Rund 400 Millionen Menschen sind am 25. Mai aufgerufen, das neue EU-Parlament zu wählen. Es sei nach Indien die zweitgrößte demokratische Wahl der Welt, verkündet stolz der Präsident des Europäischen Parlaments, bei der wiederum die 751 neuen Abgeordneten bestimmt werden sollen. Über 160 Parteien waren in der zurückliegenden Legislaturperiode im Europäischen Parlament vertreten, die sich größtenteils wiederum in sieben Fraktionen organisiert haben:
"Die Parteienfamilien profitieren von vielen Rechten und Möglichkeiten im parlamentarischen Betrieb. Deshalb sind diese Parteienfamilien, denke ich, auch immens wichtig für die Arbeit des Europäischen Parlaments."
Sagt die Parteienexpertin Sonia Piedrafita vom Centre for European Studies, kurz Ceps, einer einflussreichen europäischen Denkfabrik in Brüssel. Doch das Selbstverständnis als europäische Partei sowie der Zusammenschluss zu einer europäischen Parteienfamilie ist ein relativ junges Phänomen, das wiederum eng mit dem Kompetenzzuwachs des Europäischen Parlaments verknüpft ist, betont der Lehrbeauftragte an der Universität Potsdam, Benjamin Höhne, der sich ausführlich mit der europäischen Parteienlandschaft beschäftigt hat.
"Ich glaube, das war die entscheidende Sache, dass man 1979 mit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments erkannt hatte, dass man sich über die nationalen Grenzen hinaus für die Europäische Union engagieren kann, bestimmte Gemeinsamkeiten in den Parteienfamilien hat."
Zumal in den Folgejahren die finanzielle Förderung der europäischen Parteien stetig ausgebaut wurde. 2012 flossen an die damals 13 anspruchsberechtigten Europarteien knapp 19 Millionen Euro. Im Vergleich zu den Budgets der nationalen Parteien ein Klecks, aber auf europäischer Ebene überlebenswichtig. Hängen doch die Parteien fast ausschließlich am Tropf der EU-Zuschüsse.
Die Christdemokraten
Anfang März in Dublin. Dort kürt die Europäische Volkspartei – der Zusammenschluss der christdemokratischen Parteien in Europa - ihren Spitzenkandidaten für die anstehende Europawahl: Jean-Claude Juncker, der frühere Ministerpräsident von Luxemburg, soll der EVP im anstehenden europäischen Wahlkampf ein Gesicht geben. Ein Novum in der Geschichte des EU-Parlaments. Denn gleichzeitig ist er damit der Anwärter der Christdemokraten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten.
"Die Europäische Volkspartei definiert sich zunächst als eine christdemokratische Fraktion. Das ist unsere Herkunft. Wir sind eine klar proeuropäische Gruppe, die Europa will und Europa auch weiter entwickeln will. Konstitutionell auch, das unterscheidet uns von den Konservativen hier im Haus. Und wir sind eine wertebasierte Gruppierung als Christdemokraten."
Beschreibt der stellvertretende EVP-Fraktionsvorsitzende Manfred Weber das eigene Profil. Freilich präsentiert sich gerade die EVP mit 74 Parteien aus 39 Ländern – es ist zugleich die größte Fraktion im Europäischen Parlament - eher als große Patchworkfamilie. Denn neben den Christdemokraten beispielsweise aus Deutschland, Österreich, Griechenland oder auch Spanien gehören zu ihren Mitgliedern auch die ungarische Fidesz-Partei des umstrittenen Ministerpräsidenten Viktor Orban sowie die Forza Italia des früheren italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Der erst Ende April mit populistischen Attacken gegen Deutschland für einen Eklat mitten im Wahlkampf gesorgt hatte. Dennoch werden die Eskapaden einiger Familienmitglieder gerne heruntergespielt – so auch im Fall Berlusconi. Herbert Reul, der Chef der CSU/CDU-Gruppe im Europäischen Parlament:
"Diese Bürde wird immer geringer, weil der Mann nichts mehr zu sagen hat. Ich meine, der macht jetzt in Italien noch einmal die dicke Welle im Wahlkampf. Aber er nimmt ja kein Amt wahr. Dem werde ich ja nicht begegnen im Europäischen Parlament. Und die Kollegen, die aus seiner Partei kommen, da sind die allermeisten hochanständige Leute, mit denen man ordentlich zusammenarbeiten kann und die das auch alles manchmal nur so hinnehmen."
Die Sozialdemokraten
Martin Schulz tritt für die europäischen Sozialdemokraten als Spitzenkandidat für die EU-Wahl an. Die Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten, kurz S&E, ist die zweitgrößte Gruppierung im EP. Die Sozialdemokratische Partei Europas wiederum repräsentiert insgesamt 53 sozialdemokratische, sozialistische und sonstige Arbeiterparteien in ganz Europa. Es ist die Parteienfamilie mit der längsten Tradition. Immerhin haben sich die ersten Arbeiterparteien schon 1864 in London international ausgetauscht. Doch die Organisation auf europäischer Ebene war kein einfacher Prozess, erklärt der SPD-Abgeordnete im EU-Parlament, Jo Leinen:
"Die Linke in Europa hat schon lange gefremdelt mit der Europäischen Union. Wir sind zwar Internationalisten, aber die EWG, der Europäische Wirtschaftsraum, wurde immer etwas skeptisch betrachtet. Insofern sind wir fast etwas spät. Die Christdemokraten waren da eigentlich schon länger unterwegs. Aber ich glaube, die Sozialdemokratie in Europa hat kräftig aufgeholt in den letzten Jahren."
Tatsächlich sind die europäischen Sozialdemokraten längst ein fester Bestandteil des parlamentarischen Establishments in Brüssel. Gerade ihre Fraktion hat sich in den letzten Jahren als äußerst stabil erwiesen, was wohl auch an der ausgeprägten gemeinsamen Identität liegen dürfte. Denn die ist für alle europäischen Parteien und die jeweiligen Fraktionen natürlich von entscheidender Bedeutung, meint Parteienforscher Höhne:
"Das geht auf die Gründung der Parteien im 19. Jahrhundert zurück. Also bei den linken Parteien, den Arbeiterparteien die Frage der sozialen Gerechtigkeit. Das ist eine Frage über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg. Bei den Christdemokraten ist es der christliche Hintergrund, bei den liberalen Parteien das liberale Gedankengut usw. Also das ist der Markenkern, der es den Parteien erleichtert hat, zu sagen, wir kooperieren, denn wir tragen eine bestimmte gemeinsame Politik mit."
Die Liberalen
Die Europäische Liberale und Demokratische Reform-Partei vereint wiederum die liberalen Parteien in Europa – im Europäischen Parlament ist die Fraktion Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa, kurz Alde die drittstärkste politische Kraft. Der Brite Sir Graham Watson war von 2004 bis 2009 ihr Fraktionsvorsitzender – er kennt die Befindlichkeiten auch unter den Liberalen sehr genau:
"Einige Liberale sind eher Wirtschaftsliberale. Einige sind eher Sozialliberale oder sagen wir grüne Liberale. Aber diese Unterschiede befinden sich zwischen Individuen und nicht zwischen nationalen Fraktionen."
Natürlich spielen bei den Abstimmungen innerhalb der einzelnen Fraktionen nationale Interessen immer wieder eine zentrale Rolle. Etwa wenn es um den Klimaschutz oder auch um Auflagen für die Autoindustrie geht, die zum Beispiel besonders in Deutschland eine wichtige Rolle spielt. Dazu kommt: Es gibt im Europäischen Parlament keinen Fraktionszwang, was die Abstimmung untereinander nicht gerade erleichtert. Dennoch, so die Brüsseler Parteienexpertin Piedrafita, sei gerade bei den etablierten Fraktionen, also EVP, Sozialdemokraten, Liberalen und den Europäischen Grünen eine bemerkenswerte Einigkeit zu beobachten:
"Sie stimmen normalerweise gemeinsam in diesen politischen Parteien ab. Die Geschlossenheit unter den Abgeordneten liegt hier bei 90 bis 100 Prozent. Es gibt hier in der Regel kaum Konflikte und es kommt nur selten vor, dass einige wenige Abgeordnete ausscheren. Das ist die Normalität in diesen Parteienfamilien."
Die Grünen
Wie wichtig Geschlossenheit ist, weiß man gerade auch bei den Grünen, die sich wiederum in der Europäischen Grünen Partei europaweit organisiert haben. Im Europäischen Parlament zählt diese Fraktion 57 Mitglieder, die meisten davon kommen aus Frankreich und Deutschland. Die Abstimmung zwischen diesen beiden Gruppen sei zentral für die Arbeit der gesamten Fraktion, sagt ihre Chefin Rebecca Harms:
"Gerade kleine Fraktionen müssen ja, um ein Gewicht zu bekommen, darauf achten, sich nicht zu zerlegen und müssen geschlossen auftreten. Deshalb ist es bei uns relativ selten, dass wir getrennte Abstimmungen entlang von nationalen Delegationen haben. Nur so können die Grünen im Europäischen Parlament auch etwas bewirken. Also wenn wir unsere Stimmen noch aufteilen, dann kommen wir nirgends hin.
Die Linken
Während sich die europäischen Grünen über die Kernthemen Klimaschutz, Umweltpolitik und Datenschutz definieren, hat es da die Partei der Europäischen Linken, die erst 2004 gegründet wurde, deutlich schwieriger. Das Spektrum reicht vom Linken Block in Portugal über die Französischen Kommunisten bis hin zur euroskeptischen Linkspartei Syriza in Griechenland. Gaby Zimmer, die Fraktionschefin der Linken im Europäischen Parlament, weiß davon ein Lied zu singen und gibt sich fast demütig:
"Ich darf erst gar nicht den Versuch unternehmen, möglichst zu allen Themen nur eine Position festzumachen. Oder vielleicht auch zu denken, meine Position sei da die richtige. Ich habe ja auch gelernt, dass meine Position nicht unbedingt die Richtige sein muss."
Auf 34 Abgeordnete kommt derzeit die Links-Fraktion im Europäischen Parlament. Aber sollte der Wählerzuspruch gerade für europakritische Parteien weiter anhalten, dann dürfte davon auch die Links-Fraktion im Europäischen Parlament profitieren. Was allerdings nicht unbedingt mit einem politischen Machtzuwachs gleichzusetzen sei, vermutet Sonia Piedrafita von der Brüsseler Denkfabrik Ceps:
"Ich glaube, dass sie an Zusammenhalt und Disziplin verlieren werden. Denn wir haben in diesem Bündnis Parteien, die sehr proeuropäisch aufgestellt sind, etwa die Linke aus Spanien. Und dann gibt es andere wie etwa Syriza aus Griechenland, die genau für das Gegenteil stehen. Es gibt also sehr verschiedene Parteien, die sich auch sehr stark auf nationale Themen konzentrieren. Was dann eine Einigung auf europäischer Ebene eher verhindern dürfte.
Die Eurokritiker
Rechtspopulistisch und strikt antieuropäisch, so präsentiert sich die britische Ukip, die wiederum zur Bewegung für ein Europa der Freiheit und der Demokratie gehört. Insgesamt sitzen für diese europakritische Gruppierung derzeit 31 Abgeordnete im Europäischen Parlament. Eine Zahl, die sich nach den Wahlen am 25. Mai deutlich erhöhen dürfte. Doch die Rechtspopulisten sind im Europäischen Parlament isoliert. Während die Zusammenarbeit zwischen den proeuropäischen und gemäßigten Fraktionen nur selten durch parteiideologische Vorbehalte behindert werde, sagt der SPD-Abgeordnete Jo Leinen:
"Wir haben keine geborene Mehrheit und Minderheit. Jedes Thema muss sich seine Mehrheit suchen. Sodass wir gewohnt sind, bei einem Thema über Parteigrenzen hinaus auch zusammenzuarbeiten. Der Fraktionszwang, nein zu sagen, wenn eine andere Fraktion sich eine Meinung gebildet hat – das gibt es hier nicht. Und das macht das Arbeiten eigentlich sehr produktiv und auch sehr attraktiv."
Arbeit am eigenen politischen Profil
Freilich, die ständig wechselnden Koalitionen im Europäischen Parlament sorgen auch für eine politische Unschärfe, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Das aber sei ein ernstes Problem, meint Parteienforscherin Piedrafita, schließlich werden die EU-Abgeordneten immer noch von den nationalen Parteien nominiert und von den Bürgern dort auch gewählt:
"Es ist für die Bürger wirklich schwierig, zu verstehen, für was die Partei am Ende wirklich steht. Sieht man einmal von den Grundsatzfragen ab, also etwa Abtreibung oder die Sparpolitik. Aber jenseits von solchen Themen fehlt es für die Bürger doch oft an einem klaren Profil."
Gleichzeitig ist die Arbeit im Europäischen Parlament viel stärker an Sachthemen als an der Parteipolitik ausgerichtet. Was wiederum kein Zufall sei, sagt Parteienforscher Benjamin Höhne von der Universität Potsdam.
"Das, was wir ja auch durch die Europäisierungsforschung wissen: dass die Europaabgeordneten durchaus eine europäische Identität erwerben. Dass sie im Europäischen Parlament beruflich sozialisiert werden über die Jahre und dann auch stärker den Blick auf europapolitische Belange haben als auf nationalstaatliche."
Allerdings gibt es auch Grenzen bei der parteipolitischen Flexibilität. Jahrelang hatten sich die britischen Konservativen mit der Europäischen Volkspartei über die weiteren Integrationsschritte und -ziele der EU immer wieder heftig gestritten. 2009 kam schließlich der Bruch mit dem Eintritt der europakritischen Torys in die Allianz der Europäischen Konservativen und Reformisten. Auch im EU-Parlament bilden sie seither eine eigene Fraktion, was natürlich zu einer Schwächung von Macht und Einfluss für beide, also britische Konservative und Europäische Volkspartei, geführt hat. Längst gibt es deshalb auch Spekulationen über eine neuerliche Annäherung:
"Der Ball liegt in London. Weil man in London entscheiden muss, ob man den Weg, den man vor fünf Jahren bestritten hat – sich zu trennen – ob man den für richtig hält oder nicht. Die Erfahrung der Torys müsste eigentlich sein, dass sie durch den Weggang von der größten Fraktion deutlich an Einfluss verloren haben. Und deswegen müsste eigentlich die Erkenntnis reifen, dass dabei sein und Mitgestalten besser ist als an der Seite zu stehen und zu nörgeln."
Sagt der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Manfred Weber, dem zugleich gute Chancen für den EVP-Chefposten im neuen Parlament eingeräumt werden.
"Die ausgestreckte Hand von uns zur Zusammenarbeit ist da. Auch in Richtung London. Aber klar ist auch, dass es keine Sonderkonditionen geben wird. Zusammenarbeit kann nur funktionieren, wenn man wieder Teil der Europäischen Volkspartei sein will."
Mehr europakritische Stimmen im Parlament
Ob sich die Briten zu diesem Schritt durchringen werden, bleibt abzuwarten. Davon unabhängig dürfte sich in der parlamentarischen Arbeit und damit auch für die europäischen Parteienfamilien in der kommenden Legislaturperiode einiges ändern. Nach der Umfrage des Meinungsforschungsinstituts TNS Opinion Anfang Mai im Auftrag des EU-Parlaments werden die europakritischen Parteien bei den anstehenden Wahlen knapp 19 Prozent der Stimmen bekommen, während Christdemokraten und Sozialisten zusammen rund 54 Prozent der Stimmen erreichen werden. Was das für die Arbeit im Europäischen Parlament, aber auch sein Ansehen in der Öffentlichkeit bedeutet, darüber gehen die Meinungen der Experten aber durchaus auseinander:
"Wir werden dann im nächsten Europäischen Parlament all diese mehr oder weniger radikalen oder euroskeptischen Parteien haben. Zu einem Zeitpunkt, zu dem das Parlament seinen politischen Einfluss ausbauen will, aber auch die eigene politische Legitimität. Aber das könnte für die Bürger ein offenkundiger Widerspruch sein. Es könnte also für das Europäische Parlament sehr schwierig werden, wenn es diese Entwicklungen geben sollte."
"Die euroskeptischen Stimmen werden zweifelsfrei lauter werden. Ob das die Arbeitsfähigkeit des Parlaments beeinträchtigen wird, das ist eine offene Frage. Ich glaube daran eher nicht. Eben mit Verweis auf die etablierten Parteien, die über Jahre Mechanismen eingespielt haben."
So die Einschätzungen der Parteienforscher Piedrafita und Höhne. Doch absehbar ist: Die Zersplitterung des Europäischen Parlaments wird weiter zunehmen, was wiederum den Trend hin zu einer schon bestehenden informellen Koalition zwischen den Fraktionen der Europäischen Volkspartei sowie der Sozialisten weiter festigen dürfte. Bei einer gleichzeitig größeren Abhängigkeit gerade auch von den Liberalen, prognostiziert deren früherer Fraktionschef Graham Watson:
"Das Problem bei den Christdemokraten im Moment zum Beispiel ist die Präsenz von Parteien wie die von Viktor Orban oder die Partei Berlusconis in ihrer Fraktion. Und wir haben auch bei den Sozialisten einige Parteien, die uns nicht sehr nahe stehen. Dann würden wir versuchen, eine stärkere Politik der Mitte durchzubringen."
Keine Frage: Der Konsensdruck auf die proeuropäischen Parteien und Parteienfamilien wird in der kommenden Legislaturperiode weiter steigen. Zumal sich die populistischen und antieuropäischen nationalen Gruppierungen von Le Pen aus Frankreich und Gert Wilders aus den Niederlanden zusammen mit anderen auch zu einer neuen europäischen Partei zusammenschließen könnten.
Die stärkere Politisierung der EU – auch durch die erstmals nominierten Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten – könnte zugleich zu einer Aufwertung der Europäischen Parteien insgesamt führen. Eines freilich wird sich so schnell nicht ändern: Die politische Zusammenarbeit auf europäischer Ebene bleibt angesichts der vorgegebenen Patchwork-Strukturen weiterhin ein mühsames Geschäft.