Mit ihrer Zinspolitik würde die Europäische Zentralbank (EZB) viele Bürger schrittweise enteignen, ergänzte Georg Fahrenschon im Deutschlandfunk. Die Deutschen würden dadurch allein 15 Milliarden Euro an Zinseinnahmen verlieren. Durch diese Zinsen würde ein Loch in das Altersvorsorgekonzept gerissen. Beobachter erwarten bei der morgigen Sitzung der EZB eine weitere Senkung des Leitzinses von derzeit 0,25 Prozent auf bis zu 0,1 Prozent.
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Dirk Müller: Vielleicht kennen Sie ja auch Bekannte oder Verwandte, die sich eine Wohnung oder ein Haus gekauft haben, in den 80er-Jahren zum Beispiel. Da war der eine oder andere doch froh, wenn er einen Kredit von unter neun Prozent ergattern konnte. Das war die Kehrseite. Für diejenigen, die etwas Geld bei Seite legen konnten, war das Ganze hingegen paradiesisch. Fünf, sechs Prozent, sieben, acht Prozent gab es für Einlagen, für Tagesgeld zum Beispiel. Heute ist das alles anders. In der vermeintlich auslaufenden Wirtschafts-, Finanz- und Währungskrise sind Niedrigzinsen angesagt von und durch die Europäische Zentralbank, von Mario Draghi, und dieser will morgen noch einmal zuschlagen, noch einmal den Daumen nach unten senken. Kaum zu glauben! Von 0,25 Prozent auf bis zu 0,1 Prozent. Kann man das noch als Zinsen bezeichnen? Und was machen die normalen Leute mit ihrem Geld, das immer weniger wert wird? – Darüber sprechen wir nun mit Georg Fahrenschon, Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes. Guten Morgen!
Georg Fahrenschon: Schönen guten Morgen, Herr Müller!
Müller: Herr Fahrenschon, ist das eine Enteignung?
Fahrenschon: Ich glaube, wie Sie es gerade in Ihrer Einleitung beschrieben haben: So ein niedriges Zinsumfeld hat natürlich gute und schlechte Seiten. Für all diejenigen, die jetzt Kredite nehmen, sind das natürlich nahezu paradiesische Zustände. Allerdings muss man darauf achten, dass man A sehr lange Laufzeiten ausmacht, und zweitens gilt in jedem Fall, jeder sollte sich durch diese historisch niedrigen Zinsen nicht dazu verleiten lassen, unbedachte Entscheidungen zu machen.
Die andere Seite macht mir noch viel mehr Sorgen. Wenn natürlich Millionen von Sparerinnen und Sparern durch diese niedrigen Zinsen irgendwie überhaupt keinen Anreiz mehr sehen, dann haben wir große, große Schwierigkeiten. Deutschland, ganz Europa muss sparen. Wir müssen für das Alter vorsorgen. Diese historisch niedrige Zinssituation macht falsche Signale. Wenn man ehrlich ist - und das wäre für die Entscheidung der Europäischen Zentralbank ganz wichtig -, dann werden schon heute viele Sparer eigentlich herangezogen, ungefragt zu einer zusätzlichen Solidarleistung. Das niedrige Zinsumfeld verändert ihre Altersvorsorge-Planung. Wir verlieren in der Altersvorsorge Jahr für Jahr Erträge, die eigentlich die Sparer in zehn, in 20 Jahren dringend bräuchten.
Wir reißen ein Loch in bestehende Altersvorsorge-Konzepte
Müller: Herr Fahrenschon, noch mal ganz kurz zu unserer Leitungsqualität. Die war jetzt etwas schlechter, zwischendurch war sie sehr, sehr gut. Ich weiß nicht, inwieweit Sie die Position des Handys groß verändert haben.
Fahrenschon: Gar nicht! Aber ich bin mitten in Frankfurt, unterhalb der tollen Türme allerdings.
Müller: Dann sind Sie relativ nahe dran. Sie können also mit Mario Draghi, dem Chef des Ganzen, noch sprechen. - Ich möchte das noch mal fragen: Sie haben vom Paradies gesprochen und dann im Grunde von der anderen Seite. Das Gegenteil ist ja die Hölle. Noch mal die Frage: Ist das eine schrittweise Enteignung des Vermögens?
Fahrenschon: Ja ganz klar! Durch diese niedrige Zinspolitik der Europäischen Zentralbank verlieren die privaten Haushalte in Deutschland pro Jahr etwa 15 Milliarden Euro an Zinseinnahmen. Das sind pro Kopf, egal ob Kind oder Greis, etwa 200 Euro pro Jahr. Wir müssen uns natürlich mit dem negativen Signal auseinandersetzen. Wir reißen durch diese niedrigen Zinsen ein Loch in bestehende Altersvorsorge-Konzepte der Sparerinnen und Sparer und wir setzen auch ein völlig verkehrtes Signal, als würde man sagen, Sparen lohnt sich nicht, und das Gegenteil ist der Fall.
Müller: Sie haben das auch schon angedeutet: Die Deutschen bezahlen jetzt schon mit diesem Niedrigzinssatz wie die anderen auch, die anderen europäischen Staaten, für Griechenland, für Zypern, für Portugal und so weiter.
Fahrenschon: Ja, und das ist nicht nur ein Thema, das die Deutschen trifft; es trifft alle Sparerinnen und Sparer in Europa. Wir müssen einfach erkennen, dass diese niedrigen Zinsen mit gefährlichen Nebenwirkungen verbunden sind, und das ist unsere Hauptkritik. Mario Draghi weiß ganz genau, dass er, wenn er jetzt den Zins, der schon nahe null steht, quasi auf null setzt, dass das in der Realwirtschaft keine positiven Effekte mehr nach sich zieht. Wir haben kein Kreditversorgungsproblem, sondern wir haben ein Vertrauensproblem, und wenn jetzt auf einmal die privaten Verbraucher, die privaten Haushalte sehen, dass Sparen sich nicht mehr lohnt, dann merkt man irgendwie, da ist ein Fehler im System, das stimmt doch überhaupt nicht. Das beschäftigt uns in hohem Maße.
Die Europäische Zentralbank ist in der falschen Richtung unterwegs
Müller: Herr Fahrenschon, die Diskussion Inflation/Deflation beschäftigt uns ja auch schon seit Wochen, seit Monaten. Jetzt können wir doch, um das nicht ganz zu kompliziert zu machen, ganz froh sein, dass die Inflation nicht zu hoch ist, denn das würde ja zusätzlich auffressen.
Fahrenschon: Das stimmt. Die EZB - das muss man ihr auf der anderen Seite zugestehen - hat in der vergangenen Zeit A ihr Inflationsziel immer sauber erreicht und hat natürlich B auch Ruhe wieder in die Märkte gebracht. Mario Draghi und die Kollegen im Direktorium der Europäischen Zentralbank ist zugutezuhalten, dass sie wieder Ruhe ins insgesamte System des Euros gebracht haben. Da gibt es nichts zu kritisieren. Aber wir müssen einfach erkennen - und das treibt uns in hohem Maße um -, dass künstlich niedrig gehaltene Zinsen Gefahren an anderer Stelle erhöhen. Die sogenannte Preisfunktion des Zinses für das Risiko, das jedem Geschäft inne liegt, ist außer Kraft gesetzt. Das heißt, automatisch steigt die Gefahr von Blasen. Und wenn ich all die drei Elemente zusammenzähle, es gibt keine positive wirtschaftliche Reaktion mehr auf noch niedrigere Zinsen, die Gefahr von Blasen steigt und die Kreditversorgung springt nicht an, dann, glaube ich, ist an dieser Stelle die Europäische Zentralbank in der falschen Richtung unterwegs, und da hilft es dann auch nicht, die Schlagzahl zu erhöhen.
Müller: Aber Draghi argumentiert ja damit, er muss das alles machen, um Geld in die Wirtschaft zu pumpen, damit das Geld überhaupt wieder in den Kreislauf kommt, damit die Banken sich gegenseitig vertrauen, auch wieder Geld leihen. Das ist ja ein relativ komplexes Geflecht, über das wir hier reden.
Fahrenschon: Ja, aber ich glaube, dass da Herr Draghi den entscheidenden Fehler macht. Die Europäische Zentralbank hat in erster Linie die Geldwertstabilität zu beachten. Das bedingt die Inflation, das bedingt den Außenwert, das bedingt aber auch die Zinsfunktion und den Anreiz, zu sparen und Vorsorge zu betreiben. Die Europäische Zentralbank ist nicht die Ersatzregierung Deutschlands. Die Rahmenbedingungen, damit die wirtschaftlichen Akteure Vertrauen finden und investieren, das ist die Aufgabe der Nationalstaaten, der Politik. Die müssen die Rahmenbedingungen setzen. Wenn es darum geht, die Strukturen in den Mitgliedsstaaten auf Vordermann zu bringen, ist die Politik gefragt und nicht die Europäische Zentralbank.
Müller: Herr Fahrenschon, jetzt sind Sie leider nicht mein Anlageberater. Ich habe jetzt 2000 Euro und will die irgendwie vernünftig anlegen. Wenn ich das alles richtig verstanden habe in den Zeitungen, in den Analysen der letzten Tage und Wochen, dann bleibt mir ja nichts anderes im Grunde, als in den Aktienmarkt zu investieren. Der will 10.000 erreichen, der DAX-Index in Deutschland. Darüber berichten wir auch seit Tagen. Sie haben das eben schon einmal angedeutet: Ist der Aktienmarkt jetzt schon höher bewertet, als er in der Realität wiedergeben kann?
Es besteht die Gefahr, dass es von jetzt an bergab geht
Fahrenschon: Dadurch, dass die Europäische Zentralbank sehr viel Zentralbankgeld zur Verfügung stellt, haben wir im zweiten Geldkreislauf ein Überangebot. Die Liquidität dringt momentan durch alle Ritzen. Wir reden von Beton-Gold, wir haben ein all Time High auf den Aktienmärkten, das das andere jagt. Sie haben recht: Der Präsident des Deutschen Sparer- und Giroverbandes ist nicht der beste Anlageberater.
Müller: Ich habe "leider" gesagt!
Fahrenschon: Ja, ja! Das ist im einzelnen Gespräch zu klären. Aber was ich auf jeden Fall sagen kann: Erstens, man muss in dieser Situation vorsichtig sein, keine unbedachten Entscheidungen. Zweitens breit streuen. Der gute alte Spruch, den ich sofort verstanden habe, lautet, nicht alle Eier in einen Korb legen. Und drittens, es wäre in der jetzigen Situation mitnichten klug, in ein direktes Aktiengeschäft einzusteigen, denn man muss sich einfach immer wieder verdeutlichen, auch wenn die Nachrichten toll sind, wir haben Höchststände, führt das natürlich automatisch dazu, dass die Gefahr steigt, dass es von dieser hohen Situation von jetzt an nur bergab gehen kann.
Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Georg Fahrenschon, Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes. Vielen Dank für das Gespräch, auf Wiederhören nach Frankfurt.
Fahrenschon: Gerne, Herr Müller. Auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.