Jürgen Zurheide: Markus Kaim ist derzeit für den German Marshall Fund in Washington. Fangen wir mal an. Welche Lesart gilt denn nun? Was wollte die deutsche Bundesverteidigungsministerin? Erste Variante: Sie will Herrn Pompeo signalisieren, wir tun da mehr. Ich könnte auch sagen, sie biedert sich da an. Oder reagiert sie auf Trump und sagt, na ja, wir müssen mehr tun, weil Trump es nicht mehr tut, und damit ist sie näher bei Macron? Für welche der beiden Varianten entscheiden Sie sich?
Kaim: Ich finde, es ist eher die zweite Variante. Sie setzt damit eine Debatte fort, die ja in Deutschland und Europa seit einigen Monaten oder Jahren bereits läuft. Und in der Analyse sind sich Macron und Annegret Kramp-Karrenbauer eigentlich einig, dass man sich die nächsten Jahre nicht mehr auf die amerikanische Verpflichtung verlassen kann, in dem Umfang wie bisher für europäische Sicherheit zu sorgen, wie die USA das in den letzten 70 Jahren gemacht haben. Der amerikanische Präsident hat in vielfacher Weise den Wert der NATO selber in Zweifel gezogen und hat durch seine Entscheidung, die amerikanischen Truppen aus Nordsyrien abrupt abzuziehen, auch Zweifel erneut an der Verlässlichkeit gegenüber Verbündeten aufkommen lassen.
Das hat jetzt nichts direkt mit Europa zu tun, aber kann in leichter Weise übertragen werden, und dementsprechend gehen beide von der Analyse aus, dass die nächsten Jahre Europa größere Verantwortung in der internationalen Politik zu tragen habe, und die Verteidigungsministerin hat das in einer Reihe von Reden und auch Interviews in den letzten Wochen bereits mehrfach intoniert, dass Deutschland als europäische Führungsmacht in besonderer Art und Weise dafür zur Verfügung zu stehen habe.
Zurheide: Man könnte auch sagen, sie setzt damit eine Debatte fort, die schon bei der Münchner Sicherheitskonferenz vor fünf, sechs Jahren noch vom damaligen Präsidenten Gauck und anderen angestoßen worden ist, die allerdings weitgehend folgenlos geblieben ist, oder?
Kaim: In der Tat. Sie hat ja in ihrer Rede explizit auf die Münchner Sicherheitskonferenz 2014 Bezug genommen, auf den sogenannten Münchner Konsens, der Ausdruck gefunden hat in gleichgerichteten Reden des damaligen Bundespräsidenten Gauck, des damaligen Außenministers Steinmeier und der damaligen Verteidigungsministerin von der Leyen, die alle letztlich mit unterschiedlichen Worten vom selben Blatt gesungen haben, nämlich dahingehend, dass Deutschland mehr Verantwortung in der internationalen Politik zu tragen habe, Deutschland und Europa. Und wenn wir jetzt Revue passieren lassen die letzten fünf Jahre, die seitdem vergangen sind, dann sind doch wahrscheinlich mehr Defizite und Leerstellen zu beklagen als wirklich Aktivposten der deutschen und europäischen Außenpolitik. Damit will ich nicht sagen, dass Deutschland und Europa ein Akteur im globalen Maßstab werden könne und werden solle, aber zumindest in der europäischen Nachbarschaft ist es doch wohl angemessen, sich als Ordnungsmacht zu begreifen.
"Das Reden und das Handeln der amerikanischen Politik fällt auseinander"
Zurheide: Kommen wir noch mal ganz kurz zum Zustand der NATO. Sie haben schon einiges dazu gesagt, dass man da wenig Vertrauen hat. Herr Trump – ich will es mal zuspitzen – ist am Ende nur noch der Chef einer zu bezahlenden Söldnertruppe, also käuflich. Ist das eine zutreffende Beschreibung?
Kaim: Es ist ja eine merkwürdige amerikanische NATO-Politik. Öffentlich, auf der rhetorischen Ebene, qualifiziert Donald Trump und Vertreter seiner Regierung die NATO ab. Sie kritisieren die europäischen Verbündeten für ausbleibende Verteidigungsbeiträge und eine unfaire Lastenteilung. Wenn wir uns die nackten Zahlen anschauen, dann deckt sich das aber nicht mit dieser kritischen Haltung. Die USA reduzieren ihre Truppen in Europa nicht, im Gegenteil erhöhen sie, und erhöhen auch die Zahlungen für die Truppenstationierung von NATO-Truppen in Mittelosteuropa. Das Reden und das Handeln der amerikanischen Politik fällt auseinander, aber das ist keine Gewähr für die nächsten Jahre, weil wenn wir eins gelernt haben aus den drei Jahren von Präsident Trumps Amtszeit, dann sind es doch abrupte unvorhergesehene Politikwechsel. Das ist genau das, was die Europäer auch zu befürchten haben.
Zurheide: Stichwort Wertegemeinschaft. Ich habe es vorhin schon gesagt. Wenn Herr Pompeo davon spricht, wir sind eine Wertegemeinschaft, was hinterlassen solche Sätze bei Ihnen für Einschätzungen?
Kaim: Die sind aus der Bibel der Diplomatie, aber sie haben keinen konkreten Nutzen, und Pompeos Besuch ist ja eher auch nach hinten gerichtet als nach vorne schauend - aus nachvollziehbaren Gründen. Es geht darum, den 30. Jahrestag des Mauerfalls zu begehen, und damit schaut man eher zurück. Wenn man jetzt nach vorne geschaut hätte und sich wirklich noch mal darüber verständigt hätte, was denn deutsche und amerikanische Gemeinsamkeiten in der internationalen Politik sind, dann stellt man doch fest, dass die Momente des Dissenses und die Felder des Konfliktes doch erheblich sind. Die USA haben klargemacht, dass Europa kein Partner der amerikanischen Außenpolitik zurzeit ist, sondern eher als Gegner betrachtet wird, und das bricht sich auch runter auf die Bundesrepublik. Da ist der Streit um die zwei Prozent Verteidigungsausgaben eigentlich nur eines von vielen Beispielen.
Zurheide: Dann denken wir jetzt mal nach vorne. Wenn es denn eine europäische Reaktion geben könnte, müsste, sollte, wenn wir Macron und Kramp-Karrenbauer weiterdenken, was sind die Grundlinien einer solchen gemeinsamen Außen- und auch möglicherweise Verteidigungspolitik?
Kaim: Erste Pflöcke sind ja eingeschlagen mit den Bemühungen, die die Europäische Union seit zwei, drei Jahren im Bereich der GSVP, der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik angestrebt hat, allen voran im Bereich der Fähigkeitsentwicklung, wo es darum geht, die europäischen militärischen Fähigkeiten zu verbessern und besser zu koordinieren und entsprechende Anschaffungen besser aufeinander abzustimmen. Aber selbst wenn Europa hervorragende militärische Fähigkeiten hat, dann bleibt doch eine Leerstelle, nämlich die Frage, was der politische Überbau ist, um diese militärischen Fähigkeiten auch einzusetzen.
Damit hat, glaube ich, Emmanuel Macron einen wichtigen Hinweis geliefert. Über kurz oder lang, wenn Europa ein Pol in der internationalen Politik zu sein gedenkt, führt an einem Integrationsschritt kein Weg vorbei. Wir haben die Vorschläge für eine europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion, aber das müsste mal ausbuchstabiert werden, wie denn wirklich eine Vergemeinschaftung im Sinne einer europäischen Armee wirklich in den nächsten Jahren auszusehen hat – und das in einem Umfeld, in dem die europäische Integration ja gerade sehr kritisch in vielen Mitgliedsstaaten begleitet wird.
"Über kurz oder lang wird man an den USA nicht vorbeikommen"
Zurheide: Das heißt, Herr Macron ist da ein sehr aktiver Spieler, und versucht Frau Kramp-Karrenbauer – jetzt kommen wir auf sie wieder zurück – möglicherweise sich da anzubieten – allerdings auf einem Feld, was wieder innenpolitisch sehr vermint ist?
Kaim: Emmanuel Macron hat ja auch mit seinen Vorschlägen, die er in dem Interview unterbreitet hat, zur strategischen Autonomie Europas eine Grundlinie französischer Außen- und Sicherheitspolitik der letzten 50 Jahre intoniert. Die deutsche Politik ist, glaube ich, an dieser Stelle etwas vorsichtiger – aus nachvollziehbaren Gründen. Weil tatsächlich, wenn Europa im Bereich der Sicherheit und Verteidigung eine strategische Autonomie, eine Eigenständigkeit erreichen will, dann muss man realistisch sein. Das wird 20, 25 Jahre dauern und dann steht die Frage im Raum, wer denn für diese Zeit die europäische Sicherheit gegenüber externen Bedrohungen zu garantieren vermag. Das heißt, über kurz oder lang wird man an den USA nicht vorbeikommen, so schwierig das mit dem gegenwärtigen Präsidenten auch ist, und das stellt die deutsche Politik meines Erachtens, glaube ich, etwas klarer in Rechnung, als das die französische Politik tut.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.