"Die wirtschaftliche Situation in Europa ist allgemein als schlecht zu bezeichnen. Insbesondere wenn sie die Lissabon-Strategie als Maßstab nehmen, muss man sagen, dass die Situation heute sich schlechter darstellt als im Jahr 2000, als die Lissabonstrategie ausgerufen wurde. Zum Beispiel haben wir in der EU heute eine höhere Arbeitslosenrate als wir das 2000 hatten.
Wenn Sie die großen globalen Wettbewerber nehmen, USA, Japan, natürlich China und Indien, sind die alle in den letzten vier Jahren reicher geworden und wir stehen jetzt relativ schlechter da. "
Folker Franz vom Europäischen Industrieverband Unice bringt es auf den Punkt. Der Europäischen Wirtschaft geht es schlecht. Das durchschnittliche Wirtschaftswachstum in den 25 EU-Staaten lag im vergangenen Jahr bei gerade mal 2,3 Prozent. 2003 waren es sogar nur 0,9 Prozent. Die Arbeitslosenquote ist seit dem Jahr 2000 von 8,8 auf 9 Prozent gestiegen.
Das Wachstum in Europa will nicht so recht in Gang kommen. Während die USA und Asien sich langsam wieder auf einem aufsteigenden Ast befinden, bleibt Europa immer weiter hinter den Wettbewerbern zurück. Das amerikanische Wachstum ist von 2000 bis 2004 immerhin um einen Prozentpunkt auf knapp drei Prozent gestiegen.
Es sind vor allem die großen, einst wirtschaftlich so starken Mitgliedsländer, die die europäischen Durchschnittwerte nach unten ziehen. Wirtschaftsexperte Folker Franz:
" Alle nordischen Länder, Island, Finnland, Norwegen, Schweden, Dänemark, befinden sich alle unter den Top 10 der wettbewerbsfähigsten Länder dieser Erde. Auf der anderen Seite haben Sie insbesondere drei große Länder – und das sind Italien, Frankreich und leider auch Deutschland – bei denen es alles andere als gut aussieht. Und da diese Länder insgesamt gut die Hälfte der europäischen Wirtschaftskraft ausmachen, ziehen sie ganz Europa in einen Sumpf von niedrigem Wirtschaftswachstum und hoher Arbeitslosigkeit. "
In Deutschland beträgt die Arbeitslosenrate knapp zehn Prozent. Das Wirtschaftswachstum lag im vergangen Jahr gerade einmal bei 1,6 Prozent. Die Italiener schafften 1,8 und die Franzosen immerhin 2,2 Prozent. Alle drei liegen damit aber unter dem europäischen Durchschnitt.
Und auch die Staatsfinanzen sind in Deutschland und Frankreich nicht in Ordnung. Bereits zum dritten Mal in Folge überschritten die beiden größten europäischen Volkswirtschaften die magische 3-Prozent-Grenze des Stabilitätspaktes. Der schreibt vor, dass die Staatsverschuldung nicht mehr als drei Prozent am Bruttoinlandsprodukt betragen darf. Die EU-Kommission zweifelt auch in diesem Jahr daran, ob Bundesfinanzminister Eichel das schaffen wird. Eventuell überschreitet Deutschland damit schon zum vierten Mal
die Stabilitätsgrenze.
Die Situation ist katastrophal, obwohl die EU-Staats- und Regierungschefs bereits vor fünf Jahren in Lissabon ein Programm für Wirtschaftswachstum in Europa verabschiedet haben. Das ehrgeizige Ziel: Bis 2010 sollte die Europäische Union zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt werden – selbstverständlich mit Vollbeschäftigung.
Erreicht werden sollte dieser Idealzustand mit der sogenannten "Lissabon-Strategie". Hinter dem Namen verbirgt sich ein ganzes Paket an wirtschaftlichen und sozialen Reformen, die Europa zur Nummer 1 im globalen Wettbewerb machen sollten. Die Begeisterung vor fünf Jahren war groß. Bundeskanzler Gerhard Schröder:
" Lissabon muss begriffen werden als Zeichen für die Ernsthaftigkeit der Europäer, die Herausforderungen der Zukunft, des Wandels der alten Industrie-Gesellschaft zu einer Industrie-Gesellschaft, die vor allen Dingen auf Wissen basiert und die die Informations- und Kommunikationstechnologien deshalb zu Recht in den Mittelpunkt einer industriepolitischen Strategie stellt. Diese Ernsthaftigkeit, diesen Wandel zu Kenntnis zu nehmen und den Herausforderungen zu begegnen ist hier eindrucksvoll deutlich geworden. "
Um diese neue Wissensgesellschaft aufzubauen, einigten sich die EU-Staats- und Regierungschefs auf eine umfangreiche Liste, die nahezu alle Bereiche des wirtschaftlichen Handels umfasste. Dazu gehörte:
Die vollständige Liberalisierung der Märkte für Elektrizität und Gas
Die Schaffung eines einheitlichen europäischen Luftraumes mit den gleichen Regeln und Sicherheitsbestimmungen in allen Mitgliedsstaaten sowie die Entwicklung einer gemeinsamen Strategie für die Nutzung des Weltalls.
Die Anhebung der Staatsausgaben für Forschung und Entwicklung auf mindestens drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Mehr Engagement für neue Technologien!
Abbau der Bürokratie sowohl in den EU-Institutionen als auch in den Mitgliedsstaaten.
Eine bessere Regulierung der Wirtschaft.
Die Einführung eines Gemeinschaftspatents zur Stärkung der europäischen Innovationskraft.
Höhere Ausgaben für Bildung und Wissen! Lebenslanges Lernen!
Europa sah sich vor einem Quantensprung in der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Politiker setzen sich für einen Abschied ein von der subventionierten Industrie-Politik und wollten eine Wissensgesellschaft aufbauen.
Für den britischen Premierminister Tony Blair war das ein Richtungswechsel in der europäischen Wirtschaftspolitik:
" Der Gipfel steht für eine Veränderung der europäischen Wirtschaftspolitik: Weg von der sozialen Regulierungspolitik aus den 80er Jahren – hin zu einem Geist von Innovation, Unternehmertum, Wettbewerbsfähigkeit und natürlich Arbeitsplätzen. Es gibt nicht mehr diesen Harmonisierungs-Wahnsinn, alles angleichen zu wollen. Statt dessen schauen wir auch außerhalb der EU, was gut funktioniert, um die besten Leistungen auch bei uns zu erreichen. "
Die ursprüngliche Strategie für Liberalisierung, Forschung und Entwicklung wurde über die Jahre hinweg immer weiter ausgebaut.: Noch im selben Jahr, 2000, in Nizza, bekamen die Franzosen die von ihnen seit langem geforderte Soziale Agenda und beim Gipfeltreffen 2001 in Göteborg kam ein weiteres Paket mit Umwelt-Maßnahmen hinzu. Und so stützte sich die Lissabon-Strategie letztendlich auf drei Pfeiler: Wirtschaftswachstum, nachhaltige Entwicklung und Sozialer Zusammenhalt.
Die Aufbruch-Stimmung war groß. Europa auf dem Weg in ein neues wirtschaftliches Zeitalter – mit klaren Zielen und überaus positiven Wachstumsprognosen.
Fünf Jahre später – zur Halbzeit-Bilanz - ist von dieser Euphorie allerdings nichts mehr zu spüren. Das muss auch Günter Verheugen eingestehen, der in der neuen EU-Kommission seit November vergangenen Jahres zuständig ist für Industrie und Wettbewerbsfähigkeit – und somit auch für die Lissabon-Reformen.
" Die Lissabon-Strategie von 2000 ist gescheitert und zwar deshalb in erster Linie, weil sie zu viele Prioritäten hatte, die war überladen, und es gab am Ende überhaupt keine echten Prioritäten mehr. Zweitens weil es kein klares Prinzip der Verteilung der Verantwortung gab. "
Tatsächlich hatte die Lissabon-Agenda zum Schluss 120 Zielvorgaben. Nur wenige sind bis zur Halbzeit umgesetzt worden. Die meisten Vorhaben dagegen blieben stecken: Zum Beispiel das Gemeinschaftspatent, das eigentlich ab 2001 gelten sollte, ist noch immer nicht verabschiedet worden.
Und selbst bei den bereits beschlossenen Richtlinien lässt die Mitarbeit der Mitgliedsstaaten bisher zu wünschen übrig. Zahlreiche bereits abgesegnete Maßnahmen werden schlichtweg nicht in nationales Recht umgesetzt. Ihre Wirkung ist also gleich null.
Hintergrund: Bei Richtlinien gibt die Europäische Union zwar ein Ziel vor, aber es bleibt jedem Mitgliedsstaat selbst überlassen, wie er dieses Ziel erreicht. Folker Franz vom Unternehmerverband Unice nennt ein Beispiel:
" Wir haben sehr oft Beschwerden aus der europäischen Unternehmer-Gemeinschaft, dass die Energiepreise in Europa, in Deutschland im besonderen, noch viel zu hoch sind. Warum sind die so hoch? Weil in vielen Ländern die Energie-Liberalisierungs-Richtlinie nicht umgesetzt worden ist, die wieder Konkurrenz auf dem Strom- und Elektrizitätsmarkt schaffen würde. Das kommt als Kostenfaktor bei der Produktion hinzu. Und wenn Sie den enormen Konkurrenzdruck auf globaler Ebene hinzu nehmen, hat das durchaus Auswirkungen. "
Die Liste solcher Versäumnisse ist lang: Deutschland, Belgien, Frankreich, Österreich, Estland und Schweden haben etwa die Richtlinie für gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen noch nicht umgesetzt. Für die Unternehmen bedeutet diese Trägheit oft eine Steigerung der Produktions- und Personalkosten und damit eine Verschlechterung ihrer Position im internationalen Wettbewerb.
Während also die EU die Umsetzung ihrer Reformen nicht schaffte, kamen auf dem Weltmarkt neue Herausforderungen hinzu. Billiglohnländer wie China und Indien traten auf den Plan. Der EU drohte ein noch rascherer Abstieg in die zweite Liga. Die lasche Strategie von 2000 reichte nicht mehr aus, um diesen Abstieg zu verhindern. Das blieb auch der EU-Kommission nicht verborgen.
Der ehemalige Präsident Romano Prodi ließ deshalb die Fortschritte und Defizite des Programms von Experten untersuchen. Im vergangenen November legte die zuständige Sachverständigengruppe ihren Bericht vor. Das Ergebnis war ernüchternd. Der Vorsitzende der Gruppe Wim Kok bei der Vorstellung der Studie im vergangenen Winter:
" Wir haben nicht nur versagt im Bezug auf das, was wir uns im Jahr 2000 vorgenommen haben. Es sind zusätzlich weitere Herausforderungen hinzu gekommen. Der globale Wettbewerb, die radikalen demografischen Veränderungen und die Folgen der Erweiterung verlangen, dass die Europäische Union endlich handelt – und zwar nicht, um bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum zu werden. Denn das dürfte sehr, sehr schwierig sein. Aber wir müssen endlich handeln, um wenigstens den wirtschaftlichen Standard zu halten, den wir zur Zeit haben. "
Kok ging mit den Mitgliedsstaaten hart ins Gericht. Er warf ihnen vor, leere Versprechungen gemacht zu haben und sich auf Rhetorik zu konzentrieren statt auf konkrete Taten. Die Lissabon-Strategie hatte versagt.
Nicht nur die fehlende Bereitschaft der Mitgliedsstaaten zum Umdenken wurde zum Problem der Reform.
Für Carlos Buhigas, der für das Brüsseler Wirtschaftsinstitut "European Policy Center" die Lissabon-Strategie untersucht hat, kommt noch ein ganz anderes Problem hinzu. Das Programm ist bisher nicht bei den Bürgern angekommen:
" Das größte Problem der Lissabon-Strategie ist, dass sie über die Zusammenarbeit von Regierungsbeamten hinausgehen muss. Die Menschen müssen davon erfahren. Das wurde völlig vernachlässigt in den vergangenen fünf Jahren. Lissabon impliziert eine totale Veränderung, wie wir arbeiten und leben. Und weil das so eng mit unserem täglichen Leben verknüpft ist, sollten wir, die Bürger, viel mehr Informationen von unseren Regierungen verlangen. Das Wichtigste ist, eine öffentliche Diskussion zu fordern, die bisher noch überhaupt nicht stattgefunden hat. "
Eine Debatte, die jetzt endlich – nach fünf Jahren - in Gang kommen soll. Zunächst zwischen den Europäischen Institutionen und den Regierungsvertretern in Brüssel – dann bei den Gewerkschaften und anderen sozialen Partnern in den Mitgliedsstaaten. Die Lissabon-Strategie soll so im Mittelpunkt der Europa-Politik stehen.
Die neue Kommission, seit November im Amt, erklärte sich kurzerhand zur Lissabon-Kommission. Ihr Präsident José Manuel Barroso versprach im Dezember bei seiner Antrittsrede im Europäischen Parlament einen kraftvollen Neuanfang:
" Wir brauchen keine neue Bibliothek von Untersuchungen über mögliche Verbesserungen. Die gibt es bereits zu genüge. Und die Lissabon-Strategie gibt uns zahlreiche Maßnahmen und Ziele an die Hand. Ich will die Lissabon-Strategie zu einer Top-Priorität der Kommission machen. Eine auf Wissen basierende Wirtschaft wird das Herz dieser Strategie sein. "
Anfang Februar stellte die Kommission diese Neuauflage der Lissabon-Strategie vor. Sie trägt die Handschrift von Wettbewerbs-Kommissar Günter Verheugen.
" Es ist ein völliger Neustart. Und wir reden auch nicht mehr davon, dass das Ziel der ganzen Unternehmung ist, im Jahr 2010 besser sein zu wollen als die Amerikaner. Die Botschaft, die man wirklich den Menschen in Europa vermitteln muss, ist die: Wir müssen die Ärmel hoch krempeln. Wir müssen uns mehr Mühe geben. Wir müssen besser sein als unsere Wettbewerber. Und ob wir das in fünf Jahren schaffen oder in sechs, das ist nicht so entscheidend. "
Die Ziele sind also bescheidener geworden. Am wichtigsten für die jetzt so genannte "Initiative für Wachstum und Beschäftigung" ist es, Arbeitsplätze zu schaffen. Die Anzahl der Einzel-Maßnahmen wurde heruntergeschraubt. Die Kommission will sich nun nur noch auf zehn Politikfelder konzentrieren.
" Eines heißt zum Beispiel "Zugang zum Arbeitsmarkt". Das reicht dann von Qualifizierungsmaßnahmen bis hin zu der Frage von Ganztagsbetreuungseinrichtungen für Kinder, damit auch alleinerziehende Mütter oder Väter ihre Berufschancen wahrnehmen können. Ein anderes für mich sehr wichtiges ist eine Neuorientierung der europäischen Forschungspolitik und es reicht bis hin zu einem so handfesten, aber wie ich glaube, politisch auch sehr wichtigem Thema, wie Bürokratie-Abbau, Vereinfachung und Verbesserung der Gesetzgebung. "
Unterstützung für die Ausdünnung der Lissabon-Strategie bekamen Barroso und Verheugen von Jean-Claude Juncker, dem Luxemburgischen Ministerpräsidenten und derzeitigem EU-Ratsvorsitzenden. Der kritisierte im Januar die unglaubliche Anhäufung von EU-Programmen:
" Wir haben die allgemeinen Rahmen-Richtlinien für die Wirtschaftspolitik, die Beschäftigungsrichtlinie, die Strategie für nachhaltiges Wachstum, die Strategie für den Binnenmarkt, eine Charta für mittelständige Unternehmen, den Prozess von Köln, den von Cardiff und ich weiß nicht, wie viele noch ... Viele dieser Prozesse sind eingebettet in eine unglaubliche Bürokratie, die sehr oft zu nichts führt. Die Europäische Union gleicht eher einem Büro, dass Untersuchungen produziert, Untersuchungen, die für nichts benutzt werden, außer daraus eine Fabrik von brauchbaren und unbrauchbaren Ideen zu bauen. Wir müssen das ändern, indem wir die Strategie rationalisieren. "
Die Kommission kehrt also zurück zu den traditionellen, ökonomischen Werten "Wachstum" und "Beschäftigung". Diese beiden bilden den ersten Pfeiler der Lissabon-Strategie.
Vor allem die Sozialisten und Grünen im Europäischen Parlament kritisieren deshalb Verheugen und seine Mitstreiter. Die linken Politiker – wie die Grünen-Abgeordnete Rebecca Harms – befürchten, dass die beiden anderen Pfeiler, nämlich die Sozial- und Umweltpolitik, vernachlässigt werden könnten.
" Was uns schwer bestürzt, ist, dass die dritte wichtige Säule in der Lissabonstrategie, nämlich das Ziel, Nachhaltigkeit für Europa zu erreichen, immer weiter in den Hintergrund rückt. Ich habe mich mit dem Aktionsprogramm für Umwelttechnologien beschäftigt. Pro Jahr wächst dieser Sektor zurzeit um fünf Prozent. Wenn dann Verheugen oder Barroso sagen, ehrgeizige Umweltpolitik stünden dem Wachstum in Europa entgegen, dann muss man sagen: Mit den eigenen Zahlen widerlegt die Kommission diese Behauptung. "
Immerhin 30 Prozent beträgt der Anteil der Europäische Union am globalen Markt von Umwelttechnologien. Umgerechnet sind das jährlich 180 Milliarden Euro. Zahlen, die die Kommission nach Ansicht der linken Abgeordneten nicht übersehen darf und, so Kommissar Verheugen, auch gar nicht übersehen will:
" Ich habe mich schon etwas über die Diskussion gewundert, dass die Aussage "Wir wollen für Wachstum und Beschäftigung sorgen" verstanden wird als eine Aussage "Wir tun nichts mehr für die Umwelt und Soziales". Ich halte eine solche Auffassung geradezu für absurd. Wir können nicht für Wachstum und Beschäftigung sorgen, ohne den hohen ökologischen Stand, den wir erreicht haben, weiter auszubauen. Ökologie ist in Europa ein Wachstumsfaktor. Und es kann nicht etwas ökonomisch sinnvoll sein, was ökologisch falsch ist. "
Kurz nach dem "Pakt für Wachstum und Beschäftigung" stellten die zuständigen Kommissare deshalb einen Bericht zu Umweltfragen vor und eine soziale Agenda vor. Diese beiden sollen gemeinsam mit dem Pakt für Wachstum und Beschäftigung Ende des Monats von den Staats- und Regierungschefs der 25 EU-Mitgliedsstaaten verabschiedet werden.
Günter Verheugen ist optimistisch, dass sich die Schlussfolgerungen der Regierungen sehr eng an seinem Entwurf orientieren werden, obwohl die Kommission darin ein stärkeres Engagement der Mitgliedsstaaten verlangt.
Jedes Land soll in Zukunft einen "Mister" oder eine "Misses" Lissabon benennen. Der oder die soll die Umsetzung der Reformen überwachen und dafür sorgen, dass die auf europäischem Niveau beschlossenen Richtlinien nicht mehr jahrelang in den Pipelines der Verwaltungsapparate liegen bleiben. Außerdem soll jede Regierung ein nationales Lissabon-Programm vorlegen, das auf das jeweilige Land zugeschnitten ist. Schließlich, sagt Verheugen, sei die Situation in der Slowakei eine andere als in Irland.
Ob die Zuversicht des Industrie-Kommissars, dass die Mitgliedsstaaten trotz der neuen Anforderungen seinem Plan zustimmen werden, berechtigt ist, wird sich erst Ende des Monats zeigen. Der Ratsvorsitzende Jean-Claude Juncker hält die Maßnahmen jedenfalls für notwendig und will sich bei seinen Kollegen dafür stark machen.
"Wir wollen, dass die nationale Umsetzung beschleunigt und intensiviert wird. Deshalb schlagen wir vor, dass die Mitgliedsländer Aktionsprogramme erarbeiten, deren Umsetzung dann von den nationalen Parlamenten und den EU-Institutionen gemeinsam überwacht wird. Diese Programme sollten den Reformrhythmus und die Intensität in jedem Land bestimmen. So könnte man auch den bereits durchgeführten Reformen Rechnung tragen. – bis hier. "
Ob die Lissabon-Strategie also in den verbleibenden fünf Jahren doch noch Erfolg haben wird, hängt zu aller erst von den nationalen Regierungen ab. Sie müssen dazu bereit sein, die notwendigen Reformen durchzuführen.
Meistens wäre es sogar schon ausreichend, wenn die Länder bei ihren Nachbarn abschauten. Abschreiben ist erlaubt und sogar erwünscht. Denn Lissabon hat in einigen Ländern bereits positive Reformen begünstigt. Ein besonders guter Schüler ist Dänemark.
Um ein Unternehmen zu gründen, braucht man dort gerade einmal vier Tage. In Deutschland dauert das 45 Tage, in Spanien sogar 108.
Parallel zum Abbau der Bürokratie hat es Dänemark geschafft, seinen Arbeitsmarkt zu flexibilisieren, ohne die soziale Absicherung dadurch zu schwächen. Für Folker Franz vom Europäischen Industrie-Verband ist das ein gelungenes Beispiel der Lissabon-Strategie:
" Im Klartext: In Dänemark ist sehr einfach, jemanden zu feuern aber gleichzeitig, wenn Sie arbeitslos sind, bekommen Sie auch ein recht hohes Arbeitslosengeld. Und durch aktive Arbeitsmarktpolitiken ist die Langzeitarbeitslosigkeit in Dänemark sehr niedrig. Das heißt, es ist ein System, in dem Unternehmen es sich leisten können, einfach mal ein paar Leute einzustellen und gleichzeitig können Arbeitnehmer mit einer gewissen Sicherheit in die Zukunft schauen, weil im Falle einer Entlassung sie nicht vor irgendwelchen sozialen Problemen stehen. "
Und auch die zehn neuen Mitgliedsstaaten zeigen den großen, alten Industrie-Sauriern, was Mut zu Reformen bedeutet. In der Tschechischen Republik läuft gerade eine tief greifende Steuerreform an. Die Regierungen in Deutschland und Frankreich beißen sich an diesem Thema seit Jahren die Zähne aus.
Die Trägheit und die Angst der nationalen Regierungen vor den Konsequenzen von zu schmerzhaften Reformen haben die Lissabon-Strategie bisher gebremst.
Lissabon, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Carlos Buhigas vom European Policy Center, kann deshalb nur dann Erfolg haben, wenn die nationalen Regierungen eine gemeinsame Vision haben, die alle Bereiche umfasst – wie schon das Programm aus dem Jahr 2000.
" Wettbewerbsfähigkeit wird davon abhängen, eine Gesellschaft zu schaffen, die niemanden ausschließt. Und ich glaube, dass der Umweltschutz und die Investitionen in Nachhaltigkeit ein entscheidender Wettbewerbs-Vorteil sind. Da habe ich keine Zweifel. Wir legen viel zu großen Wert auf harte, wirtschaftliche Fakten. Das ist falsch. Man sollte sich nicht immer von Statistiken beherrscht sein. Entweder man hat eine Vision und folgt ihr, oder das Ganze wird in sich zusammenbrechen. "
Wenn Sie die großen globalen Wettbewerber nehmen, USA, Japan, natürlich China und Indien, sind die alle in den letzten vier Jahren reicher geworden und wir stehen jetzt relativ schlechter da. "
Folker Franz vom Europäischen Industrieverband Unice bringt es auf den Punkt. Der Europäischen Wirtschaft geht es schlecht. Das durchschnittliche Wirtschaftswachstum in den 25 EU-Staaten lag im vergangenen Jahr bei gerade mal 2,3 Prozent. 2003 waren es sogar nur 0,9 Prozent. Die Arbeitslosenquote ist seit dem Jahr 2000 von 8,8 auf 9 Prozent gestiegen.
Das Wachstum in Europa will nicht so recht in Gang kommen. Während die USA und Asien sich langsam wieder auf einem aufsteigenden Ast befinden, bleibt Europa immer weiter hinter den Wettbewerbern zurück. Das amerikanische Wachstum ist von 2000 bis 2004 immerhin um einen Prozentpunkt auf knapp drei Prozent gestiegen.
Es sind vor allem die großen, einst wirtschaftlich so starken Mitgliedsländer, die die europäischen Durchschnittwerte nach unten ziehen. Wirtschaftsexperte Folker Franz:
" Alle nordischen Länder, Island, Finnland, Norwegen, Schweden, Dänemark, befinden sich alle unter den Top 10 der wettbewerbsfähigsten Länder dieser Erde. Auf der anderen Seite haben Sie insbesondere drei große Länder – und das sind Italien, Frankreich und leider auch Deutschland – bei denen es alles andere als gut aussieht. Und da diese Länder insgesamt gut die Hälfte der europäischen Wirtschaftskraft ausmachen, ziehen sie ganz Europa in einen Sumpf von niedrigem Wirtschaftswachstum und hoher Arbeitslosigkeit. "
In Deutschland beträgt die Arbeitslosenrate knapp zehn Prozent. Das Wirtschaftswachstum lag im vergangen Jahr gerade einmal bei 1,6 Prozent. Die Italiener schafften 1,8 und die Franzosen immerhin 2,2 Prozent. Alle drei liegen damit aber unter dem europäischen Durchschnitt.
Und auch die Staatsfinanzen sind in Deutschland und Frankreich nicht in Ordnung. Bereits zum dritten Mal in Folge überschritten die beiden größten europäischen Volkswirtschaften die magische 3-Prozent-Grenze des Stabilitätspaktes. Der schreibt vor, dass die Staatsverschuldung nicht mehr als drei Prozent am Bruttoinlandsprodukt betragen darf. Die EU-Kommission zweifelt auch in diesem Jahr daran, ob Bundesfinanzminister Eichel das schaffen wird. Eventuell überschreitet Deutschland damit schon zum vierten Mal
die Stabilitätsgrenze.
Die Situation ist katastrophal, obwohl die EU-Staats- und Regierungschefs bereits vor fünf Jahren in Lissabon ein Programm für Wirtschaftswachstum in Europa verabschiedet haben. Das ehrgeizige Ziel: Bis 2010 sollte die Europäische Union zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt werden – selbstverständlich mit Vollbeschäftigung.
Erreicht werden sollte dieser Idealzustand mit der sogenannten "Lissabon-Strategie". Hinter dem Namen verbirgt sich ein ganzes Paket an wirtschaftlichen und sozialen Reformen, die Europa zur Nummer 1 im globalen Wettbewerb machen sollten. Die Begeisterung vor fünf Jahren war groß. Bundeskanzler Gerhard Schröder:
" Lissabon muss begriffen werden als Zeichen für die Ernsthaftigkeit der Europäer, die Herausforderungen der Zukunft, des Wandels der alten Industrie-Gesellschaft zu einer Industrie-Gesellschaft, die vor allen Dingen auf Wissen basiert und die die Informations- und Kommunikationstechnologien deshalb zu Recht in den Mittelpunkt einer industriepolitischen Strategie stellt. Diese Ernsthaftigkeit, diesen Wandel zu Kenntnis zu nehmen und den Herausforderungen zu begegnen ist hier eindrucksvoll deutlich geworden. "
Um diese neue Wissensgesellschaft aufzubauen, einigten sich die EU-Staats- und Regierungschefs auf eine umfangreiche Liste, die nahezu alle Bereiche des wirtschaftlichen Handels umfasste. Dazu gehörte:
Die vollständige Liberalisierung der Märkte für Elektrizität und Gas
Die Schaffung eines einheitlichen europäischen Luftraumes mit den gleichen Regeln und Sicherheitsbestimmungen in allen Mitgliedsstaaten sowie die Entwicklung einer gemeinsamen Strategie für die Nutzung des Weltalls.
Die Anhebung der Staatsausgaben für Forschung und Entwicklung auf mindestens drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Mehr Engagement für neue Technologien!
Abbau der Bürokratie sowohl in den EU-Institutionen als auch in den Mitgliedsstaaten.
Eine bessere Regulierung der Wirtschaft.
Die Einführung eines Gemeinschaftspatents zur Stärkung der europäischen Innovationskraft.
Höhere Ausgaben für Bildung und Wissen! Lebenslanges Lernen!
Europa sah sich vor einem Quantensprung in der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Politiker setzen sich für einen Abschied ein von der subventionierten Industrie-Politik und wollten eine Wissensgesellschaft aufbauen.
Für den britischen Premierminister Tony Blair war das ein Richtungswechsel in der europäischen Wirtschaftspolitik:
" Der Gipfel steht für eine Veränderung der europäischen Wirtschaftspolitik: Weg von der sozialen Regulierungspolitik aus den 80er Jahren – hin zu einem Geist von Innovation, Unternehmertum, Wettbewerbsfähigkeit und natürlich Arbeitsplätzen. Es gibt nicht mehr diesen Harmonisierungs-Wahnsinn, alles angleichen zu wollen. Statt dessen schauen wir auch außerhalb der EU, was gut funktioniert, um die besten Leistungen auch bei uns zu erreichen. "
Die ursprüngliche Strategie für Liberalisierung, Forschung und Entwicklung wurde über die Jahre hinweg immer weiter ausgebaut.: Noch im selben Jahr, 2000, in Nizza, bekamen die Franzosen die von ihnen seit langem geforderte Soziale Agenda und beim Gipfeltreffen 2001 in Göteborg kam ein weiteres Paket mit Umwelt-Maßnahmen hinzu. Und so stützte sich die Lissabon-Strategie letztendlich auf drei Pfeiler: Wirtschaftswachstum, nachhaltige Entwicklung und Sozialer Zusammenhalt.
Die Aufbruch-Stimmung war groß. Europa auf dem Weg in ein neues wirtschaftliches Zeitalter – mit klaren Zielen und überaus positiven Wachstumsprognosen.
Fünf Jahre später – zur Halbzeit-Bilanz - ist von dieser Euphorie allerdings nichts mehr zu spüren. Das muss auch Günter Verheugen eingestehen, der in der neuen EU-Kommission seit November vergangenen Jahres zuständig ist für Industrie und Wettbewerbsfähigkeit – und somit auch für die Lissabon-Reformen.
" Die Lissabon-Strategie von 2000 ist gescheitert und zwar deshalb in erster Linie, weil sie zu viele Prioritäten hatte, die war überladen, und es gab am Ende überhaupt keine echten Prioritäten mehr. Zweitens weil es kein klares Prinzip der Verteilung der Verantwortung gab. "
Tatsächlich hatte die Lissabon-Agenda zum Schluss 120 Zielvorgaben. Nur wenige sind bis zur Halbzeit umgesetzt worden. Die meisten Vorhaben dagegen blieben stecken: Zum Beispiel das Gemeinschaftspatent, das eigentlich ab 2001 gelten sollte, ist noch immer nicht verabschiedet worden.
Und selbst bei den bereits beschlossenen Richtlinien lässt die Mitarbeit der Mitgliedsstaaten bisher zu wünschen übrig. Zahlreiche bereits abgesegnete Maßnahmen werden schlichtweg nicht in nationales Recht umgesetzt. Ihre Wirkung ist also gleich null.
Hintergrund: Bei Richtlinien gibt die Europäische Union zwar ein Ziel vor, aber es bleibt jedem Mitgliedsstaat selbst überlassen, wie er dieses Ziel erreicht. Folker Franz vom Unternehmerverband Unice nennt ein Beispiel:
" Wir haben sehr oft Beschwerden aus der europäischen Unternehmer-Gemeinschaft, dass die Energiepreise in Europa, in Deutschland im besonderen, noch viel zu hoch sind. Warum sind die so hoch? Weil in vielen Ländern die Energie-Liberalisierungs-Richtlinie nicht umgesetzt worden ist, die wieder Konkurrenz auf dem Strom- und Elektrizitätsmarkt schaffen würde. Das kommt als Kostenfaktor bei der Produktion hinzu. Und wenn Sie den enormen Konkurrenzdruck auf globaler Ebene hinzu nehmen, hat das durchaus Auswirkungen. "
Die Liste solcher Versäumnisse ist lang: Deutschland, Belgien, Frankreich, Österreich, Estland und Schweden haben etwa die Richtlinie für gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen noch nicht umgesetzt. Für die Unternehmen bedeutet diese Trägheit oft eine Steigerung der Produktions- und Personalkosten und damit eine Verschlechterung ihrer Position im internationalen Wettbewerb.
Während also die EU die Umsetzung ihrer Reformen nicht schaffte, kamen auf dem Weltmarkt neue Herausforderungen hinzu. Billiglohnländer wie China und Indien traten auf den Plan. Der EU drohte ein noch rascherer Abstieg in die zweite Liga. Die lasche Strategie von 2000 reichte nicht mehr aus, um diesen Abstieg zu verhindern. Das blieb auch der EU-Kommission nicht verborgen.
Der ehemalige Präsident Romano Prodi ließ deshalb die Fortschritte und Defizite des Programms von Experten untersuchen. Im vergangenen November legte die zuständige Sachverständigengruppe ihren Bericht vor. Das Ergebnis war ernüchternd. Der Vorsitzende der Gruppe Wim Kok bei der Vorstellung der Studie im vergangenen Winter:
" Wir haben nicht nur versagt im Bezug auf das, was wir uns im Jahr 2000 vorgenommen haben. Es sind zusätzlich weitere Herausforderungen hinzu gekommen. Der globale Wettbewerb, die radikalen demografischen Veränderungen und die Folgen der Erweiterung verlangen, dass die Europäische Union endlich handelt – und zwar nicht, um bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum zu werden. Denn das dürfte sehr, sehr schwierig sein. Aber wir müssen endlich handeln, um wenigstens den wirtschaftlichen Standard zu halten, den wir zur Zeit haben. "
Kok ging mit den Mitgliedsstaaten hart ins Gericht. Er warf ihnen vor, leere Versprechungen gemacht zu haben und sich auf Rhetorik zu konzentrieren statt auf konkrete Taten. Die Lissabon-Strategie hatte versagt.
Nicht nur die fehlende Bereitschaft der Mitgliedsstaaten zum Umdenken wurde zum Problem der Reform.
Für Carlos Buhigas, der für das Brüsseler Wirtschaftsinstitut "European Policy Center" die Lissabon-Strategie untersucht hat, kommt noch ein ganz anderes Problem hinzu. Das Programm ist bisher nicht bei den Bürgern angekommen:
" Das größte Problem der Lissabon-Strategie ist, dass sie über die Zusammenarbeit von Regierungsbeamten hinausgehen muss. Die Menschen müssen davon erfahren. Das wurde völlig vernachlässigt in den vergangenen fünf Jahren. Lissabon impliziert eine totale Veränderung, wie wir arbeiten und leben. Und weil das so eng mit unserem täglichen Leben verknüpft ist, sollten wir, die Bürger, viel mehr Informationen von unseren Regierungen verlangen. Das Wichtigste ist, eine öffentliche Diskussion zu fordern, die bisher noch überhaupt nicht stattgefunden hat. "
Eine Debatte, die jetzt endlich – nach fünf Jahren - in Gang kommen soll. Zunächst zwischen den Europäischen Institutionen und den Regierungsvertretern in Brüssel – dann bei den Gewerkschaften und anderen sozialen Partnern in den Mitgliedsstaaten. Die Lissabon-Strategie soll so im Mittelpunkt der Europa-Politik stehen.
Die neue Kommission, seit November im Amt, erklärte sich kurzerhand zur Lissabon-Kommission. Ihr Präsident José Manuel Barroso versprach im Dezember bei seiner Antrittsrede im Europäischen Parlament einen kraftvollen Neuanfang:
" Wir brauchen keine neue Bibliothek von Untersuchungen über mögliche Verbesserungen. Die gibt es bereits zu genüge. Und die Lissabon-Strategie gibt uns zahlreiche Maßnahmen und Ziele an die Hand. Ich will die Lissabon-Strategie zu einer Top-Priorität der Kommission machen. Eine auf Wissen basierende Wirtschaft wird das Herz dieser Strategie sein. "
Anfang Februar stellte die Kommission diese Neuauflage der Lissabon-Strategie vor. Sie trägt die Handschrift von Wettbewerbs-Kommissar Günter Verheugen.
" Es ist ein völliger Neustart. Und wir reden auch nicht mehr davon, dass das Ziel der ganzen Unternehmung ist, im Jahr 2010 besser sein zu wollen als die Amerikaner. Die Botschaft, die man wirklich den Menschen in Europa vermitteln muss, ist die: Wir müssen die Ärmel hoch krempeln. Wir müssen uns mehr Mühe geben. Wir müssen besser sein als unsere Wettbewerber. Und ob wir das in fünf Jahren schaffen oder in sechs, das ist nicht so entscheidend. "
Die Ziele sind also bescheidener geworden. Am wichtigsten für die jetzt so genannte "Initiative für Wachstum und Beschäftigung" ist es, Arbeitsplätze zu schaffen. Die Anzahl der Einzel-Maßnahmen wurde heruntergeschraubt. Die Kommission will sich nun nur noch auf zehn Politikfelder konzentrieren.
" Eines heißt zum Beispiel "Zugang zum Arbeitsmarkt". Das reicht dann von Qualifizierungsmaßnahmen bis hin zu der Frage von Ganztagsbetreuungseinrichtungen für Kinder, damit auch alleinerziehende Mütter oder Väter ihre Berufschancen wahrnehmen können. Ein anderes für mich sehr wichtiges ist eine Neuorientierung der europäischen Forschungspolitik und es reicht bis hin zu einem so handfesten, aber wie ich glaube, politisch auch sehr wichtigem Thema, wie Bürokratie-Abbau, Vereinfachung und Verbesserung der Gesetzgebung. "
Unterstützung für die Ausdünnung der Lissabon-Strategie bekamen Barroso und Verheugen von Jean-Claude Juncker, dem Luxemburgischen Ministerpräsidenten und derzeitigem EU-Ratsvorsitzenden. Der kritisierte im Januar die unglaubliche Anhäufung von EU-Programmen:
" Wir haben die allgemeinen Rahmen-Richtlinien für die Wirtschaftspolitik, die Beschäftigungsrichtlinie, die Strategie für nachhaltiges Wachstum, die Strategie für den Binnenmarkt, eine Charta für mittelständige Unternehmen, den Prozess von Köln, den von Cardiff und ich weiß nicht, wie viele noch ... Viele dieser Prozesse sind eingebettet in eine unglaubliche Bürokratie, die sehr oft zu nichts führt. Die Europäische Union gleicht eher einem Büro, dass Untersuchungen produziert, Untersuchungen, die für nichts benutzt werden, außer daraus eine Fabrik von brauchbaren und unbrauchbaren Ideen zu bauen. Wir müssen das ändern, indem wir die Strategie rationalisieren. "
Die Kommission kehrt also zurück zu den traditionellen, ökonomischen Werten "Wachstum" und "Beschäftigung". Diese beiden bilden den ersten Pfeiler der Lissabon-Strategie.
Vor allem die Sozialisten und Grünen im Europäischen Parlament kritisieren deshalb Verheugen und seine Mitstreiter. Die linken Politiker – wie die Grünen-Abgeordnete Rebecca Harms – befürchten, dass die beiden anderen Pfeiler, nämlich die Sozial- und Umweltpolitik, vernachlässigt werden könnten.
" Was uns schwer bestürzt, ist, dass die dritte wichtige Säule in der Lissabonstrategie, nämlich das Ziel, Nachhaltigkeit für Europa zu erreichen, immer weiter in den Hintergrund rückt. Ich habe mich mit dem Aktionsprogramm für Umwelttechnologien beschäftigt. Pro Jahr wächst dieser Sektor zurzeit um fünf Prozent. Wenn dann Verheugen oder Barroso sagen, ehrgeizige Umweltpolitik stünden dem Wachstum in Europa entgegen, dann muss man sagen: Mit den eigenen Zahlen widerlegt die Kommission diese Behauptung. "
Immerhin 30 Prozent beträgt der Anteil der Europäische Union am globalen Markt von Umwelttechnologien. Umgerechnet sind das jährlich 180 Milliarden Euro. Zahlen, die die Kommission nach Ansicht der linken Abgeordneten nicht übersehen darf und, so Kommissar Verheugen, auch gar nicht übersehen will:
" Ich habe mich schon etwas über die Diskussion gewundert, dass die Aussage "Wir wollen für Wachstum und Beschäftigung sorgen" verstanden wird als eine Aussage "Wir tun nichts mehr für die Umwelt und Soziales". Ich halte eine solche Auffassung geradezu für absurd. Wir können nicht für Wachstum und Beschäftigung sorgen, ohne den hohen ökologischen Stand, den wir erreicht haben, weiter auszubauen. Ökologie ist in Europa ein Wachstumsfaktor. Und es kann nicht etwas ökonomisch sinnvoll sein, was ökologisch falsch ist. "
Kurz nach dem "Pakt für Wachstum und Beschäftigung" stellten die zuständigen Kommissare deshalb einen Bericht zu Umweltfragen vor und eine soziale Agenda vor. Diese beiden sollen gemeinsam mit dem Pakt für Wachstum und Beschäftigung Ende des Monats von den Staats- und Regierungschefs der 25 EU-Mitgliedsstaaten verabschiedet werden.
Günter Verheugen ist optimistisch, dass sich die Schlussfolgerungen der Regierungen sehr eng an seinem Entwurf orientieren werden, obwohl die Kommission darin ein stärkeres Engagement der Mitgliedsstaaten verlangt.
Jedes Land soll in Zukunft einen "Mister" oder eine "Misses" Lissabon benennen. Der oder die soll die Umsetzung der Reformen überwachen und dafür sorgen, dass die auf europäischem Niveau beschlossenen Richtlinien nicht mehr jahrelang in den Pipelines der Verwaltungsapparate liegen bleiben. Außerdem soll jede Regierung ein nationales Lissabon-Programm vorlegen, das auf das jeweilige Land zugeschnitten ist. Schließlich, sagt Verheugen, sei die Situation in der Slowakei eine andere als in Irland.
Ob die Zuversicht des Industrie-Kommissars, dass die Mitgliedsstaaten trotz der neuen Anforderungen seinem Plan zustimmen werden, berechtigt ist, wird sich erst Ende des Monats zeigen. Der Ratsvorsitzende Jean-Claude Juncker hält die Maßnahmen jedenfalls für notwendig und will sich bei seinen Kollegen dafür stark machen.
"Wir wollen, dass die nationale Umsetzung beschleunigt und intensiviert wird. Deshalb schlagen wir vor, dass die Mitgliedsländer Aktionsprogramme erarbeiten, deren Umsetzung dann von den nationalen Parlamenten und den EU-Institutionen gemeinsam überwacht wird. Diese Programme sollten den Reformrhythmus und die Intensität in jedem Land bestimmen. So könnte man auch den bereits durchgeführten Reformen Rechnung tragen. – bis hier. "
Ob die Lissabon-Strategie also in den verbleibenden fünf Jahren doch noch Erfolg haben wird, hängt zu aller erst von den nationalen Regierungen ab. Sie müssen dazu bereit sein, die notwendigen Reformen durchzuführen.
Meistens wäre es sogar schon ausreichend, wenn die Länder bei ihren Nachbarn abschauten. Abschreiben ist erlaubt und sogar erwünscht. Denn Lissabon hat in einigen Ländern bereits positive Reformen begünstigt. Ein besonders guter Schüler ist Dänemark.
Um ein Unternehmen zu gründen, braucht man dort gerade einmal vier Tage. In Deutschland dauert das 45 Tage, in Spanien sogar 108.
Parallel zum Abbau der Bürokratie hat es Dänemark geschafft, seinen Arbeitsmarkt zu flexibilisieren, ohne die soziale Absicherung dadurch zu schwächen. Für Folker Franz vom Europäischen Industrie-Verband ist das ein gelungenes Beispiel der Lissabon-Strategie:
" Im Klartext: In Dänemark ist sehr einfach, jemanden zu feuern aber gleichzeitig, wenn Sie arbeitslos sind, bekommen Sie auch ein recht hohes Arbeitslosengeld. Und durch aktive Arbeitsmarktpolitiken ist die Langzeitarbeitslosigkeit in Dänemark sehr niedrig. Das heißt, es ist ein System, in dem Unternehmen es sich leisten können, einfach mal ein paar Leute einzustellen und gleichzeitig können Arbeitnehmer mit einer gewissen Sicherheit in die Zukunft schauen, weil im Falle einer Entlassung sie nicht vor irgendwelchen sozialen Problemen stehen. "
Und auch die zehn neuen Mitgliedsstaaten zeigen den großen, alten Industrie-Sauriern, was Mut zu Reformen bedeutet. In der Tschechischen Republik läuft gerade eine tief greifende Steuerreform an. Die Regierungen in Deutschland und Frankreich beißen sich an diesem Thema seit Jahren die Zähne aus.
Die Trägheit und die Angst der nationalen Regierungen vor den Konsequenzen von zu schmerzhaften Reformen haben die Lissabon-Strategie bisher gebremst.
Lissabon, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Carlos Buhigas vom European Policy Center, kann deshalb nur dann Erfolg haben, wenn die nationalen Regierungen eine gemeinsame Vision haben, die alle Bereiche umfasst – wie schon das Programm aus dem Jahr 2000.
" Wettbewerbsfähigkeit wird davon abhängen, eine Gesellschaft zu schaffen, die niemanden ausschließt. Und ich glaube, dass der Umweltschutz und die Investitionen in Nachhaltigkeit ein entscheidender Wettbewerbs-Vorteil sind. Da habe ich keine Zweifel. Wir legen viel zu großen Wert auf harte, wirtschaftliche Fakten. Das ist falsch. Man sollte sich nicht immer von Statistiken beherrscht sein. Entweder man hat eine Vision und folgt ihr, oder das Ganze wird in sich zusammenbrechen. "