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Europäische Union
"Nicht gut, dass Kritik direkt als Europa-Bashing skandalisiert wird"

Europa sei ein politischer Raum geworden, in dem eben Ressourcen verteilt und Entscheidungen gefällt würden, die nicht jedem passten, sagte Politologe Timm Beichelt von der Universität Viadrina im DLF. Insofern sei es klar, dass Bürger, Journalisten und Wissenschaftler sich damit befassen würden, was in Brüssel nicht gut laufe.

Timm Beichelt im Gespräch mit Mario Dobovisek |
    Flaggen der Europäischen Union vor dem Gebäude der Europäischen Kommission in Brüssel, Belgien (14.5.2012)
    Die Arbeitsfähigkeit sei in der Tat gegeben, sagte Timm Beichelt von der Universität Viadrina. (picture alliance / dpa / CTK Photo / Vit Simanek)
    Mario Dobovisek: Der EU-Gipfel in Brüssel, normalerweise endet er mit einer gemeinsamen Erklärung der Staats- und Regierungschefs, auch wenn der Weg hin zu ihr oft steinig ist, die eine oder andere Nachtsitzung erfordert und das Ergebnis am Ende vielleicht nicht ganz so konkret ist, wie es sich manch Gipfelteilnehmer vorstellt. Doch im Streit mit Polen und dem Posten von Ratspräsident Tusk blockierte Warschau gemeinsame Beschlüsse und es gab bloß eine Erklärung des EU-Ratspräsidenten.
    Am Telefon begrüße ich Timm Beichelt, Politikwissenschaftler an der Europauniversität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Ich grüße Sie, Herr Beichelt.
    Timm Beichelt: Ja, guten Tag.
    Dobovisek: Die EU der 28, der 27, der 26 ohne gemeinsame Gipfelerklärung gestern, heute im informellen Rund ohne Großbritannien, ist das bereits die EU der Zukunft, die wir da gerade erleben, die EU der Blockaden, des Trotzigen?
    Beichelt: Das wäre überzogen, das so zu interpretieren. Man hat eine EU der 27, die sich abzeichnet, weil sich Großbritannien ja dafür entschieden hat, auszutreten. Aber bei allem Theaterdonner, den es da gestern gegeben hat, zeichnet sich, glaube ich, nicht ab, dass Polen auch aus eigenem Interesse jetzt der nächste Kandidat für einen Austritt wäre.
    "Da steckt eigentlich ein moralischer Konflikt in der polnischen Politik hinter"
    Dobovisek: Schauen wir uns doch gemeinsam den Theaterdonner an, den Sie beschrieben. Was steckt aus Ihrer Sicht dahinter?
    Beichelt: Da steckt eigentlich ein moralischer Konflikt in der polnischen Politik hinter. Im April 2010 ist ja das Flugzeug mit dem damaligen Staatspräsidenten und vielen hohen Generälen abgestürzt, in Russland, in Smolensk, und die waren auf dem Weg zur Gedenkfeier für Katyn. Das ist ein Ereignis gewesen im Zweiten Weltkrieg, wo über 4.000 Polen und viele von denen Offiziere erschossen wurden, durch die Sowjetunion, von Stalin befohlen. Über diesen Akt gibt es sehr viel Streit, moralischen Streit, wertgeladenen Streit in Polen, und Tusk und Kaczynski befinden sich da sozusagen in unterschiedlichen Lagern und daher dieser tiefe Dissens.
    Dobovisek: Da wird von Todfeindschaft gesprochen. Sehen Sie das auch?
    Beichelt: Das müssen die beiden entscheiden. Es ist ein tiefer moralischer Konflikt, weil die Frage natürlich in der polnischen Politik, in der polnischen Öffentlichkeit debattiert wird, wie geht man mit diesem Massenmord um. Wenige Tage vor Smolensk hatte sich damals Tusk als Premierminister mit Putin getroffen, an den Gräbern in Katyn, und schon damals war die polnische Opposition - eben damals Kaczynski - sehr stark dagegen, dass Polen, die polnische Regierung so stark auf Russland zugeht. Und dann, drei Tage später passiert dieser Absturz. Das ist natürlich ein Szenario, wo sich sehr viel verdichtet, und insofern ist es vielleicht fast verständlich, dass der Streit so tief ist. Ob man ihn unbedingt auf die EU-Ebene tragen muss, ist natürlich eine andere Frage.
    Dobovisek: Also am Ende ein innenpolitisches Getöse auf dem Rücken der Gemeinschaft, auf dem Rücken der Europäischen Union. Aber sehen Sie das genauso wie Österreichs Bundeskanzler Christian Kern, der das Ganze als Episode bezeichnet, oder steckt da mehr dahinter?
    Beichelt: Das kann man erst in der Zukunft sagen. Aber ich hätte schon gewisse Hoffnungen, weil Episoden, Streitigkeiten, Befindlichkeiten von diesem Gewicht hat es in der EU-Geschichte dutzendfach schon gegeben. Und ich sehe jetzt auch nicht unbedingt, dass Polen, die polnische Regierung das Rieseninteresse hat, sich aus der EU zu verabschieden und dann auch als konstruktiver Partner vollständig auszufallen. Deswegen glaube ich auch, dass sich das früher oder später und eher früher als später legen wird.
    "Europa ist ein politischer Raum geworden"
    Dobovisek: Weiten wir ein bisschen den Blick, schauen auf die EU insgesamt. Angela Merkel freut sich heute darüber, dass der Rat arbeitsfähig sei, gewissermaßen Zweckoptimismus ohne wirklich spürbare Euphorie dabei. EU-Kommissar Moscovici forderte heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk auf, das Europa-Bashing zu stoppen und zu bekämpfen. Hat er Recht damit? Meckern wir insgesamt zu viel über die EU und machen sie dadurch schlechter als sie ist?
    Beichelt: Das sind jetzt zwei Aspekte. Ich glaube, die Arbeitsfähigkeit, die ist in der Tat gegeben. Die Erklärungen des Europäischen Rates sind doch auch irgendwo interne Arbeitspapiere. Das würde man in Brüssel jetzt nicht so gerne hören, aber ich glaube nicht, dass mehr als fünf Prozent der Bevölkerung in Europa überhaupt wissen, was diese Erklärung bedeutet. Dann gibt es noch formelle und nur von der Ratspräsidentschaft und so weiter. Da werden Arbeitsaufträge an den Rat dann ohne die Ministerpräsidenten oder Premierminister oder Präsidenten erteilt und die Arbeitsfähigkeit ist damit gegeben. Inwiefern es jetzt ein Europa-Bashing gibt, na ja, Europa ist ein politischer Raum geworden. In dem werden Ressourcen verteilt, es werden politische Entscheidungen gefällt, die Teilen von Bevölkerungen in Mitgliedsstaaten nicht passen. Insofern ist es irgendwie klar, dass man als Bürger, als Journalisten, als Wissenschaftler sich auch damit befassen kann, was in Brüssel vielleicht nicht so gut läuft. Deswegen finde ich eigentlich nicht gut, dass alles, was an Kritik kommt, direkt als Europa-Bashing skandalisiert wird.
    Dobovisek: Nun beugen sich die Staats- und Regierungschefs der verbliebenen 27 ja heute darüber, was sie Ende des Monats gemeinsam erklären wollen zum 60-jährigen Jubiläum der Römischen Verträge. Eine gemeinsame Erklärung soll es geben, eine zukunftsweisende sozusagen. Was erwarten Sie von dieser Erklärung?
    Beichelt: Die Erklärung fällt ja in eine größere Diskussion. Eigentlich seit die Verfassung Europas diskutiert wurde und dann verworfen wurde, gibt es immer wieder die Frage, wie soll es mit Europa weitergehen, und die Kommission hat vor wenigen Wochen, vor wenigen Tagen eigentlich ein Weißbuch zur Zukunft Europas vorgelegt. Da werden verschiedene Szenarien skizziert, wie sich die Europäische Union weiterentwickeln soll. Und die Erklärung dann zum 25. März ist eigentlich ein Ausdruck der Meinungsbildung des Europäischen Rates, wie sich die Regierungschefs zu diesen Szenarien stellen.
    "Es gibt unterschiedliche Meinungen, aber sie lösen sich nicht in ein Szenario auf"
    Dobovisek: Glauben Sie, dass da eine Einigkeit herrschen kann? Das was wir bisher gehört haben von den fünf Szenarien, von einer Wirtschaftsgemeinschaft hin zu einer Wertegemeinschaft, politische Gemeinschaft was auch immer, konzentrische Kreise, unterschiedliche Geschwindigkeiten, gibt es da Einigkeit im Europäischen Rat zwischen den Staats- und Regierungschefs?
    Beichelt: Nein, da gibt es bestimmt keine Einigkeit. Es sind ja fünf Szenarien, von denen sind manche nur aufgebaut als Hypothesen. Es gibt zwei Szenarien, die ernsthaft zur Debatte stehen. Eines heißt, wer mehr will tut mehr. Das heißt, dass sich einzelne Mitgliedsstaaten stärker zusammentun können, zum Beispiel in der Sozialpolitik oder Politik der inneren Sicherheit. Das ist das eine Szenario und das andere heißt weniger, aber effizienter. Da wird angesprochen, dass bestimmte Kompetenzen an die Mitgliedsstaaten zurückgehen sollen. Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich die Regierungen und die schließen sich auch nicht unbedingt aus. Man kann ja sagen, in einigen Bereichen gibt es eine Vertiefung, in anderen Bereichen wird aber tatsächlich an die Nationalstaaten was zurückgegeben, und das ist im Grunde genommen ein Diskussionsprozess. Vielleicht ein Wort noch. Das Problem bei diesem Diskussionsprozess ist, dass er eigentlich schon 2001 und 2005 und 2007 und 2009 und so weiter initiiert wurde, und wer immer weiter diskutiert und nie zu einem Ergebnis kommt, der wird dann auf Dauer auch nicht mehr ernst genommen. Das ist ein bisschen das Problem. Es gibt unterschiedliche Meinungen, aber sie lösen sich nicht in ein Szenario auf.
    Dobovisek: … sagt Timm Beichelt, Politikwissenschaftler an der Viadrina in Frankfurt/Oder. Ich danke Ihnen für diese Analyse.
    Beichelt: Ja, auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.