zulasten der Schwächsten gegangen sind - wir haben gerade heute Morgen oder gestern wieder eine Entscheidung auch aus Portugal, dass bestimmte Dinge so nicht gehen. Beide Wege scheinen doch bisher nicht zum Erfolg geführt zu haben, richtig?
Giegold: Ja. Ich denke vor allem eins: Die Forderungen aus Frankreich sind ja bisher sehr unkonkret. Also das bedeutet: Einerseits ist klar, es gibt das Signal aus Italien wie aus Frankreich, man möchte nicht so stark sparen, und gleichzeitig gibt es offensichtlich das Problem, die Reformen gerade in Frankreich wirklich auf den Weg zu bringen, die dem Land wieder Selbstbewusstsein geben würden und bei den sozialen Problemen etwas lösen könnten. Aus meiner Sicht wäre es naiv und falsch, jetzt einfach die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu lockern, denn es gibt eindeutig bessere Alternativen, und zwar ein echter europäischer Kampf gegen Steuerflucht und Steuerhinterziehung. Damit könnten alle Länder ihre Haushalte sanieren, ohne so stark unter Spardruck zu kommen. Und die andere Seite ist aber trotzdem: Was macht man jetzt mit dieser Forderung nach einem anderen Europa? Und darauf sollten gerade wir Deutschen mit Frankreich zusammen eine Antwort geben.
"Diese Wahlen sind ein unglaublicher Warnschuss"
Zurheide: Dann lassen Sie uns das mal durchmessen, dieses andere Europa - ja, erstens: Wo sehen Sie Mehrheiten dafür? Fangen wir damit an. Und was müsste passieren?
Giegold: Also es hängt ja jetzt alles davon ab, ob neben den Sozialisten, Grünen und auch vielen Liberalen auch die Konservativen bereit sind, ernsthaft Schritte zu gehen, die Richtung der europäischen Politik zu verändern. Und diese Wahlen sind ja ein unglaublicher Warnschuss. Ein Drittel aller Abgeordneten im Europaparlament aus Frankreich kommen vom Front National, ähnlich aus Großbritannien mit der UKIP. Und auch die ECR, also die Rechtskonservativen, die ja in der Regierung mit sind, sind ja nun nicht wirklich europafreundlich. Wenn es nicht gelingt, jetzt politische Alternativen zu beschreiben, die gleichzeitig Europa neue Souveränität geben und neue Hoffnung geben, dann wird es sehr schwierig. Ich stelle mir solche Maßnahmen vor neben der gemeinsamen Bekämpfung der Steuerflucht und Steuerhinterziehung, die zum Beispiel die Energieunabhängigkeit Europas stärken auf der Basis erneuerbarer Energien, also ein wirklich europäisches Strom- und Gasnetz, das auf die Richtung erneuerbarer Energien zielt.
Zurheide: Übrigens, Herr Giegold, da gibt es eine Große Koalition, ...
Giegold: Ja.
Zurheide: ... das hat Herbert Reul von der CDU vorhin hier um viertel nach sieben genau so gesagt. Also da sind ja interessante Konstellationen.
Giegold: Absolut. Bei Herrn Reul gibt es nur immer einen Unterschied: Ich erlebe ihn seit Jahren nicht gerade als Freund erneuerbarer Energien. Er will zwar auch ein europäisches Energienetz, das zielt aber, sage ich mal, sichtbar darauf ab, dort eben auch Energien, die schmutzig sind, einzubeziehen. Wenn sich Herr Reul da jetzt geläutert hätte, wäre das doch angesichts des laufenden Katholikentages eine erfreuliche Wendung. Aber ein anderes Projekt, was ich spannend fände, wäre wirklich eine europäische Universität, oder zumindest eine nochmalige Aufstockung der Erasmus-Programme, sodass wirklich alle Jugendliche in andere Länder zum Lernen können, oder die Stärkung der europäischen Eisenbahnverbindungen - also ich will sagen, Projekte, die Europa eine stärkere Identität geben, die Investitionen darstellen und nicht einfach nur Sparen, und gleichzeitig aber Europa nach vorne bringen, und bei der Finanzierung eben nicht auf neue Schulden zu setzen, sondern auf die entschiedene Bekämpfung der Steuerflucht. Solche Vorschläge müssten jetzt aus Deutschland mit Frankreich zusammen auf den Weg gebracht werden.
"Der Schlüssel liegt bei Frau Merkel"
Zurheide: Ich habe aber auch gerade gefragt, wo sind die Mehrheiten? Jetzt haben wir gesagt, gibt es da möglicherweise neue Mehrheiten der Parteien, die eher ein positives Bild von Europa zeichnen, gegen die anderen? Müssen die, also müssen Sie, müssen die Sozialdemokraten, Sozialisten und die Grünen und die Christdemokraten enger zusammenarbeiten gegen diesen Block, also eine Art Große Koalition der Willigen?
Giegold: Aus meiner Sicht ist das genau die große Frage, was jetzt im Europäischen Parlament passiert, auch, welche Mehrheiten letztlich Herrn Juncker hoffentlich tragen werden. Immerhin hat Frau Merkel jetzt noch mal klar gesagt, dass sie Herrn Juncker wirklich will. Ich hoffe, dass sie sich jetzt auch hinter den verschlossenen Türen so verhält. Und ansonsten gilt natürlich, dass möglichst alle Pro-Europäer jetzt zusammenstehen sollten. Allerdings kann das nicht bedeuten, dass das, so wie bei der Großen Koalition es gelaufen ist in Deutschland, dass dann die SPD einfach das Programm der Union in der Europapolitik übernimmt, sondern dann muss es tatsächlich Veränderungen geben. Und diese Wahlen legen das ja nahe. Und da liegt der Schlüssel vermutlich wiederum in Berlin, denn dieser Stil, ich nenne es mal so, von Frau Merkel, der unprätentiösen Dominanz, also das heißt, zwar nach außen hin freundlich aufzutreten und auch, sage ich mal, in der Sprache nicht diktatorisch zu wirken, aber trotzdem ganz klar zu sagen, das geht mit Deutschland, das nicht, und dabei eine Linie zu beschreiben, die von vielen anderen Ländern als befremdlich und dominierend empfunden wird, das muss sich ändern. Und da liegt der Schlüssel bei Frau Merkel, ob sie jetzt bereit ist, mit Frankreich ein gemeinsames Projekt - natürlich auch in Einbeziehung anderer Staaten wie Italien und Spanien insbesondere und Polen -, ein anderes Projekt zu beschreiben.
Zurheide: Sie haben gerade die paar Projekte schon angesprochen. Wo würden Sie ganz konkret mit anfangen, was sind Ihre ersten Initiativen und wen wollen Sie als Verbündete dann ins Boot holen?
Giegold: Also wir haben ja klar gesagt, wir sind grundsätzlich bereit, einen anderen Kommissionschef natürlich mitzuwählen. Wir haben dafür vier Anforderungen genannt: eine echte europäische Energie- und Klimapolitik - Sie haben ja schon festgestellt, da gibt es durchaus Übereinstimmungen -; wir möchten, dass in der Agrarpolitik es keine neuen Genmaispflanzen in Europa gibt, auch dafür gibt es eine breite Mehrheit in der Bevölkerung; drittens wollen wir das EU-US-Freihandelsabkommen auf neue Füße stellen, wir wollen, dass dem mindestens mal die Giftzähne gezogen werden; und schließlich - und ich halte das für ganz wichtig - braucht es einen neuen Aufbruch in der europäischen Demokratie. Das Unwohlsein der Bürger an dem, wie Europa derzeit die Entscheidungen trifft, ist sehr weit verbreitet, und da brauchen wir mehr an Bürgerbeteiligung und eine Begrenzung dieses überbordenden Lobbyismus. Und ich glaube, das wäre auch eine europäische Antwort auf das Unwohlsein an immer mehr Entscheidungen auf europäischer Ebene, die Vertiefung der europäischen Demokratie.
Zurheide: Die Vertiefung der europäischen Demokratie, Europa braucht einen neuen Aufbruch - das war Sven Giegold von den Grünen, Herr Giegold, heute Morgen, ich bedanke mich für das Gespräch!
Giegold: Sehr gerne!
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