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Europäische Union
Populisten erschöpfen, nicht besiegen

Freiheit und Wohlstand für alle: Mit diesem Ziel haben die Osteuropäer den Untergang des Kommunismus und die Aufnahme in die EU begrüßt. Doch inzwischen vertrauen viele eher Populisten als den Experten aus Brüssel - auch im Westen. Die Hintergründe dieses Wandels macht der bulgarische Politologe Ivan Krastev in "Europadämmerung" deutlich.

Von Matthias Bertsch |
    Flaggen wehen vor dem Europaparlament in Straßburg
    Zu den Gewinnern in Europa, so Krastev, gehören die "meritokratischen Eliten", also jene gut ausgebildeten Eliten, die heute in Berlin und morgen in London leben und arbeiten, aber dabei weitgehend unter sich bleiben. (Bild: EP)
    "Ich gehöre zu denen, die glauben, dass der Desintegrationszug den Brüsseler Hauptbahnhof bereits verlassen hat und die befürchten, dass dies den Kontinent in Unordnung stürzen und zu globaler Bedeutungslosigkeit verdammen wird. An die Stelle einer mitfühlend-toleranten und offenen wird dadurch wahrscheinlich eine von tyrannischer Engstirnigkeit geprägte Gesellschaft treten."
    Ivan Krastev macht bereits in der Einleitung seines Essays "Europadämmerung" klar, wohin die Reise geht. Das Bild ist deutlich: hier das helle, menschenfreundliche Projekt Europa, dort der dunkle, menschenfeindliche Nationalismus. Oder in den Titelüberschriften der beiden Großkapitel: "Wir, die Europäer" und "Sie, das Volk", wobei man letzteres auch einfach mit "die Rechtspopulisten" übersetzen kann. So weit, so klar - aber nur scheinbar.
    Denn der große Gewinn, mit dem man das Buch lesen kann - "Europadämmerung" bietet keine in sich konsistente Theorie, sondern ein Feuerwerk anregender Gedanken - besteht darin, dass es das einfache "gut-böse-Schema" mit guten Gründen in Frage stellt. Im Zentrum der Erschütterungen, die Europa derzeit erlebt, liegt die Flüchtlings- oder Migrationskrise.
    "Die Migrationskrise konfrontiert den Liberalismus mit einem für seine Philosophie zentralen Widerspruch. Wie lassen sich unsere universellen Rechte mit der Tatsache vereinbaren, dass wir sie als Bürger ungleich freier und wohlhabender Gesellschaften genießen?"
    Diktat des globalen Vergleichs
    Die Ungleichheit an sich ist dabei weniger das Problem als die Tatsache, dass heutzutage alle von dieser Ungleichheit wissen.
    "Die Ausbreitung des Internets ermöglicht es jungen Afrikanern oder Afghanen, sich mit ein paar Mausklicks anzusehen, wie die Europäer leben und wie ihre Schulen und Krankenhäuser funktionieren. Die Globalisierung hat die Welt in ein Dorf verwandelt, aber dieses Dorf lebt unter einem Diktat - dem Diktat des globalen Vergleichs. Die Menschen vergleichen ihr Leben kaum noch mit dem ihrer Nachbarn, sondern mit dem der wohlhabendsten Bewohner des Planeten."
    Deswegen wird die Zuwanderung in die EU auch in Zukunft kaum nachlassen. Das aber verändert die demographische Zusammensetzung der europäischen Gesellschaften oder Völker, was viele Menschen vor allem in Mittel- und Osteuropa mit Sorge erfüllt.
    Angst vor "ethnischem Verschwinden"
    "Angst vor ethnischem Verschwinden lässt sich in vielen kleinen Ländern erkennen. Aus Sicht ihrer Bewohner signalisiert die Ankunft von Migranten den Austritt aus der Geschichte. Und das beliebte Argument, ein alterndes Europa sei auf Zuwanderer angewiesen, verstärkt nur die wachsende existenzielle Melancholie."
    Man mag Melancholie als bloße Gefühlsduselei abtun. Und doch erfasst Krastev damit die Realität in weiten Teilen Europas besser als viele andere zeitgenössische Diagnosen. Das mag daran liegen, dass er nicht nur ein kosmopolitischer Intellektueller ist, sondern auch Bulgare. Anstatt sich, wie in Deutschland weit verbreitet, über die Angst der Mehrheit vor "ethnischem Verschwinden" lustig zu machen, oder diese als rassistisch zu bekämpfen, begegnet er ihr mit einer gewissen Empathie. Wird in hundert Jahren noch jemand bulgarische Geschichte lesen, fragt er, angesichts des rapiden Bevölkerungsrückgangs in Bulgarien.
    "In der Politik bedrohter Mehrheiten ist demokratisches Denken ein demographisches Denken. Die Nation ist - ähnlich wie Gott - einer der Schutzschilde der Menschen gegen den Gedanken der Sterblichkeit. Die Hoffnung, auch nach unserem Tod weiterzuleben, ist dem Gedächtnis unserer Familie und unserer Nation eingeschrieben. Das einsame Individuum ist auf andere Weise sterblich, als der Mensch, der einer bestimmten Gruppe angehört."
    Werte, aber welche?
    Es sind diese tief sitzenden Ängste, auf die die Verfechter der offenen Gesellschaft keine Antwort geben. Sie beschwören die Freiheit des Individuums und die Werte-Gemeinschaft Europa, doch sie verschweigen meist, dass es sich dabei in erster Linie um materielle Werte handelt. Solange die EU an ihre Mitgliedsstaaten genug zu verteilen hatte, stand sie hoch im Kurs. Doch das ändert sich rapide, seit deutlich wird, dass sie vor allem ein Global Player im internationalen Wettbewerb ist und, wie in jedem Wettbewerb, Gewinner und Verlierer produziert.
    Zu den Gewinnern, so Krastev, gehören die "meritokratischen Eliten", also jene gut ausgebildeten Eliten, die heute in Berlin und morgen in London leben und arbeiten, aber dabei weitgehend unter sich bleiben. Ganz anders die Populisten, die Solidarität versprechen.
    "Wo meritokratische Eliten die Gesellschaft als eine Schule begreifen, in der lauter Einserschüler um Stipendien konkurrieren, während die Schulabbrecher auf der Straße kämpfen, verstehen Populisten die Gesellschaft als eine Familie, deren Mitglieder einander nicht nur deshalb unterstützen, weil alle es verdienen, sondern, weil alle etwas gemeinsam haben."
    Ein verlockendes Versprechen, doch der bulgarische Politologe lässt keinen Zweifel daran, dass die Stammessolidarität für ihn nicht das prägende Moment der EU sein darf. Wie aber lässt sich der anfangs erwähnte Desintegrationszug noch stoppen? Ein Patentrezept hat Krastev nicht:
    Freier Handel nicht alles
    "Während die meisten Beobachter fragen, wie der Populismus besiegt werden kann, lautet die angemessene Frage in meinen Augen, wie wir mit seiner Gefährlichkeit umgehen sollen. Nur Kompromissbereitschaft wird die Wahrscheinlichkeit eines Überlebens der EU erhöhen. Die EU sollte nicht versuchen, ihre zahlreichen Feinde zu besiegen, sondern sie zu erschöpfen und dabei gelegentlich auch Teile ihrer Politik - einschließlich der Forderung nach gut geschützten Außengrenzen - und sogar einige ihrer Einstellungen zu übernehmen. Freier Handel ist nicht immer ein Win-win-Spiel."
    Dass der freie Handel nicht das letzte Wort haben darf, davon ist auch Thomas Piketty überzeugt. Um die Entfremdung zwischen Bürgern und Institutionen der EU nicht noch größer werden zu lassen, schlägt der französische Ökonom in seinem neuen Büchlein "Für ein anderes Europa. Vertrag zur Demokratisierung der Eurozone" die Einrichtung einer Parlamentarischen Versammlung vor. Sie soll als Gegengewicht zur europäischen Finanzbürokratie, die bislang das Sagen hat, für die Länder des Euro Gesetze in den Bereichen Wachstum und Beschäftigung erlassen und so dem
    Ein wichtiges Anliegen, doch Pikettys Buch ist nicht nur ein Vertragsentwurf, sondern hat auch den Charme eines solchen und liest sich entsprechend holprig.
    Krastevs Europadämmerung dagegen mag man gar nicht zur Seite legen, obwohl auch sein Essay ein großes Manko hat: das Ausblenden der ökologischen Frage. Dass die EU und ihre Bürger durch ihren Lebensstil den Klimawandel wesentlich mit verursachen und damit auch Flüchtlinge produzieren, kommt bei Krastev schlicht nicht vor.
    Ivan Krastev: "Europadämmerung. Ein Essay."
    Suhrkamp Verlag, 143 Seiten, 14 Euro
    Stéphanie Hennette, Thomas Piketty, Guillaume Sacriste, Antoine Vauchez: "Für ein anderes Europa. Vertrag zur Demokratisierung der Eurozone"
    C.H.Beck, 89 Seiten, 10 Euro