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Europäisches Handgepäck (2/7)
Nelken im Klostergarten

Das Hieronymitenkloster in Lissabon kündet von einer Nation, die einst die Hälfte der neuen Welt eroberte. Dicht neben den Särgen der Könige Portugals und dem des Seefahrers Vasco da Gama liegt das Grab des Renaissancedichters Luís de Camões. Dessen Epos schlug den Bogen von der Odyssee in den großen europäischen Aufbruch.

Von Mathias Greffrath |
    Die Außenansicht des Hieronymiten-Kloster in Lissabon, Portugal, UNESCO Weltkulturerbe
    Das Hieronymiten-Kloster in Lissabon, Portugal, UNESCO Weltkulturerbe (imago / imageBroker / Nitzschke)
    In Lissabon besucht Mathias Greffrath geschichtsträchtigen Boden: Ein altes Kloster, in dem 2007 der Vertrag von Lissabon unterschrieben wurde, die Verfassung für Europa. Doch von der Krise im Jahr darauf wurde Portugal hart getroffen: Greffrath erlebt ein in seinem Stolz tief gekränktes Land, in dem Wirtschaft und Gehälter gefallen sind und das nach einer neuen Identität sucht. Der Autor erfährt: Europa profitiert von einem billigen Portugal, das macht es schwer, sich neue zu erfinden. 1974 machten die Portugiesen mit der Nelkenrevolution der Diktatur ein Ende und strebten eine eigene linke Staatsform an. Das aber - erfährt Greffrath - habe Europa nicht zugelassen. Seitdem prägt eine Traurigkeit das Land, die er an vielen Ecken spürt. Doch er trifft auch Frauen, die etwas ändern, Portugal aus der kapitalistischen Peripherie herausführen wollen. Es sind nur kleine Schritte, merkt er, aber sie sind beharrlich.
    Wie der gigantische Bug einer Karavelle, bemannt mit Kriegern, Priestern, Kolonisatoren ragt das "Denkmal der Entdeckungen" in die Höhe, eine Apotheose der Welteroberung aus Kalkstein, von einem Diktator gebaut, der keinen Fortschritt mehr wollte. Ein Portal gleichsam zum langgestreckten Kloster der Hieronymiten am Ufer des Tejo. Aus Kalkstein geschnitzt auch die verspielten Kränze aus Muscheln, Korallen und indischen und orientalischen, von Seefahrern inspirierten Ornamenten im Kreuzgang. In den Kapellen der Kirche liegen die Könige, die Königinnen; und gleich am Eingang befestigen zwei wuchtige Sarkophage die Legende vom welterobernden und doch zivilen Wagemut der Portugiesen: ein Entdecker und ein Poet: links Vasco da Gama, rechts Luis de Camoes, der im 16. Jahrhundert den Beginn der Globalisierung in einer neuen Odyssee so verewigte:
    "Erinnerungen voller Ruhm
    an jene Könige, die stets gemehrt
    das Reich; den Glauben und das Heidentum
    in Afrika und Asien zerstört
    an kriegerische, kühne Heldenscharen, vom Weststrand Lusitaniens ausgesandt
    und mehr erprobt in Kriegen und Gefahren,
    ...
    sie suchten Waren, wie sie im Morgenland gedeihen
    Gewürz zu Hauf ist dort vorhanden
    auch Nelken, Zimt und seltene Arzneien
    Rubine, Diamanten und anderes Gestein."
    Denkmal für Vasco da Gama
    Denkmal für Vasco da Gama (Deutschlandradio / Mathias Greffrath)
    Hier im Heiligtum der großen portugiesischen Nation, in Belem, am Westrand der Stadt, im Hieronymitenkloster, das mit dem Geld aus dem neuen Überseehandel gebaut wurde, unterzeichneten 27 Staatschefs den Vertrag von Lissabon, die Ersatz-Verfassung eines gerade nach Osten hin erweiterten Europa. "Dies ist eine neue Stufe im europäischen Abenteuer" hatte der damalige Regierungschef Portugals mit dem schönen Namen Socrates verkündet. Das war 2007. Ein Jahr darauf brach die Bankenkrise aus, die Portugal, wie alle Länder der süd- und osteuropäischen Peripherie - unendlich viel stärker traf als die Kernländer; und Socrates wurde im November 2014 am Flughafen von Lissabon wegen Betrugs, Korruption und Geldwäsche verhaftet. Die Wahlbeteiligung war inzwischen von 77 Prozent in den 80er-Jahren auf 56 Prozent gesunken.
    Die Peripherie des hochkapitalisierten Europa
    Nach den Anfangswirren der Nelkenrevolution von 1974, der Niederlage eines eigenständigen Sozialismus, der im Kalten Krieg am Westrand Europas nicht geduldet werden konnte, war das Land zur Peripherie des hochkapitalisierten Europa geworden. Die Landreform mündete in die Wiederherstellung des Großgrundeigentums einerseits, eine ärmliche, überalterte, abgehängte ländliche Kleinbesitzerschicht andererseits; Portugal wurde zum Europameister der Privatisierungen. Aber sein Wachstum beruhte zu großen Teilen auf Investitionen von Konsortien aus allen Länder der OECD-Welt - heute ist das Volkswagenwerk Autoeuropa der größte industrielle Arbeitgeber im Land - auf Tourismus, auf den Überweisungen der Arbeitsmigranten und, nach dem EU-Beitritt von 1986 mehr als 100 Milliarden Förderungsgelder der EU, die zu einem großen Teil in völlig überzogene Bauprojekte flossen: auf den Kopf der Bevölkerung gibt es in Portugal 60 Prozent mehr Straßenkilometer als in Deutschland. Anfang des Jahrhunderts war dann der Bauboom so heftig, dass Portugal vorübergehend zum Einwanderungsland für Osteuropäer geworden war.
    Bei all dem: vor der Krise ging es den Portugiesen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt besser. Sozialstaat und Arbeitsrecht waren ausgebaut worden, das Land hatte hunderttausende von Einwanderern aus den ehemaligen Kolonien aufgenommen, vor allem aber war der Bildungsstand der Bevölkerung enorm gestiegen, der Analphabetismus besiegt, die Hochschulen ausgebaut.
    Dann kam die Krise.
    Und die traf Portugal hart. Im Jahr 2012 lebte ca. ein Fünftel der Bevölkerung von 400 Euro, die Arbeitslosigkeit lag bei 16 Prozent, bei den unter 25-Jährigen bei 38 Prozent. In Lissabon waren die Obdachlosen nicht mehr zu übersehen. Portugal musste wie Griechenland unter den Rettungsschirm und sich, wie Griechenland, den "Strukturellen Anpassungsmaßnahmen" unterwerfen.
    "Installation der Angst"
    Ein paar Häuser vor der Pasticheria, in der ich mit dem Schriftsteller Rui Zink verabredet bin, in einer Mittelschichtswohngegend im Norden der Innenstadt: eine Sprühschrift auf der Eingangstür eines heruntergekommenen Wohnhauses: "Release the Fear / Homeless could be living here", und: "Pigs, with badges guns and sticks". Rui Zink hat eine bitterböse und sehr komische Satire geschrieben über die "Installation der Angst": Es klingelt bei der alleinerziehenden Mutter. Ein Vertretertyp und ein Monteur stehen vor der Tür: Sie wollen die Angst installieren. Jeder Bürger sei doch verpflichtet, sie in seiner Wohnung zu haben. So fängt es an und dann wird die Frau von dem Glatten und dem Groben in ein Wechselbad von Angstszenarien verwickelt:
    "Sie leben in diesem Stadtviertel und kommen sich vor wie in einem Zombiefilm. Sie sind hier geboren und aufgewachsen, aber Sie erkennen das Viertel nicht wieder. Es ist alles anders, die Geschäfte sind zu, es gibt nur noch die alten Leute, die sich fürchten auf die Straße zu gehen, oder Wohnanlagen, aus denen die Bewohner nur noch in gepanzerten Autos herausfahren"
    So fängt es an, und steigert sich hundert Seiten lang in immer neue Wortkaskaden: Angst vor verunsicherten Märkten, vor strukturellen Reformen, vor Mieterhöhungen, vor Viren, strukturellen Anpassungsmaßnahmen, finanztechnischen Innovationen, notwendigen Straffungen, downsizing, Flexiblisierung ... Eine Apotheose der Einschüchterung und Furcht: die Seelenseite der Krise. Zink hat sich reichlich bedient mit Zitaten aus Wirtschaftsteilen und öffentlichen Verlautbarungen.
    Viele seiner Freunde, so erzählt er, hätten in den Jahren nach 2008 Geld verloren, zum ersten Mal habe es auch diese konformistischen Paare zwischen 30 und 40 getroffen, die in den Vororten leben, mit zwei Autos und zwei Kindern in zwei Privatschulen. Wenn die arbeitslos würden, gehe eine Welt unter. Eine Freundin, die gerade meinte, sie habe den Aufstieg geschafft, sei von der Brücke gesprungen.
    Ein politischer Schriftsteller hat Rui Zink nie werden wollen, aber nun hat ihn die Krise in Geiselhaft genommen. "Wissen Sie, wenn man jeden Tag gesagt kriegt, Ihr seid Idioten - und das hat die Troika gesagt und noch ein paar hässliche Dinge mehr. Schweine hat man uns hier genannt, den gesamten Süden PIGS: P wie Portugal, I wie Italien, G wie Griechenland und S wie Spanien. Ich habe dann Irland noch dazu gesetzt, damit es wenigstens 'Gipsi' heißt."
    Der Schriftsteller Rui Zink
    Rui Zink (imago / Natacha Cardoso)
    Man soll ja nicht an so etwas wie Nationalcharakter glauben, aber die kleine Vorlesung, die mir Rui Zink gibt, während die Tageskneipe an der Ecke sich mit Mittagsgästen aus den Büros und Wohnungen des Viertels füllt, legt es doch nahe: da ist so etwas wie ein Stolz darauf, "überlegen zu sein, in der Eigenschaft sich nicht überlegen zu fühlen". Und Zink beweist es mir - und da er ein Schriftsteller ist, mit Texten: mit dem Artikel aus EL PAIS aus Spanien - "die Spanier reden immer so laut" - der neidvoll die Freundlichkeit und Weltoffenheit der portugiesischen Diplomaten preist, die deshalb in der UNO und in der EU so wohlgelitten sind, wie jetzt auch Mario Centeno; oder mit der Untersuchung aus Forbes, der zufolge Portugal als das freundlichste Land für ausländische Arbeitnehmer gilt.
    "Wir sind die perfekten Nebenfiguren" lacht Zink, "selbst bei Tim und Struppi ist Senhor Oliveira de Figueira derjenige, der die tollsten Geschichten erzählt, und damit Skier an Araber verkauft. Ja, irgendwie entwickelt man diese Schwejk-Mentalität, wenn man ein kleines Land mit einem großen Nachbarn ist."
    Sechs Bücher über die Krise hat Rui Zink geschrieben. "Mir fällt dazu nichts mehr ein", sagt er und bestellt sich noch eine Suppe, "ich sehe nur noch Netflix." Das ist natürlich kokett, denn er schreibt jede Woche eine Kolumne im Correio da Manha und oft zum Thema, wie sich Portugal nun neu erfinden könne.
    Das wird nicht einfach sein, wenn die Banken bis auf eine in ausländischer Hand sind, wenn immer noch Jahr um Jahr hunderttausend gut ausgebildete Menschen das Land verlassen, wenn ein Arbeiter, bei Volkswagen mit 600 Euro anfängt, das Durchschnittseinkommen bei 850 Euro liegt, die Arbeitslosigkeit immer noch hoch ist, und die Erholung der Wirtschaft in den letzten zwei Jahren vor allem auf den Tourismusboom zurückgeht - Erdogan hat mitgeholfen.
    Es wird schwer sein, weil es kein europäisches Steuersystem gibt, weil Europa nur dynamisch ist - und das heißt, für Investoren interessant - wenn die Unterschiede erhalten bleiben. Nicht die des Konsums - Lidl ist überall. Nicht die Unterschiede der Geschmäcker - auch Maggi und Starbucks sind überall. Nicht die der Kultur (na ja, ein paar Ausnahmen gibt es schon noch, Fado und Krautrock und Finnentango). Sondern die Unterschiede der Steuern, der Löhne, der Qualifikationen, der Grundstückspreise, der Produktivität. Weil nur dann Geld fließt in die Länder, die so schön PIGS heißen, wenn sie billiger bleiben, und möglichst demütig.
    Das eine Europa profitiert von der Schwäche des anderen
    Europa wächst zusammen. Das Easy-Jet-Europa und das Europa der Geldströme, das Europa der Medienkonzerne und das der NGOs, das der Konsumketten und das der alternativen Landwirte. Das kulturelle Europa?
    Neben meinem Schreibtisch hängt seit vierzig Jahren ein schwarzweißes Graffitto des portugiesischen Karikaturisten Joao Abel Manta aus der Nelkenzeit. Links steht da eine Bauernfamilie, Vater, Mutter, drei Kinder, allesamt barfuß, und ein Soldat; rechts zwei Dutzend kulturelle Größen, Sokrates und Einstein, Mozart und Darwin, Chaplin und Shakespeare, Freud und Armstrong, Picasso und Goethe ... und alle miteinander reichen den Bauern die Hände. Welcome back home, sagen sie, bald werdet ihr Zeit für uns haben, sagen sie. Und das ist natürlich ein schöner Feuilletontraum über das Reich des Geistes und der Freiheit. Und bleibt es.
    Barfuß läuft heute niemand mehr in diesem Land, selbst im Alentejo nicht, und die Landstraße zweiter Ordnung nach Grandola ist lange schon asphaltiert, wahrscheinlich aus Mitteln des Regionalfonds; eine Stunde lang, nur von Fado-Pop unterbrochen, höre ich, während ich durch das verregnete grüne Korkeichenland fahre, das sich hervorragend zur Anlage von Golfplätzen eignet, eine Diskussion von Journalisten - ich verstehe kein Portugiesisch, aber die Worte Diesel, Leipzig, Düsseldorf, Volkswagen und Merkel durchziehen das Gespräch. Es ist derselbe "Internationalismus", der einem in Kneipen in Wolfsburg begegnet, wenn die Worte Lissabon und Sao Paulo und Shanghai und Trump fallen - und wenn man genau hinhört, geht es um das Wohlergehen der dortigen Werke, von denen auch die Höhe des eigenen Weihnachtsgelds abhängt. Irgendwie jedenfalls, man weiß nicht genau, wie.
    Und dann wächst Europa auf einmal ganz unversehens ganz anders zusammen. Auf dem Marktplatz von Grandola an einem späten Sonntagmorgen. Grandola, die braune Stadt im Alentejo, umgeben von Hügeln. Das Café Portugal ist geschlossen, im Restaurant gegenüber essen die Sonntagsfußballer zu Mittag, auf dem gepflasterten Platz in der Mitte der Stadt stehen ein paar alte Männer unter kargen Palmen an einem uninspirierten Brunnen.
    Von hinten ruft mich jemand an, in hartem Deutsch: "Bitte, wo geht es hier nach Fatima?" Fatima, der Ort, an dem vor 100 Jahren drei Kindern die Heilige Mutter Gottes erschienen ist und den Krieg vorausgesagt hat. Fatima, wo kürzlich Papst Franziskus die Geschwister Marto heiligsprach, in der viertgrößten Kirche des Katholizismus. Fatima ist zweihundert Kilometer entfernt. Und Herr Kowalski, der nach Fatima will, fährt ein Auto mit einem Kennzeichen von Kleve am Niederrhein, aber eigentlich ist er ursprünglich aus Polen, arbeitet für die Firma Stauden Peters aus Kranenburg, die seit einiger Zeit, was man aus ihrer Website nicht ersehen kann, in Colos in Portugal auf ein paar Dutzend Hektar Zier- und Ornamentgräser züchtet, und das hoffentlich zu Mindestlöhnen.
    Das Bild zeigt im Hintergrund die Kathedrale von Fátima, den vorderen Teil des Bildes nimmt der Platz vor der Kathedrale ein.
    Der Wallfahrtsort Fátima (Tilo Wagner)
    Etwas ratlos schauen wir auf eine Landkarte, bis sich Jose Julio Palhas zu uns gesellt, der sich auskennt. Ein Veteran der portugiesischen Armee, der Karte lesen kann, so dass Herr Kowalski schon bald mit seiner Frau nach Fatima weiter fährt, auf einer der Autobahnen, die mit EU-Mitteln als Privat-Public-Partnership gebaut wurden, die seit Jahren defizitär sind, wofür der Staat die privaten Partner entschädigen muss und dafür 6 Prozent des Sozialprodukts aufwendet. Was den pensionierten Elektroingenieur und Hauptmann Jose Julio Palhas aufregen würde, aber der ist ohnehin gegen die EU, aus der KP ist er schon vor langer Zeit ausgetreten, jetzt hat er für den Linksblock, den Bloco Esquerda gestimmt, aber viele Hoffnungen habe er nicht. Denn eigentlich sei alles schief gelaufen seit langer Zeit. Präsident Eanes, ja, der General aus der Nelkenrevolution, der zum Präsidenten wurde, das sei noch ein senkrechter Kerl gewesen. Und natürlich Salgueiro Maia. "Aber Gott holt eben diejenigen, die er mag, als erste ... auch wenn ich nicht an ihn glaube." Sprach's und machte sich auf zu seinem Garten vor den Toren von Grandola, der Stadt, die der portugiesischen Nelkenrevolution das Lied gab.
    Damit die Wahrheit nicht verloren geht
    "Nein, die Revolution wurde nicht verraten. Das Wichtigste ist passiert, wir haben jetzt den Anschluss an Europa gefunden, sind keine Insel mehr, und wir haben die Demokratie, die Werkzeuge der Demokratie. Aber nach der Revolution kam eine große Traurigkeit."
    Vor vier Jahren hat Lidia Jorge, die wohl angesehenste Autorin Portugals, ein Buch über die Nelkenrevolution geschrieben. Damit die Wahrheit nicht verloren geht. Die Wahrheit auch über Salgueiro Maia, den jungen Hauptmann, der seine Vorgesetzten entwaffnete, und dann mit seiner Kompanie vorrückte, auf der Praca de Commercio mit dem weißen Taschentuch vor die Panzer der salazartreuen Truppe trat, und die Soldaten zur Desertion in die Freiheit überzeugte; da war das Volk schon auf den Straßen und die ersten Nelken steckten in den Gewehrläufen. Salgueiro Maia, der mehrfach an diesem Tag Blutvergießen verhinderte und die Regierung vertrieb, Salgueiro, der nach der Revolution wieder von der Bühne verschwand, nicht mehr sein wollte als Soldat. "Wir waren das Modell für die gewaltlosen Revolutionen nach uns, die samtene im Osten, die der Katalanen. Wir haben gezeigt, dass es geht", sagt Lidia Jorge, die in der Algarve geboren ist, lange in Angola gelebt hat, deren Bücher oft die seelischen Folgen der Dekolonisierung ausmessen.
    Nelken und eine portugiesische Flagge zum Gedenken an die Nelkenrevolution
    Gedenken an die Nelkenrevolution (imago / Jorge Amaral)
    Sie ist stolz auf diese Revolution - mit einer Art Patriotismus, die an etwas rührt, das ich gern hätte: das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die mehr ist als eine Partei. "Aber im großen Ganzen haben wir keine große Meinung von uns selbst." Lidia Jorge zeigt auf den Fernseher: Sobald irgendwo auf der Welt ein Portugiese etwas leistet, und sei es dass er in einem amerikanischen Labor etwas entdeckt hat, kommt es sofort in die Nachrichten. "Wir sind hungrig nach Anerkennung."
    Es hat sie maßlos empört, als Christine Lagarde sagte: wenn die Ebbe kommt, sieht man eben, wer keine Hosen anhat. Man geht über solche Entgleisungen nicht so leicht hinweg, wenn wirklich gehungert wird, und das hat die Menschen auf die Straßen von Lissabon getrieben, mehr als eine Million. "Grandola vila Morena" haben sie wieder gesungen, auch im Parlament, als der Ministerpräsident wieder eine der Ruckreden hielt.
    Os memoráveis - das Denkwürdige, das Erinnerte, das Unvergessliche - so heißt Jorges Buch, in dem die Helden der Nelkenrevolution noch einmal aufgesucht werden, auch die Witwe von Salgueiro Maia, der nie einen politischen Posten angestrebt hat, den man ins Ausland versetzte, dem man sogar den Ehrensold versagte, den pensionierte Folterer der Geheimpolizei erhielten, Salgueiro der mit 48 Jahren an Krebs starb. Es ist ein bewegendes Buch, über traurige und stolze Menschen.
    "Wo bleibt die Wut?" fragt die freundliche Dame, die mir gegenübersitzt, "wenn ich auf meine Kinder blicke, meine Tochter und ihren Mann, sie arbeiten beide wie verrückt, haben nicht einmal einen richtigen Sonntag mit ihren zwei Kindern, dann frage ich mich: Wo bleibt die Wut? Ich wünsche sie mir, und ich fürchte sie, aber die Revolte wird hässlich sein. Keine Gewehre, eher schon Bomben." Aber bevor das Gespräch ganz im politischen Fado endet, zieht Lidia Jorge noch einmal historische Bilanz der Veränderungen, auch diese: "Die Frauen sind nicht mehr so gehorsam, selbst im Norden nicht, wo es immer noch oligarchisch zugeht. Sie sollten diese Frauen kennenlernen von der Linkspartei, sie sind so ernst, sie haben so viel Power, und sie machen keine überflüssigen Worte."
    Geringonca, das heißt so viel wie Klapperkiste, Rumpelauto - es ist inzwischen der offiziöse Name für die sozialdemokratische Regierung von Antonio Costa, die aus dem Diktat der Troika ausstieg, was möglich wurde, weil die Kommunisten und der Bloco Esquerda, der alternativ-feministische Linksblock sie toleriert, aufgrund einer Abmachung, die es Costa erlaubt, die Stabilitätskriterien zu erfüllen im Tausch gegen eine Lockerung der Austeritätsregeln: der Mindestlohn ist erhöht worden, die Privatisierungen sind gestoppt, der Staat stellt Arbeitnehmer ein, die Rentenkürzungen werden zurückgenommen.
    Und Europa, frage ich Lidia Jorge beim Abschied, was ist mit der Begeisterung für die Einheit Europas? "Ach, vielleicht ist das nur etwas für Intellektuelle, sagt sie, "vielleicht spielt es im realen Leben von normalen Leuten keine große Rolle. Vielleicht ist das ja etwas ganz alltägliches und nichts Großartiges".
    Der 25. April - für viele junge Portugiesen ist das der Namen einer Brücke - und die Namen von Salgueiro Maia oder Otelo de Carvalho und anderen Helden der Nelkenrevolution sind im öffentlichen Raum der Stadt nicht präsent, Salgueiro hat ein kurzes Stück Durchfahrtstraße im Niemandsland einer Vorstadtöde bekommen, in der Verlängerung der Johannes Paul II. Straße.
    Aber die Erbinnen der Nelkenrevolution, die sitzen jetzt im Parlament. Unter Wandgemälden, die im sozialistisch-faschistisch-New-Deal-mäßigen Einheitsstil der dreißiger Jahre das arbeitende Volk bei seinen grabenden, schraubenden und denkenden Tätigkeiten zeigen, in dunklen Möbeln, von männlichen Mitarbeitern umgeben, zählt Catarina Martins, Schauspielerin, Aktivistin und jetzt die Sprecherin des Bloco Esquerda auf, was Antonio Costas Regierung der Mitte - nein, selbst diese Sozialdemokratie würde sie nicht als links bezeichnen - , erreicht hat: nicht mehr jedes dritte, nur noch jedes fünfte Kind lebt in Armut, Wohnungslose sind jetzt erstmals in der Lage, Sozialhilfe zu beziehen, die Obdachlosigkeit hat abgenommen und eine Million Menschen bekommen einen Rabatt auf die Stromrechnung. Das klingt nicht groß, aber für Familien, die von drei oder vierhundert Euro oder vom Mindestlohn von 600 Euro leben müssen, ist es viel.
    Die Frage ist doch, welches Europa wollen wir."
    "Natürlich haben wir nicht die Kraft, strukturelle Veränderungen durchzusetzen, aber wir haben die Krise der Demokratie gestoppt", sagt Martins, "dieses Underdog-Gefühl bei den Menschen ein wenig gemildert. Demokratie geht nur, wenn die Menschen nicht das Gefühl bekommen, das Land gehört ihnen nicht mehr." Will der Linksblock raus aus Europa? Catarina Martins blickt mich verständnislos an. Was für eine Frage, sagt ihr Blick. "Die Leute sagen immer, wir sind gegen Europa, das ist doch Unsinn. Mein Gott, ich bin 44 Jahre als, ich lebe in Europa, meine Freunde sind über Europa verteilt. Die Frage ist doch, welches Europa wollen wir."
    Und auch Mariana Mortagua, die 31-jährige Wirtschaftsexpertin der Fraktion, balanciert zwischen sozialistischen Grundsätzen und dem Realismus des Möglichen.
    Mariana Mortagua
    Mariana Mortagua (Deutschlandradio / Mathias Greffrath)
    Sachlich und kühl in der Form und hart in der Aussage, das ist Mortaguas Stil, wenn sie nicht grade Zwischenrufe im Plenarsaal macht. Dass Costas Regierung als links gelte, das zeige doch, wie sehr die Stimmung in Europa nach rechts gerückt ist. Dass der letzte Präsident der Eurogruppe, ein Sozialdemokrat aus Holland, die Portugiesen beschimpfte, sie gäben ihr Geld nur für Alkohol und Frauen aus - das zeige doch, was in Europa zur Zeit als sozialdemokratisch durchgehe. Oder dieser neoliberale Europafreund in Frankreich, der an Märchen glaube. Nein, außer Corbyn in England sei nichts in Sicht.
    Als Ökonomin weiß Mortagua, dass es außerhalb des Euro schwierig sein würde, aber mit dem Euro kommt Portugal nie aus dieser Peripherie-Ökonomie heraus, bleibt verlängerte Werkbank, Quelle billiger Arbeit. Jeder wisse doch inzwischen, dass die Schulden neu verhandelt oder gestrichen werden müssten, aber an einen Schnitt sei zur Zeit nicht zu denken. Deshalb machten sie nicht mit in der Regierung, sondern dulden sie, gegen Zugeständnisse.
    "Meine Gründe", überlegt sie, und malt ein Blatt mit Pfeilen und Kreisen und Zahlen und Namen voll beim Reden, "meine Gründe, überhaupt einen Austritt zu erwägen, wären auch nicht ökonomisch, sondern demokratisch. Das zu retten, was noch da ist von der Demokratie. Die Mentalität von Furcht und Erniedrigung ist doch auch nach vierzig Jahren Faschismus nicht verschwunden. Man erzählt den Menschen, wir hätten über die Verhältnisse gelebt, es sei unsere Schuld, wir müssten um Geld betteln. Dieses Narrativ aus Katholizismus und Faschismus: wir haben gesündigt und brauchen Erlösung, lasst uns arm aber ehrbar sein." Sie schüttelt sich und dann erzählt sie von ihrem Vater: Camilo Mortagua. Der ist 84 Jahre alt. Als er geboren wurde, herrschte Salazars Faschismus, es gab keine Oberschule, nicht genug zu essen, und er ist barfuß gelaufen. Dann hat er die Revolution erlebt, den Aufbau des Sozialstaats, das Arbeitsrecht - und nun die Zerstörung all dessen... und alles das in einer Lebenszeit. Alle erworbenen Rechte sind fragil, auch wenn wir dazu neigen, das was wir haben, für selbstverständlich zu halten. Und jetzt, frage ich sie, wie geht es ihrem Vater jetzt damit? Ist er zynisch geworden? Nein, kommt es da, wie aus der Pistole geschossen. Der Stolz ist nicht zu überhören. "Mein Vater ist immer noch ein Revolutionär."
    Camilo Mortagua, so lese ich, zurück in Berlin, war in den Sechziger Jahren in der "Liga zur Einigung der revolutionären Front", beteiligt an der Entführung des Kreuzfahrtschiffs Santa Maria, mit der die Weltöffentlichkeit auf die Lage Portugals aufmerksam gemacht werden sollte, an einem Banküberfall zur Finanzierung des Widerstands, am Kapern einer Super Constellation, die über Lissabon Flugblätter abwarf.
    Als seine Tochter ins Parlament gewählt worden war, kamen Reporter und fragten ihn, ob sich das alles gelohnt habe. "Ja", sagte der Achtzigjährige, "ja, das ist keine Frage. Es lohnt sich immer, mit allen Irrtümern und Pannen. Auch wenn man glaubt, dass es nichts ändert, muss man es versuchen."
    Woraus sie ihre Energie beziehe, frage ich Mortagua, wenn es für alle großen Probleme Portugals und Europas zur Zeit keine Lösung gebe. Da kommt wieder, wie eine schnelle Rückhand, aber freundlich bestimmt, die Antwort: "Schritt für Schritt. Ich habe nicht diesen Glauben, dass wir eine Revolution in Gang setzen. Wir können nur so stark sein wie die soziale Bewegung. Aber auch die kleinen Veränderungen verändern das Leben. Das reicht zur Befriedigung".
    Wie hatte Lidia Jorge gesagt: Diese Frauen machen keine großen Worte. "Aber es hilft uns sehr, dass wir Frauen sind", sagt Catarina Martins. "Ich bin eine Frau, und deshalb reden die Frauen mit mir." Viele, auch Menschen ohne unmittelbare Not, kämen jetzt auf die Veranstaltungen, weil sie sich angehört fühlen. Und die Kollegen im Parlament, die aus den anderen Parteien und der eigenen? "Na ja", lacht sie, die hätten sich gewöhnt, "aber auch das ist noch keine 'strukturelle Veränderung'. Wenn die Presse über uns schreibt, geht es mehr um unsere Performance als um den Inhalt. Aber genau deshalb haben wir ja beschlossen, jemanden wie Mariana ins Parlament zu holen und nicht nur zuarbeiten zu lassen. Damit Frauen sichtbar werden."
    Mariana Mortagua, die Tochter des alten Revolutionärs, ist nicht mehr zu übersehen, seit sie in einer Anhörung zum Bankrott der größten Privatbank Portugals deren Chef sehr cool auseinandernahm - um daraufhin von der Mainstreampresse zum "poster girl " der linken gebranded zu werden - aber auch damit geht sie gelassen um.
    Es klingelt, die beiden müssen ins Plenum. An der Tür hält Catarina Martins noch einmal kurz inne, geht einen Schritt zurück und dreht das Licht aus. Und lacht: "Aber glauben sie nur nicht, wir wären dafür exklusiv zuständig."
    In der Konstruktion der Geringonca scheint etwas zusammenzubleiben, was die Sozialdemokratien des Kontinents ein Jahrhundert lang in sich vereinten, die Politik der kleinen Verbesserungen und das Festhalten am Fernziel - aber Portugal ist schließlich nur ein kleines Land am äußersten Rand Europas. Lissabon hat dem Vertrag für ein neoliberales Europa den Namen gegeben. Kommt aus dieser Stadt ein leises Signal für ein anderes Europa, für eine Wiedergeburt dieser Sozialdemokratien? Ich will es nicht beschwören.
    Schwingt überall mit: Die Nelke
    Gegenüber vom pompösen Parlament, auf der anderen Seite der Sao Bento, Hausnummer 173 steht auf einmal Jose Afonso vor mir, der Sänger des Lieds der Nelkenrevolutionlebensgroß auf schwarzem Grund, auf die Tür der "Assoceaciao Jose Afonso" kopiert, die Hand erhoben mit einer roten Nelke. Ziel des Vereins, in dessen Beirat, kaum überraschend, auch Camilo Mortagua und Otelo de Carvalho sitzen. Ziel des Vereins ist es, die Erinnerung an diesen Sänger wachzuhalten, aber neben anderem auch, "vor den subtileren Formen der Knechtschaft der Intelligenz zu warnen".
    Jose Afonso auf der Tür
    Jose Afonso auf der Tür (Deutschlandradio / Mathias Greffrath)
    Es regnet und ich steige in die Straßenbahn, irgendwo bin ich ausgestiegen, irgendwo habe ich dann eine Nelke gekauft, eine blaue Nelke auf einer kleinen weißen Kachel, einer alten Kachel, aus der Zeit noch vor den ersten Revolutionen der Neuzeit.
    Ach ja, eins bleibt nachzutragen: die Tochter von Salgueiro Maia lebt in Luxemburg. Sie arbeitet in einem Pflegeheim. "Natürlich", so sagte sie es einer Reporterin, "ist es der Traum eines Auswanderers, in sein Land zurückzukehren. Aber hier habe ich meine Arbeit, mein Zuhause, mein stabiles Familienleben. Ich habe einen Schutzhafen gefunden, eine finanzielle Stabilität, die es mir ermöglicht, zu leben und nicht nur zu überleben."
    Auf sechs Reisen sucht Mathias Greffrath nach dem, was die Europäer noch miteinander verbindet und macht eine fragmentarische Bestandsaufnahme. Gibt es ein gemeinsames kulturelles Erbe und nicht nur politisch ausbeutbare Identitäten? Wie steht es um die kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften, die Europa geformt haben, und die wir - in verwandelter Form - in die Zukunft mitnehmen müssen? In diesem Fall als Handgepäck - unauffällige Gegenstände, die man einsteckt im Vorübergehen, als Merkzeichen, als Erinnerungen, als Fetische der Zukunft.