Anne Raith: Das Fundament der Europäischen Union bröckelt. Weil der Brexit noch lange nicht verdaut ist und auch bei den bleibenden Mitgliedsstaaten der Widerstand groß ist. In Ungarn oder Polen etwa, aber auch in Ländern wie Frankreich, wo bei den Wahlen immerhin gleich zwei Kandidaten mit ihrer Kampagne gegen das, was sie "Brüssel" schimpfen, punkten konnten. Nicht von ungefähr will die EU-Kommission das wackelnde Konstrukt nun mit einer neuen, stabilen Säule absichern und sich nach den Krisenjahren auf den "sozialen Fortschritt" konzentrieren.
Das sind die Vorschläge der EU-Kommission:
Die EU-Kommission hat ihre Vorschläge für eine "soziale Säule" der Europäischen Union sorgfältig vorbereitet. In einem öffentlichen Konsultationsverfahren wurden Mitgliedsstaaten, Sozialverbände und Arbeitgeber ausführlich befragt. Parallel dazu gab es zahlreiche Fachkonferenzen. Immerhin geht es um die vermeintlich letzte Chance, um auch die sozialen Ambitionen der EU "zum Fliegen zu bringen", wie es Anfang des Jahres EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker formuliert hat.
Doch wer auf ein konkretes Maßnahmenpaket für ein sozial gerechteres Europa gehofft hat, dürfte heute enttäuscht werden. Zwar umfasst das Papier insgesamt 20 Punkte, doch vieles darin ist eher von grundsätzlicher Natur. Die konkreten Auswirkungen dürften daher überschaubar bleiben, was allerdings im Sinne vieler Mitgliedsstaaten ist. Die Sozialpolitik soll auch in Zukunft in der Hand der Nationalstaaten bleiben, fordert nicht zuletzt die Bundesregierung. Und so heißt es auch in der Erklärung zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge zum Stichwort "Soziales Europa" ausdrücklich: Die Union werde die unterschiedlichen nationalen Systeme nicht in Frage stellen.
Also plädiert Brüssel ganz allgemein für faire Arbeitsbedingungen, für die Sicherstellung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und für ein Mindesteinkommen in Europa. Konkrete Vorgaben aber, etwa über die Höhe eines solchen Mindestlohnes soll es nicht geben. Immerhin will die Kommission überprüfen, ob die Mitgliedsstaaten ihre Versprechen auch erfüllen. Dazu wird es einen Katalog mit verschiedenen Indikatoren geben, mit denen wiederum die Maßnahmen der Nationalstaaten bewertet werden sollen. Parallel dazu will Brüssel dann auch Handlungsempfehlungen veröffentlichen, etwa wenn es darum geht, die Jugendarbeitslosigkeit weiter zu verringern.
Hier knüpft die Kommission mit ihren Vorschlägen an die bereits bestehende so genannte Jugendgarantie an. Junge Leute, so heißt es jetzt in den Vorschlägen als Empfehlung, sollten nicht länger als vier Monate ohne Beschäftigung oder Ausbildung sein.
Doch wer auf ein konkretes Maßnahmenpaket für ein sozial gerechteres Europa gehofft hat, dürfte heute enttäuscht werden. Zwar umfasst das Papier insgesamt 20 Punkte, doch vieles darin ist eher von grundsätzlicher Natur. Die konkreten Auswirkungen dürften daher überschaubar bleiben, was allerdings im Sinne vieler Mitgliedsstaaten ist. Die Sozialpolitik soll auch in Zukunft in der Hand der Nationalstaaten bleiben, fordert nicht zuletzt die Bundesregierung. Und so heißt es auch in der Erklärung zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge zum Stichwort "Soziales Europa" ausdrücklich: Die Union werde die unterschiedlichen nationalen Systeme nicht in Frage stellen.
Also plädiert Brüssel ganz allgemein für faire Arbeitsbedingungen, für die Sicherstellung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und für ein Mindesteinkommen in Europa. Konkrete Vorgaben aber, etwa über die Höhe eines solchen Mindestlohnes soll es nicht geben. Immerhin will die Kommission überprüfen, ob die Mitgliedsstaaten ihre Versprechen auch erfüllen. Dazu wird es einen Katalog mit verschiedenen Indikatoren geben, mit denen wiederum die Maßnahmen der Nationalstaaten bewertet werden sollen. Parallel dazu will Brüssel dann auch Handlungsempfehlungen veröffentlichen, etwa wenn es darum geht, die Jugendarbeitslosigkeit weiter zu verringern.
Hier knüpft die Kommission mit ihren Vorschlägen an die bereits bestehende so genannte Jugendgarantie an. Junge Leute, so heißt es jetzt in den Vorschlägen als Empfehlung, sollten nicht länger als vier Monate ohne Beschäftigung oder Ausbildung sein.
Mehr als nur ein neues Arbeitspapier? Was taugen die Vorschläge?
Anne Raith: Wie kann, wie sollte ein sozialeres Europa aussehen, vor allem für die Jugend? Darüber wollen wir auch mit Linn Selle sprechen, sie sitzt für den Jugendverband "Junge Europäische Föderalisten" im Vorstand der Europäischen Bewegung Deutschland, das ist das größte Netzwerk für Europa-Politik hierzulande. Die 30-Jährige engagiert sich also für Europa, das ist nicht zu überhören, ohne aber an Kritik an der EU zu sparen. Und sie wurde für ihre Arbeit auch schon ausgezeichnet. Was hält sie von diesem neuen Vorstoß? Ist das mehr als nur ein neuer Appell?
Linn Selle: Also, ich glaube, man kann schon sagen, dass in den letzten Jahren das Vertrauen in die Europäische Union und, ich glaube, auch in politische Institutionen insgesamt stark gelitten hat. So ein bisschen hat sich der Gedanke bei vielen Bürgerinnen und Bürgern verfestigt, dass irgendwie die Banken gerettet werden, aber sie selber in prekären Arbeitsverhältnissen zum Teil verfangen sind. Und deswegen ist dieser Vorstoß und vor allem auch diese Debatte total wichtig, weil sie im Grunde zeigt: Wir sind nicht nur der Euro und die Wirtschafts- und Währungsunion, sondern Europa hat auch Vorteile für den Einzelnen, für die Einzelne. Man muss aber auch sagen und das ist ja im Bericht eben auch schon angeklungen, dass gerade bei der Sozialpolitik die EU natürlich nur so stark ist, wie die Mitgliedsstaaten sie lassen. Und das hat in vielen Bereichen auch der Jugendpolitik ganz konkrete Probleme. Und aus meiner Sicht müsste es eigentlich so sein, dass es das gemeinsame Ziel geben muss, dass junge Menschen einfach eine bessere Perspektive in Europa haben und dass daran dann sowohl die Europäische Union, aber auch die Mitgliedsstaaten dran mitarbeiten.
"Sonntagsreden bringen uns nicht weiter"
Anne Raith: Lassen Sie uns den Punkt mal rauspicken: Die Kommission will ja an die Jugendgarantie aus dem Jahr 2013 anknüpfen, also dass junge Leute nicht länger als vier Monate ohne Beschäftigung sind. Viel mehr steht da nicht drin, kann da vielleicht auch nicht drinstehen, weil es eben nationale Angelegenheit ist. Aber reicht das mit Blick auf die vergangenen vier Jahre Jugendarbeitslosigkeit?
Selle: Ja, das ist auf jeden Fall ein wichtiger Punkt. Denn wir haben sehr viele schöne Sonntagsreden gesehen, dass das ein wichtiges Thema ist, dass es fatal ist, dass so viele junge Menschen ohne Arbeit sind. Aber letztlich die Implementierung der Jugendgarantie hat sehr lange gedauert, auch weil viele Mitgliedsstaaten da nicht mitgezogen haben, und es ist auch immer noch nicht abgeschlossen. Und ich glaube, das Beispiel der Jugendarbeitslosigkeit zeigt sehr gut, dass Europa Geld zur Verfügung stellen kann, um bestimmte Projekte anzustoßen, aber dass die Mitgliedsstaaten das letztlich umsetzen müssen.
Und da fehlt dann zum Teil letztlich auch die Verbindlichkeit. Also, was ist, wenn ein junger Mensch in Bulgarien länger als diese vier Monate arbeitslos ist? Hat er ein Recht darauf, das dann auch einzuklagen zum Beispiel? Und da ist dann sozusagen die Frage der Verbindlichkeit, woran es dann oft mangelt.
Und da fehlt dann zum Teil letztlich auch die Verbindlichkeit. Also, was ist, wenn ein junger Mensch in Bulgarien länger als diese vier Monate arbeitslos ist? Hat er ein Recht darauf, das dann auch einzuklagen zum Beispiel? Und da ist dann sozusagen die Frage der Verbindlichkeit, woran es dann oft mangelt.
Raith: Den Anspruch, sagen Sie, kann die Europäische Union formulieren, bei der Umsetzung liegt es dann an den Mitgliedsstaaten. Warum hapert es gerade auch bei den sozialen Fragen da an so einer Art, wie Sie das sagen, grenzüberschreitender Solidarität? Was ist der Hauptgrund dafür, dass es da nicht funktioniert?
Selle: Na ja, man muss schon zugeben oder zugestehen, dass die Regeln in den einzelnen Mitgliedsstaaten sehr, sehr unterschiedlich sind. Und dass es natürlich schwierig ist, da ein gemeinsames Recht zu setzen, wenn man sozusagen anerkennt, dass diese sozialen Systeme auch Teil der europäischen Vielfalt sind. Und die Europäische Union kann dann oft nur sozusagen Geld zur Verfügung stellen und so ein bisschen den Ball anschieben.
Was wir aber in den letzten Jahren auch im Zuge der Euro-Krise beispielsweise auch ganz stark gesehen haben, ist, dass es ein bisschen so dieses Sentiment gibt, dass sich jeder selbst der Nächste ist in den Mitgliedsstaaten, also, dass der Wille für größere Kompromisse, für das große Ganze fehlt. Ich glaube, dass auch zum Beispiel heutzutage eine Vertiefung der Europäischen Union, wie es sie damals mit der Währungsunion gab, heute kaum noch möglich wäre, weil einfach diese Sichtweisen sehr eng sind. Und das ist besonders schlimm für junge Menschen, die im Grunde sehr überragend für Europa einstehen und für die europäische Einigung sind, aber gleichzeitig oft von diesem System, von der Integration nicht wirklich profitieren.
Was wir aber in den letzten Jahren auch im Zuge der Euro-Krise beispielsweise auch ganz stark gesehen haben, ist, dass es ein bisschen so dieses Sentiment gibt, dass sich jeder selbst der Nächste ist in den Mitgliedsstaaten, also, dass der Wille für größere Kompromisse, für das große Ganze fehlt. Ich glaube, dass auch zum Beispiel heutzutage eine Vertiefung der Europäischen Union, wie es sie damals mit der Währungsunion gab, heute kaum noch möglich wäre, weil einfach diese Sichtweisen sehr eng sind. Und das ist besonders schlimm für junge Menschen, die im Grunde sehr überragend für Europa einstehen und für die europäische Einigung sind, aber gleichzeitig oft von diesem System, von der Integration nicht wirklich profitieren.
"Wir brauchen verbindliche Regeln, da müssen alle über ihren Schatten springen."
Raith: Was bedürfte es dann für diese jungen Menschen, wenn es kein neues Papier einer EU-Kommission ist?
Selle: Na ja, ich glaube, wir müssen uns alle die Frage stellen, was es für langfristige Folgen hat, wenn die Prioritäten für junge Menschen im Grunde so sind, wie sie heute sind, also, dass es so ist, dass viele junge Menschen arbeitslos sind, nicht dieselben Chancen haben wie ihre Eltern, und was das auch langfristig für unsere politischen Systeme, für sozusagen Institutionenvertrauen und so bedeutet. Ich glaube, es ist schon ein wichtiger Punkt, dass man das einfach anerkennt auch als Zukunftsaufgabe und dass die Europäische Union und die Mitgliedsstaaten hier gemeinsam einfach eine bessere Politik machen müssen. Ich glaube, da muss man einfach mal auch über seinen eigenen Schatten springen und sagen: Hey, wir müssen uns verbindliche Regeln geben, die wir dann vielleicht individuell in den Mitgliedsstaaten umsetzen. Und im Übrigen, ein weiterer Punkt, der für viele Jugendverbände ein wichtiges Thema ist: Ob nicht einfach auch jüngere Menschen wählen dürfen sollten, einfach um sozusagen Politik mitzubestimmen und auch zu sehen, dass sie auch eine Stimme in diesem System haben.
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