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Europäische Flüchtlingspolitik
"Wir müssen uns um die Fluchtursachen kümmern"

Das Geld aus dem EU-Türkei-Abkommen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise sei weitgehend aufgebraucht, sagte der CDU-Europaabgeordnete Daniel Caspary im Dlf. Um der Türkei weiter zu helfen, müsse es eine Anschlussfinanzierung geben. Vor allem aber müsse man die Fluchtursachen in den Griff kriegen.

Daniel Caspary im Gespräch mit Jörg Münchenberg |
Tausende Schwimmwesten lagern auf einer Müllkippe auf der griechischen Insel Lesbos.
Die Zahl der aus der Türkei auf die griechischen Inseln flüchtenden Menschen ist dramatisch gestiegen. (Vincent Lindig)
Jörg Münchenberg: Mal sind es nur einige Dutzend, mal mehrere hundert Flüchtlinge an einem Tag, die die griechischen Inseln im Osten der Ägäis derzeit erreichen. Es ist im Vergleich zu 2016/17 keine dramatische Entwicklung, aber die steigenden Ankunftszahlen sorgen in Brüssel, aber auch den europäischen Hauptstädten inzwischen für einige Nervosität, zumal der türkische Präsident Erdogan unverhohlen damit gedroht hat, das EU-Türkei-Abkommen aufzukündigen. Ankara fordert mehr finanzielle Unterstützung von den Europäern.
Am Telefon ist nun Daniel Caspary. Er ist Chef der CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament. Herr Caspary, einen schönen guten Morgen.
Daniel Caspary: Guten Morgen, Herr Münchenberg!
Münchenberg: Herr Caspary, steht der EU-Türkei-Deal möglicherweise vor dem Aus?
Caspary: Nein, ich sehe das nicht so negativ, wie im Moment einige spekulieren. Tatsache ist, dass sich die Türkei jetzt seit fast drei Jahren aus meiner Sicht sehr gut an diesen Deal hält. Aber klar ist auch, wir sind im Moment in einer Phase, wo zum einen die Finanzierung zu Ende geht.
Die sechs Milliarden, die damals vereinbart wurden, sind weitgehend erschöpft. Und zum zweiten erleben wir, dass nach wie vor in Griechenland kaum Voraussetzungen geschaffen sind, um auf europäischer Seite den Deal wirklich zu 100 Prozent zu erfüllen, und da ist die neue griechische Regierung aus meiner Sicht gefordert, aber auch willens, die Situation zu verbessern.
"Zahlen im Vergleich zu 2015 um weit über 90 Prozent reduziert"
Münchenberg: Lassen Sie uns noch mal bei der Türkei bleiben. Die Zahlen sind ja doch relativ deutlich. Laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR kamen jetzt im August 8000 Flüchtlinge auf den griechischen Inseln an. Im Jahr zuvor waren es gerade mal 3200. Die Zahlen steigen doch deutlich an.
Caspary: Die Zahlen steigen deutlich an und das sollte uns auch zu denken geben. Aber die Zahlen sind ja immer noch viel, viel niedriger als zu den Spitzenzeiten 2015. Damals kamen ja in der Größenordnung Flüchtlinge am Tag. Jetzt kommen die Flüchtlingszahlen im Monat. Wir haben immer noch die Zahlen im Vergleich zu 2015 um weit über 90 Prozent reduziert.
Mir geht es aber vor allem darum, dass wir uns gemeinsam mit der Türkei überlegen, wie schaffen wir es, generell Stabilität in dem Umfeld zu schaffen. Wir haben ja die Situation in Syrien, wo leider die Lage teilweise wieder zu eskalieren scheint, die Befriedung noch weit weg, vom Wiederaufbau reden wir noch gar nicht.
Das heißt, wir müssen uns vor allem darum kümmern, was sind wirklich die Ursachen, und die Ursache ist doch nach wie vor, dass die Situation in Syrien und in anderen Ländern nicht geklärt ist, dass dort die Perspektiven nicht klar sind, und weniger, dass die Türkei keinen Willen hat.
Der CDU-Politiker Daniel Caspary auf einem Landesparteitag der CDU in Baden-Württemberg.
Der CDU-Politiker Daniel Caspary (dpa/Patrick Seeger)
Münchenberg: Aber daran, Herr Caspary, wird sich nicht so schnell etwas ändern, und es gibt doch klare Vorwürfe auch aus der Türkei, zum Beispiel, dass sich Europa nicht an die Zusage halten würde, mehrere zehntausend syrische Flüchtlinge aus der Türkei nach Europa umzusiedeln.
Caspary: Der eine Punkt ist doch: Wir haben im Moment die Situation, dass - noch mal aus meiner Sicht - die Türkei sich sehr gut an den Pakt hält, auch wenn jetzt im Moment vielleicht etwas spekuliert wird, was passiert. Aber noch mal, ich sehe im Moment das Hauptproblem da: Wir haben das Thema Perspektive für Syrien und wie kommt überhaupt in diese Region Ruhe rein überhaupt nicht im Griff.
Zum zweiten, wir stehen vor der Situation: Wir wissen alle, wie groß die Herausforderung in Deutschland war im Jahr 2015 mit den ungefähr eine Million Flüchtlingen. Die Türkei beherbergt nach wie vor rund drei Millionen Flüchtlinge. Unser Pakt läuft im Moment in der Art und Weise demnächst aus, dass die sechs Milliarden Euro verbraucht sind. Das heißt, wir müssen uns in der Europäischen Union sehr schnell Gedanken machen, wie kriegen wir denn die Anschlussfinanzierung hin, um der Türkei weiter zu helfen.
Das nächste ist: In Griechenland selbst ist die Situation dort immer noch unzureichend. Wir haben dort die alte Regierung Tsipras, die überhaupt nicht die Situation geschaffen hat, dass auf den Inseln die Asylanträge schnell bearbeitet werden können. Wir haben kaum Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt. Die neue Regierung möchte das ändern. Und von daher: Ich denke, wir sind auf einem guten Weg.
Und das nächste: Wir haben Riesenaufgaben vor uns, um uns selbst fit zu machen im europäischen Außengrenzschutz. Wir haben zum Glück die Türkei aus meiner Sicht doch als verlässlichen Partner im Moment. Aber wir müssen nach wie vor unseren europäischen Außengrenzschutz aufbauen, Stichwort Ausbau von Frontex, dass wir selbst in die Lage kommen, auch unsere Außengrenze besser abzusichern. Da sind entsprechende Beschlüsse gefasst, die wir jetzt umsetzen müssen, und ich bin ganz zuversichtlich: Mit einem Gesamtpaket von Außen- und Innenpolitik kriegen wir die Situation wieder in den Griff.
Muslim people across Turkey celebrated Eid al-Adha, during which meat and food supplies were given to Syrian refugees living at rundown houses in Istanbul. | Verwendung weltweit
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"Wir schicken kaum Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei zurück"
Münchenberg: Aber, Herr Caspary, Sie sagen ja selber, die Türkei hält sich an die Verpflichtung, aber scheinbar nicht Europa, wenn man schaut, dass zum Beispiel diese Flüchtlinge - und das ist ja Teil des Pakts gewesen, dass man gesagt hat, für jeden zurückgeschickten Syrer sollen Bürger, Kriegsflüchtlinge aufgenommen werden -, dass sich Europa daran nicht hält.
Caspary: Da, sage ich ganz offen, bin ich überfragt, inwieweit wir jetzt genau Flüchtlinge für die nehmen, die wir zurückschicken. Aus meiner Sicht ist im Moment das Hauptproblem, dass wir kaum Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei zurückschicken, weil dort immer noch die Bearbeitung der Asylanträge stockt, die alte griechische Regierung sich aus meiner Sicht unzureichend um die Frage gekümmert hat, wie in Griechenland das EU-Türkei-Abkommen umgesetzt werden kann. Herr Tsipras hatte ja doch politisch ganz andere Interessen.
Ich habe schon den Eindruck, jetzt gerade die neue griechische Regierung hat doch ein Paket vorgelegt vor einigen Tagen, dass sie sagt, sie möchte das Thema Asylgesetz reformieren und die Bearbeitung der Fälle beschleunigen. Sie möchte das Thema Einsprüche beschleunigen und vor normale Gerichte bringen. Sie möchte das Thema Kriterium für Schutzbedürftigkeit besser ausarbeiten und dort eindeutig in eine Situation bringen.
Aber noch mal: Ich wünsche mir, dass wir jetzt nicht anfangen mit einem Streit, hält sich die Europäische Union besser daran oder die Türkei, sondern wir sollten wieder nicht an den Symptomen herumdoktern – das ist meistens sinnvoll -, sondern wir haben doch wirklich …
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Münchenberg: Herr Caspary! Sitzt die Türkei nicht am Ende doch am längeren Hebel, wenn sie zum Beispiel die Drohung tatsächlich ernst macht und den Pakt aufkündigt? Und die Frage noch mal, die ich daran anschließen würde - Sie haben ja schon den Druck an der Grenze zu Syrien angesprochen.
Es geht ja um die Kämpfe um die letzte Rebellenhochburg Idlib. Ist es nicht absehbar, dass die Zahl der Flüchtlinge dramatisch steigen wird und dass die Türkei deshalb auch zurecht sagt, wir können diese neuen Flüchtlinge nicht alle im Land aufnehmen, da ist auch Europa gefragt?
Caspary: Genau! Deswegen noch mal: Dass die Türkei im Moment mit uns reden möchte, dafür gibt es doch viele Anlässe. Sie haben den einen genannt mit der Situation in Syrien, die nach wie vor unbefriedigend ist. Ich habe das Beispiel genannt mit der Milliarden-Unterstützung für die Flüchtlingsunterbringung in der Türkei, die aus meiner Sicht jetzt dringend geklärt werden muss für die Anschlussfinanzierung. Aber wir sollten jetzt bitte nicht den Fehler machen und über die Symptome sprechen, sondern genau die Ursachen.
Die Ursache ist, dass jetzt auch nach vielen, vielen Jahren die Situation in Syrien vollkommen ungeklärt ist, dass dort immer noch nicht über Wiederaufbau, Befriedung diskutiert werden kann, sondern dass wir jetzt eine weitere Eskalation erleben. Und ich wünsche mir, dass wir jetzt nicht darüber sprechen, ist jetzt die Türkei Schuld oder die Europäische Union, dass die Flüchtlingszahlen wieder etwas steigen - noch mal: auf im Vergleich zu 2015 extrem niedrigem Niveau -, sondern ich wünsche mir, dass wir uns endlich gemeinsam hinsetzen und dieses Thema Syrien auf die Agenda nehmen.
Wenn wir das Thema Fluchtursachen angehen, das ist unser gemeinsames Interesse. Die Flüchtlingssituation destabilisiert ja nicht nur die Länder der Europäischen Union, sondern auch in der Türkei ist das Flüchtlingsthema ein Riesentthema. Mit einem Land, das ungefähr so viele Einwohner hat wie Deutschland, aber die dreifache Zahl von Flüchtlingen im Moment beherbergt, ist das doch auch klar, dass auch die türkische Regierung unter einem gewissen Druck steht.
Deswegen noch mal, wir haben doch gelernt: Der EU-Türkei-Pakt hat maßgeblich dazu beigetragen im Jahr 2016, dass die Zahlen über die Balkan-Route massiv gesunken sind. Wir haben eine Reduktion über die Balkan-Route erlebt durch diesen EU-Türkei-Pakt von weit über 90 Prozent, ungefähr 97 Prozent. Jetzt geht es aus meiner Sicht darum: Wir sollten nicht diskutieren, wer trägt jetzt mehr Verantwortung dafür, dass die Zahlen etwas mehr steigen, sondern wir sollten die Ursache davon lösen, und die liegt eher in Syrien und nicht zwischen Europa und der Türkei.
"Ich habe Riesenhoffnungen in die neue EU-Kommission"
Münchenberg: Aber noch mal ganz konkret, weil Sie haben ja auch gesagt in unserem Gespräch, dass die finanziellen Mittel bald ausgeschöpft sein werden, die die EU der Türkei zugesagt hat. Heißt das im Umkehrschluss nicht auch oder muss das heißen, die EU ist bereit, weiter Mittel der Türkei zur Verfügung zu stellen? Da geht es ja zum Beispiel um die Integration der Flüchtlinge in der Türkei.
Caspary: Ich wünsche mir sehr, dass wir als Europäische Union hier unsere Nachbarn nicht hängen lassen. Aus meiner Sicht gehört das genau dazu. Wir haben doch in Europa gelernt, die Ursache von dem quasi Zusammenbruch von Dublin war doch, dass wir damals Griechenland und Italien weitgehend allein gelassen haben. Und wir haben dadurch Struktur und Ordnung reingebracht, dass wir Länder wie Griechenland und Italien als Europäische Union dann unterstützt haben.
Nehmen wir Italien, wo seit 2015 rund eine Milliarde Euro zur Unterstützung in der Flüchtlingsfrage hingeflossen ist. Nehmen wir Griechenland, wo rund zwei Milliarden Euro seit 2015 an europäischen Geldern hingeflossen sind. Und genauso geht es doch selbstverständlich auch darum: Wenn in unserer unmittelbaren Nachbarschaft - und da liegen Türkei, Syrien und andere Länder – diese Fluchtursachen da sind, dann ist für mich auch klar und in der Debatte ist das relativ unstrittig, wir können uns keinen schlauen Lenz machen und sagen, die Flüchtlinge kommen aus Syrien in die Türkei, liebe Türkei, kümmere Dich alleine darum.
Nein, dann wird die Türkei das nicht machen, und da hätte ich auch Verständnis dafür. Sondern wir müssen das Thema finanziell, aber vor allem auch politisch gemeinsam lösen, und da habe ich Riesenhoffnungen jetzt in die neue EU-Kommission mit Ursula von der Leyen, die meiner Überzeugung nach sehr viel mehr Außenpolitik auch persönlich machen wird, die sich mehr einbringen wird, die auch den Hintergrund hat als ehemalige Verteidigungsministerin in Deutschland. Und deswegen noch mal: Ich wünsche mir, dass wir jetzt nicht die Debatte führen, wer ist verantwortlich für die im Moment leicht steigenden Flüchtlingszahlen, sondern wie bekommen wir das Problem an der Wurzel bekämpft.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.