Heutzutage über Europa zu reden, heißt über Krisen zu reden. Und es heißt darüber zu reden, wie die Europäische Union vor dem Scheitern bewahrt werden kann. Die EU hat viele Probleme: Der Euro ist weiter in Gefahr, die Flüchtlingswelle ist ungebrochen, die Briten steigen aus der Union aus und Anti-EU-Populisten gewinnen an Boden. Der islamistische Terrorismus hat seinen Weg in die Metropolen Europas gefunden. Was die Europäische Union dringend braucht, sind Wege heraus aus ihrem Krisengestrüpp. Für Luuk van Middelaar führt dieser Weg nicht in eine Verstaatlichung der Europäischen Union, sondern in ein System maximaler Flexibilität.
"Niemand hat je einen Ozean der Gewissheit befahren, und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Währungsturbulenzen daheim, Umbrüche in den Verhältnissen zwischen den Großmächten in der Welt: so viele Schocks, die Europa dazu zwingen, sich immer wieder neu zu erfinden."
Aber kann die EU mit ihren starren Brüsseler Strukturen überhaupt flexibel sein? Mit ihrem zähen Ringen um Kompromisse? Mit ihrem Dauerkonflikt zwischen Brüssel und den Mitgliedsstaaten? Die Antworten des niederländischen Historikers und Philosophen laufen auf ein lapidares Ja hinaus. Dafür nimmt er den Leser mit auf eine Reise durch die Geschichte der europäischen Einigung. Hinter dem abschreckend langweiligen Titel "Vom Kontinent zur Union" ist ihm dabei einer der klügeren Beiträge zur Debatte über die Zukunft Europas gelungen. Denn van Middelaar sucht jenseits des klassischen Konflikts zwischen europäischer Gemeinschaft einerseits und nationaler Souveränität andererseits nach einer Antwort. Und er findet, was er das Geheimnis des Tisches nennt.
Der Europäische Rat ist der Ort für gemeinsame wie staatliche Interessen
Dieser Tisch ist jener, um den sich die Mitgliedsstaaten versammeln, entweder in der Runde von Ministern oder in der von Staats- und Regierungschefs, die unter dem Namen Europäischer Rat bekannt ist. Diesen Tisch gibt es seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaften vor 60 Jahren. Und er ist seitdem nie in die europäische Rumpelkammer verschoben worden. Damit entlarvt van Middelaar so nebenbei die Brüsseler Klage über eine Renationalisierung der europäischen Politik als wenig faktenbasiert. Die Mitgliedsländer haben nie die Macht aus den Händen gegeben. Ihr Tisch war und ist der, an dem die entscheidenden Karten ausgespielt werden. Wer sich ein wenig mit der Geschichte der EU beschäftigt hat, der weiß das. Das Geheimnis des Tisches, von dem Middelaar redet, liegt aber woanders. Er nennt es die "europäische Zwischensphäre". Damit beschreibt er einen Ort zwischen dem institutionalisierten Europa, also den Brüsseler Interessen an immer mehr Europa auf der einen, und den Interessen der Nationalstaaten am Bewahren ihrer zentralen Souveränitäten auf der anderen Seite. Dieser Ort sei zwar weit weg von der Idee der Vereinigten Staaten von Europa. Aber an diesem Ort spielen dennoch nicht nur nationale Interessen eine Rolle.
"Begriffe wie 'politischer Wille' sind irreführend. Als könnte man solch einen Willen losgelöst von der Form betrachten, in der er sich ausdrückt. Man braucht einen Ort, wo ein gemeinsamer Wille Gestalt annehmen kann. In der Union ist dieser Ort der Europäische Rat."
Wer im Europäischen Rat sitzt, kann später nicht über Brüssel schimpfen
Die Betonung liegt hier auf gemeinsamem Willen. Ein Regierungschef, der sich an diesen Tisch setzt, schlüpft in eine Doppelrolle. Er ist, wie Middelaar sehr fein analysiert, Vertreter seiner Nation und Europäer zugleich. Indem er den europäischen Willen am gemeinsamen europäischen Tisch mitformuliere, übernehme er zugleich europäische Verantwortung. Mit anderen Worten: Wer an diesem Tisch gesessen und mitbeschlossen hat, der kann zu Hause nicht mehr mit dem Finger anklagend auf Brüssel zeigen. In der Eurokrise hat sich das gezeigt, als der Europäische Rat die Sache in die Hand nahm. Da stahl sich keiner aus der gemeinsamen Verantwortung heraus.
Dabei gibt es einen wichtigen Nebeneffekt. Indem die Regierungschefs sich auf eine gemeinsame Position einigen, sichern sie diese zugleich bei ihren Völkern ab. Angela Merkel und ihre Kollegen konnten die Rettungsmilliarden für Griechenland nur deswegen über die nationalen Hürden bringen, weil sie die Entscheidungen getroffen hatten und nicht die Behörde in Brüssel. Der Tisch wirkt laut Autor also auf doppelte Weise europäisch: Er produziere europäische Gemeinsamkeit und er sichere sie national ab. Anders gesagt: in der Krise steckt also durchaus das Potential, Europa zu stärken. Gewiss, wenn Wünschen helfen würde, dann wäre die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa die beste Methode, den Herausforderungen zu begegnen. Aber die europäische Realität sei nun mal nicht so, schreibt van Middelaar:
"Die Mitgliedsstaaten wollen kein Europa, das sich wie ein politischer Körper mit eigenem Willen ohne sie erneuern kann. Eine solche Emanzipation wäre zwar tatsächlich ein neuer Gründungsmoment für Europa, sie würde aber zugleich das Ende der unabhängigen Staaten bedeuten. Die Staaten werden jedoch niemals verschwinden."
Er schlägt eine Schneise in den europäischen Gedankenwirrwarr
Was er hier beschreibt, ist die nüchterne europäische Wirklichkeit. Wer die akzeptiert und wer sich zugleich dem Geheimnis des europäischen Tisches nicht verschließt, der hört auf, seine Kräfte in einem sinnlosen Stellungskrieg zwischen Brüssel und Nationalstaaten zu vergeuden. Das wäre ein erster, wichtiger Schritt, mit den europäischen Turbulenzen fertig zu werden. Luuk van Middelaar bietet dafür keine praktischen Lösungen an. Aber er tut etwas viel Wichtigeres: Er schlägt eine Schneise in den europäischen Gedankenwirrwarr. Und einen klaren Kopf muss haben, wer die Probleme Europas anpacken will. Das gilt für die europäischen Völker nicht weniger als für die Politiker, die für ihre Nation und für das gemeinsame Europa zugleich Verantwortung tragen.
Luuk van Middelaar: "Vom Kontinent zur Union. Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa"
Suhrkamp Verlag, 608 Seiten, 28 Euro.
Suhrkamp Verlag, 608 Seiten, 28 Euro.