Erster Schauplatz von Mathias Greffraths Reise ist eine Glockengießerei, in der der Wandel in der Tradition sichtbar wird: Die Glocken werden nicht mehr nach dem althergebrachten Verfahren gegossen, die Aufträge der Kirche gehen zurück. Glocken werden heute vor allem exportiert – genauso wie Verzierungen für Kuckucksuhren, die in Polen gefräst werden und auf der anderen Seite der Grenze als deutsche Wertarbeit über den Ladentisch gehen. Ähnlich zwiespältig begegnet dem Autor das Land im Umgang mit der Vergangenheit: Hinweise auf die jüdische Kultur voriger Jahrhunderte gibt es, doch ein Gesetz verbietet, Polen eine Mitverantwortung für den Holocaust zuzusprechen. Mathias Greffrath findet ein Land vor, das sich oft als Spielball der Mächtigen sah, ob von Diktatoren oder Großkonzernen. Jetzt gibt es eine laute konservative Regierung und der Opposition fehlt ein Gegenentwurf. Dem Autor wird klar: Aus dem Nationalismus heraus führt nur ein gemeinsames Erfassen und Verarbeiten der europäischen Vergangenheit. Daraus kann gemeinsames Handeln wachsen.
"Seit ein paar Jahren arbeiten wir nicht mehr mit den traditionellen Lehmformen, sondern mit Silikatsand und Estrofen-Harz als Härter"
Antoni Kruszewski führt mich in die alte Kunst des Glockengießens ein, in seiner verrußten Werkshalle am Rande von Wegrow in Masowien, achtzig Kilometer nordöstlich von Warschau, Richtung Weißrussland. Zwei mittelgroße Glocken hat er in der letzten Woche gegossen, mit seinem Vater Adam und seinem Cousin Wocziech, eine mit 150 Kilo, eine mit 220. Antoni, knapp fünfzig und groß und geduldig, nimmt sich viel Zeit, zeigt mir den großen Kessel aus Schamott, aus dem die Mischung kommt, mit einer Farbe wie Tomatensoße, erklärt mir das Verhältnis von Gewicht und Tonhöhe, die Differenz zwischen der 440 und der 435 Hertz Stimmung. Die Kruszewskis führen ihren Familienbetrieb seit 98 Jahren, die Website zeigt Handwerksstolz und die Familiengenealogie.
Die Glocken der Kruszewskis klingen auf allen Erdteilen, und natürlich in den Kirchen von Wegrow, den beiden katholischen und der evangelischen. Zwischen den großen Aufträgen machen sie kleine Glocken: für Jubiläen, für Schiffe und manchmal auch kleine Repliken der Höllenglocke, der Hell's Bell von ACDC, für die Fans, aber zu meinem Bedauern haben sie grade keine auf Lager. Für den Künstler Konrad Smolenski haben sie zwei große, unpolierte Glocken gegossen, deren Klang auf der Biennale von Venedig 2013 computerverfremdet eine metallene Wand im polnischen Pavillon zum Ächzen und Vibrieren brachte."Everything Was Forever Until It Was No More", so hieße die Installation: Alles schien ewig, bis es nicht mehr war.
"Deutsche Wertarbeit"
Seit der Wende lassen die Bestellungen der Kirche nach. Überhaupt die Kirche. Natürlich gehe er in die Kirche, sagt Antoni Kruszewski, aber die Priester ... sie seien neuerdings so geldgierig geworden. Er strahlt die Zufriedenheit eines Handwerkers aus, der unabhängig ist von irgendwelchen Wertschöpfungsketten. Dann fährt er mich ein paar Kilometer weiter zu seinem Verwandten Marek: dort werden in einer großen Halle Bretter aus Lindenholz gesägt und gehobelt, aus denen im ersten Stock drei Frauen, eingehüllt in Schleier aus Schleifstaub - der Arbeitsschutz hätte seine Freude - Eichenblätter, Vögel, Girlanden fräsen. Es sind Ornamente für Kuckucksuhren. Die werden im Schwarzwald zusammengesetzt, lackiert und als deutsche Wertarbeit für viele hundert Euro das Stück in alle Welt verkauft.
"In den letzten Jahrzehnten", so steht es in einer Broschüre des Zentrums für Ost-Studien, einer regierungsfinanzierten Denkfabrik in Warschau, "hat Zentraleuropa in hohem Maße zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft beigetragen" - in hohem Maße, das heißt, in hohem Maße als billiger Zulieferer von Vorprodukten aller Art - und eben auch für urdeutsche Dinge wie Kuckucksuhren. "Ja natürlich", sagt Marek, als ich mir einen kleinen Kuckuck aus hellem Holz in die Reisetasche mit dem Handgepäck stecke.
Glockengießer Kruczewski wollte mir einen Interviewtermin mit dem Bürgermeister von der Partei für Recht und Gerechtigkeit, PiS und mit dem Priester am Ort organisieren, aber die wollten nicht. Beide nicht. Man wisse nie, haben sie ihm gesagt, da gibt es immer Probleme mit der Übersetzung, so wie neulich wieder bei unserem Minister, in Brüssel. Also gut, dann nicht.
Ausgewählte Erinnerung
Auf dem geräumigen Marktplatz von Wegrow, die Stadt hat etwa 13.000 Einwohner, ist mit grauen Platten und Pollern viel Eurogeld versenkt worden. Eine Orientierungstafel empfiehlt den "Liebhabern der Geschichte" die "Sehenswürdigkeiten der Jüdischen Kultur", als da sind: das grasgrüne Holzhaus, in dem der Rabbiner Yaakow Mendel Morgenstern wohnte, bevor er gleich im September 1939 auf dem Marktplatz ermordet wurde. Weiter: das Lapidarium. Am Ende einer Sackgasse am Stadtrand, zwischen dem Hof einer Spedition, einem Parkplatz und ein paar Fabrikschuppen, verdeckt von parkenden Autos, liegen ein paar Trümmer von jüdischen Grabsteinen, die, so sagt es die Tafel, in den 60er Jahren zerschlagen wurden. Warum? Während der antisemitischen Ausschreitungen der 60er? Die Tafel sagt nichts dazu.
Nach dem ersten Weltkrieg waren viele jüngere Juden ausgewandert, um den Verfolgungen durch die polnische Bevölkerung zu entgehen; 1939 wohnten noch rund 5000 Juden in der Stadt. Die Nazis errichteten ein Ghetto, am 22. September 1942 wurden dort 2000 Männer, Frauen und Kinder ermordet und die anderen ins Todeslager von Treblinka verschleppt.
Seit Monaten wogt in Polen die Auseinandersetzung um ein Gesetz, dem zufolge es verboten ist, von "polnischen Todeslagern" zu reden oder in anderer Weise eine Mitwirkung des polnischen Staates oder der polnischen Nation am Holocaust zu behaupten. Es ist ein Gesetz, von dem sich Forscher wie der polnisch-kanadischen Historiker Jan Grabowski, bedroht fühlen. Durch Zufall hatte er, gerade als ich nach Wegrow fuhr, in einem Interview der Gazeta Wyborcza seine Forschungsresultate verteidigt. In einem seiner Vorträge lese ich Einzelheiten über die Mitwirkung der Polnischen Polizei, der Feuerwehrmänner, der Bürger von Wegrow an der Ermordung, an der Ausplünderung der Leichen, an der Suche nach "jüdischen Gold". Die Details sind widerlich.
Die Lesart, die zur offiziellen werden und mit neuen Schulbüchern und umgestalteten Museen durchgesetzt werden soll, heißt: der polnische Staat, die polnische Nation, die polnische Untergrundarmee hatten keinen Anteil an der Verfolgung und Ermordung von Juden, es hat nur Einzelfälle von Mitwirkung oder Denunziation gegeben. Präsident Duda und Ministerpräsident Morawiecki halten, trotz aller internationalen Kritik, trotzig an dem Maulkorbgesetz fest. "Antipolonismus", so heißt ein unschönes neues Wort. Die Polen möchten gern die größten Opfer der Weltgeschichte sein, spottete der liberale Freund in Warschau schon vor Jahrzehnten. Die jetzige Regierung, so scheint es, will diese Opfermentalität zur Staatsraison machen - und das nicht nur wegen des Antisemitismusvorwurfs.
Neben dem Eingang zur renovierten Barockkirche in Wegrow liegt ein stilisierter Grabstein, unter dem Kreuz steht "Katyn 1940 und Smolensk 10. 4. 2010", davor Blumen und Kerzen. Katyn, das war die Ermordung von 40 000 Mitgliedern der polnischen Elite der 2. Republik durch die Sowjets, Smolensk, das war der Absturz des Flugzeugs mit der politischen Elite der 3. Republik, darunter Lech Kaczynski, der Zwillingsbruder des autokratischen Führers der Partei für Recht und Gerechtigkeit, PiS. Das Gedenken an Smolensk, es ist eins der Rituale geworden, mit denen die Nationalkonservativen ihre Anhänger zusammenschweißen.
Auch in Warschau wird auf Schritt und Tritt der Kampf um falsches Vergessen und richtiges Erinnern gekämpft. Am Zaun des Justizministeriums hängen Dutzende von überlebensgroßen, blutrot getönten Portraits von Kämpfern der Polnischen Heimatarmee, der "Vergessenen Soldaten", die aus dem Untergrund gegen die Deutschen kämpften und ihren Kampf um die polnische Freiheit mit Attentaten und Sabotage im kommunistischen Polen fortsetzten. Witold Pilecki - wer kennt bei uns den Namen des patriotischen Offiziers dieser Untergrundarmee, der sich 1940 freiwillig ins Lager von Auschwitz schleusen ließ, und zweieinhalb Jahre nach draußen berichtete, um eine Intervention der Alliierten zu veranlassen - und nach dem Krieg von den sowjethörigen Kommunisten zum Tode verurteilt wurde. Ich kannte ihn nicht.
Der "heilige Bezirk Warschaus"
Der Pilsudski-Platz - so spotten die liberalen Freunde - ist zum Heiligen Bezirk Warschaus geworden. Alle Stunde wird die Wache am Grab des Unbekannten Soldaten abgelöst, rund um die Uhr. Auch bei bitterer Kälte. Als ich die Aufschrift lesen will und dabei dem Sarkophag auf drei Meter nahekomme, brüllt mich einer der Soldaten - von hinten wird er unauffällig mit Warmluft aus dem Generator beheizt - so heftig an, dass ich einen schnellen Rückzug antrete. Gegenüber, auf der Ostseite des Platzes ein gigantisches Kreuz, das an den polnischen Papst erinnert. Und dazwischen, seit einigen Wochen, die Steinerne Gangway, die an die Gefallenen von Smolensk erinnert. Pilsudski, der Papst, das polnische Militär und der tote Präsident Kaczynski - sie bilden das ideologische Viereck vieler Reden Jaroslaw Kaczynskis, des "Prälaten", wie er in seiner Partei heißt - ein Mann, über dessen Pläne für Polen man nur Vermutungen anstellen kann: mehr Anerkennung für Polen, eine konservative Revolution mit Bevölkerungspolitik und Familienideologie, eine osteuropäische Variante der sozialen Marktwirtschaft, oder gar die Rechristianisierung Europas, wie es sein Ministerpräsident Morawiecki nach seiner Berufung in die Mikrophone sprach? Für all das gibt es Indizien. In Kaczynskis schlichter Wohnung stehe eine Büste Pilsudskis, des autoritären Generals, der am Ende der Zwischenkriegsrepublik mit dem Parteienstreit aufräumte, und zu seinen Lieblingsautoren gehörten Carl Schmitt und Machiavelli.
Durch das Museum des Warschauer Aufstands, ein umgebautes Straßenbahnkraftwerk, auf das die Architekten eine Art Gefängnisaufsichtsturm gesetzt haben, werden in Abständen von fünfzig Metern Schulklassen geführt. Gleich das erste Exponat trifft mich, unerwartet. Im Halbdunkel, umgeben von ein paar Zwölfjährigen, das historische Schild "Nur für Deutsche" , dahinter die einrückenden Truppen. Hier beginnt ein düsterer Parcours durch sechs Jahre deutscher Besatzung und die anschließende Verfolgung, Verschleppung und Ermordung polnischer Patrioten durch die stalinistischen Sowjets - vor allem aber durch die Tage des heroischen, und mit der totalen Zerstörung Warschaus endenden Aufstands.
Ein solches Museum sei erst nach der Wende möglich geworden, sagt der stellvertretende Direktor Pawel Ukielski, der das Museum mitkonzipiert hat, im Stalinismus und lange danach war Aufstand der Heimatarmee ein Tabu, die Postkommunisten und die Liberalen hätten sich darauf geeinigt, die Vergangenheit ruhen zu lassen; kein Streit, statt dessen "Warmes Wasser aus der Leitung", aber nichts für die Seele. Und international habe der Warschauer Aufstand in der Welt lange im Schatten des Ghetto-Aufstands gelegen, vergessen worden seien die drei Millionen toten Polen, die Wunden in fast jeder Familie. Am Ende des Museumsrundgangs steht ein überlebensgroßes Foto der drei Sieger - Roosevelt, Churchill und Stalin herzlich lachend in Yalta - und ich fange an, mich in diese polnische Mentalität einzufühlen: Immer nur Gegenstand der Entscheidungen der Großen, wieder einmal nach ihren Plänen zugeschnitten. Es ist ein Gefühl, das sich bis heute durchzieht.
"Auch die Zeit nach 1989 war für uns eine Zeit der Enttäuschungen", sagt Pawel Ukielsky. "Wir dachten, wir wären willkommen, endlich gleichberechtigt. Aber schon bald hatten wir immer stärker den Eindruck: Wir werden nicht Mitglieder im Club der Gentlemen. Also besinnen wieder auf uns."
Die PiS, so erklärt es mir, sei die erste Partei, die etwas für die einfachen Menschen leiste. Der neue Premier Morawiecki redet gern davon, er wolle es den Mafias nehmen und den Armen geben, der kapitalistischen Invasion aus dem Westen, der Kolonisierung der Werte Einhalt gebieten. Aber warum muss sich dieser nationale Sozialdemokratismus, wenn es denn einer ist, so ungut mit dem fremdenfeindlichen und geschichtsklitternden Nationalismus verquicken, der sich im Holocaust-Gesetz zeigt? Vielleicht ist es auch eine Generationenfrage.
"Ich hätte mir jedenfalls noch nicht vorstellen können", sagt Pawel Ukielski, der 13 Jahre alt war, als die Mauern fielen, "dass ich, vorm Fernseher für die Deutschen fiebere bei der Europameisterschaft, wie mein Sohn es jetzt tut. Er ist übrigens, da kann ich Sie beruhigen, Borussia Fan - trotz Lewandowsky". Vielleicht wäre auch das mal ein Kulturidee: eine Wanderausstellung in Sachsen und Masowien - über all die Kwiatkowskis und Tureks in der älteren deutschen Fußballgeschichte - und die Boatengs in der heutigen.
"Mein Leben passt nicht zu ihnen"
Die erste Regierung, die etwas für die armen Schichten der Bevölkerung tut - das stimmt zumindest, wenn man es relativ sieht und nicht auf das generell gestiegene Lebensniveau. Kindergeld und Nationalgefühl als Kompensation für die Exzesse der neoliberalen Gründungsjahre der 3. Republik, die auch hier mit undurchsichtigen Privatisierungen einhergingen.
"Es ist absurd" sagt mir der Steuerberater im Zug nach Krakau, "sie machen eine gute Sozialpolitik, sie haben ein paar schlimme Steuerschlupflöcher gestopft, sie bauen Wohnungen - alles Dinge, die die Liberalen von der Bürgerlichen Plattform nicht hingekriegt haben. Aber ich kann sie nicht wählen. Mein Leben passt überhaupt nicht zu ihnen: Ich habe zwei Kinder von zwei Frauen, die ungefähr gleichzeitig geboren wurden, meine Schwester ist lesbisch. Was soll ich wählen? Eigentlich bin ich liberal, aber nachdem ich den Autor Piketty gelesen habe und Robert Reich und sehe, wohin der Liberalismus führt, geht das auch nicht mehr. Vor zwei Jahren konnte ich mir noch nicht vorstellen, Sozialdemokraten zu wählen, aber jetzt..." Die Sozialdemokraten, die es bei den letzten Wahlen nicht ins Parlament geschafft haben.
Auf dem großen Markt von Krakau haben sich dreitausend Menschen um das Denkmal von Adam Mickiewicz versammelt. Ein Kollege ruft mich an, aufgeregt: in Warschau demonstrieren mindestens 50 000, er glaubt, es könne der Beginn eines neuen 68 sein. Eine Stunde lang wird getrommelt, werden Reden gehalten gegen die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes - nur noch Vergewaltigung, Inzest oder Todesgefahr der Mutter sollten als Gründe gelten, auch nicht überlebensfähige Föten sollen geboren werden - "dann kann man sie wenigstens taufen und ihnen einen Namen geben", hatte Kaczynski dazu gesagt, aber jedesmal zurückgezogen, wenn die Proteste zu scharf wurden.
Als die Demonstration sich aufgelöst hat, zieht eine kleine Schar, umgeben von doppelt so viel Polizei, vor das Palais des Erzbischofs, über dessen Eingang der Papst lächelt - natürlich der polnische Papst - und trommelt dort weiter "Szkoła wolna od kościoła" skandieren sie. Die Kirche soll sich aus der Schule raushalten - aber vielleicht ist das hier die falsche Adresse. Achtundsechzig? Die Konfliktfront zwischen einem Teil der jungen urbanen gut ausgebildeten Schicht und der Regierung liegt auf der Straße, aber sie hat keine Entsprechung im Parlament, und dieser punktuellen Demonstration gegen die Attacken der Regierung auf Recht und Verfassung fehlt eine positive Idee.
"Wir haben nicht zuviel, sondern zu wenig Ideologie in der Gesellschaft", hatte mir am Tag zuvor eine ehemalige Diplomatin in Warschau gesagt, "es gibt hier keine Opposition mit einem Plan". Auch sie wirkte ratlos und verzweifelt: die Mafia in Budapest würde die EU aushalten, aber ein ideologisch aggressives antidemokratisches Polen nicht.
Später am Abend treffe ich mich mit Ziemowit Szczerek, Kolumnist, Schriftsteller, Reporter, eine Art politischer Jack Kerouac, immer unterwegs in Osteuropa, mit einem liebevoll-präzisen Blick auf die osteuropäische Unordung. "Mordor kommt und frisst euch alle auf" , so heißt sein episches Roadmovie, ein alkoholgetränkter Reisebericht in die Ukraine, eine Realsatire mit dem bösen Blick auf die Polen, die dorthin fahren, um auch einmal zu erleben, wie es ist, nicht der letzte Arsch zu sein. Propaganda heißt die völlig verqualmte Bierbar gegenüber der Tempel Synagoge, drinnen dichter Qualm, Dartpfeile, die Wände tapeziert mit alten Plakaten vom Neuen Menschen, Trabiresten und anderen Devotionalien aus der Zeit des realen Sozialismus. Irgendwann nach diversen Wodka, die uns die blonde Barfrau bringt, manchmal ist das Leben eben doch wie im Klischee, kommen wir auf die Frage, was den Westen eigentlich am Osten interessieren könnte.
"Na ja, Ihr seid Zentrum, und wir sind Peripherie. Ich finde Zentrum ja langweilig, aber gut, wenn Ihr Euch in Eurem goldenen Käfig einsperren wollt, bitte sehr", sagt Szczerek und dreht die Base Cap um, "was kann die Peripherie bieten? Nichts so Schönes wie die im Süden: Küche, Musik Idylle, dolce vita. Hier muss man schon was übrig haben für diese Ekelstrainingshosen mit Wodka im Plattenbau oder für Balkanmusik und russische Raketenwerfer. Mehr ist da nicht drin, fürchte ich."
Natürlich könnte man ein paar originelle Ideen entwickeln, so neu, dass sie sogar den Westen inspirieren. "PiS ruft immer: Wir sind das Zentrum, aber vom Rufen kommt nichts, und die Ungarn, die ihr Geld damit verdienen, dass sie als billige Arbeiter die Autos der Deutschen bauen, spielen sich auf, als retten sie Europa vorm Ansturm noch billigerer Arbeiter."
"Es geht doch darum" überlegt er, "dass wir aus der Falle dieser Halb-Entwicklung in der Randlage raus müssen. Vielleicht ist ja nicht viel möglich, aber auf jeden Fall denkt die jetzige Regierung mal drüber nach, was schon viel früher hätte passieren müssen. Aber unglücklicherweise machen wir das grade wie der Iran, mit Inzucht und völlig ohne eigene Perspektive. Und im Westen gibt es nicht einmal den Versuch zu verstehen, warum die Leute hier ein Problem mit den Migranten haben. Stattdessen wird dann die ganz Region dafür verantwortlich gemacht, dass wir diese Arschlöcher wählen."
Und dann erzählt er mir von einer Idee, von der ich bei uns noch nichts in der Zeitung gelesen habe: Via Carpathia - ein Verkehrskorridor, der die Ostsee mit dem Ägäischen Meer und durch Abzweigungen mit der Adria und dem Schwarzen Meer verbindet. "Das wäre doch ein schönes Projekt, das würde den Osten stärker machen und verbinden, aber das kann man ehrlicherweise nur innerhalb der EU verwirklichen, nicht gegen sie. Naja, und wollen wir der Sache ins Gesicht sehen, da mischt natürlich Deutschland die Karten.
Deutschland nützt die europäische Arbeitsteilung
Der trunkene Blick auf die Machtverhältnisse war so klar, dass mir der junge Ökonom im Institut für Ost-Studien, der Denkfabrik der Regierung, fast Leid tut. Von Polen könne eine Erneuerung ausgehen, hatte der gesagt: zum Beispiel von seiner Arbeitsmoral – 1928 Stunden arbeitet der statistische Durchschnittspole im Jahr, anderthalb mal soviel wie sein deutscher Kollege; vor allem aber habe Deutschland den größten Nutzen von der Arbeitsteilung mit den mitteleuropäischen Staaten, es täte gut daran, sich gut zu stellen mit ihnen. Außerdem könnte Polen ein enger Partner werden bei der Durchsetzung der Austeritätspolitik gegenüber den Südländern.
Und als ich ihm entgegnete, so würden wir Europa nie vereinen und überdies, die Kräfte des Marktes seien stärker als aller Patriotismus, der Konsum werde die Geburtenraten drücken, und der Markt die Abwanderung aus Polen verstetigen - Nein, der Weg aus der Peripherie in eine von allen geteilte Mitte setze mehr, nicht weniger Integration voraus. Da lächelte der junge Ökonom, der viel mehr Zahlen parat hat als ich, er lächelte dieses Lächeln, das da heißt: Wir werden sehen.
Palmsonntag, in Nowa Huta, der Hüttenstadt, mit dem Stahlwerk, das heute vom indischen Mittalkonzern betrieben wird, drumherum das bewohnte Freiluftmuseum der heroisch-sozialistischen Umerziehungsarchitektur. Am Rande die "Arche des Herrn", die "Kirche der Mutter Gottes, der Königin Polens", das überdimensionale Pendant von Le Corbusiers Ronchamps im Westen des Kontinents. Sechsmal läuten die Glocken an diesem Morgen und jedesmal ist die riesige Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt. Neben dem Denkmal des Polnischen Papstes die Neonschrift von Radio Maria, dem erzkonservativen, ultraklerikalen Sender aus Thorun, der immer noch verkündet, der Teufel spreche oft arabisch. Nowa Huta wählt rechts, aber die Kirche, noch weit entfernt davon, pluralistisch zu sein, differenziert sich gerade ein wenig aus; Priester, Bischöfe, selbst der Primas der Kirche Wojciech Polak, kritisieren vorsichtig den Anschlag der Nationalisten auf die unabhängige Justiz, fordern zur Aufnahme von Flüchtlingen auf, drohen Priestern, die gegen Migranten demonstrieren mit Suspendierung. Vorsichtig wird es pluralistisch in der Kirche und offiziell nur wenig, denn in anderen Fragen, wie der Abtreibung oder dem Religionsunterricht, harmonieren Kaczynskis Partei und die Katholische Kirche sehr gut.
Aber die Säkularisierung ist auf dem Vormarsch, der Kirchenbesuch geht zurück. Jan Zaryn beklagt das sehr. Der Senator der PiS ist im Unfrieden mit dem Papst, wobei es dazu in seiner Familie wohl auch andere Meinungen gibt. Und das macht die Sache nicht besser, denn der Frieden in der Familie ist ihm heilig, gleich neben Kirche und Staat. Franziskus, so der Senator, predige gegen den kapitalistischen Konsumismus, einverstanden, aber dann habe er eben auch Verständnis für die Geschiedenen. "Aber wenn man am Dogma rüttelt", Zaryn sieht mich an, als könnte man gar nicht anders denken, "dann wankt die Autorität der Kirche."
So zivil und freundlich und nervös, wie der Senator der PiS mich begrüßt hat, ein schlanker Sechziger mit einer großen Brille, der noch schnell den Müll rausbringt, zivil, ohne Pomp und Arg, möchte man ihn eigentlich als Nachbarn haben. Vor der Tür bunte Kreidezeichnungen auf dem Trottoir. Die Enkel, sagt Zaryn, sechs sind es, und meist kommen sie am Wochenende in das eher bescheidene Reihenhaus in der Vorstadt.
Aber Senator Zaryn ist knallhart, ein katholischer Fundamentalist, sein Gebiet die Identitätspolitik: die Rehabilitation der Polnischen Heimatarmee und der antisowjetischen Helden, die Bekämpfung der Lügen über die Kollaboration von Polen im Holocaust, die Wiederherstellung der Allianz von Kirche und Staat. Zaryn, dessen Vater als Architekt die Altstadt Warschaus mit aufbaute, kann sehr grob austeilen: Die Dame sollte dann vielleicht unser Land verlassen, sagte er, als die israelische Botschafterin über anwachsenden Antisemitismus klagte. "Die Demonstranten gegen das Abtreibungsgesetz und den Religionsunterricht sind intolerant" erklärt er mir, in dem Wohnzimmer, in dem eine kleine Ahnengalerie in Öl hängt, als letztes, über dem Sofa, das eigene Bild, ein Geschenk zum 60. Geburtstag, "sie sind intolerant, weil es diese Allianz von Kirche und Staat schon immer gab in der polnischen Geschichte. Und weil wir eine Demokratie haben, und in der Demokratie bestimmt die Mehrheit die Richtung."
Die Nation steht über dem Recht, das ist, wenn man so will, die Theorie dahinter, und dahinter steckt, wenn man verstehen will, warum leidlich kluge Menschen so etwas vertreten: die Erfahrung, dass das Recht so oft das Recht der Besatzer war: der Russen, der Nazis, der Kommunisten, und nun des Westens. Immer ist es "Wir" und "Die".
Die Wahrheiten von Senator Zaryn sind mit Argumenten nicht zu erschüttern. Gegen Ende eines Gesprächs, das sich in endlosen Schleifen verliert, scheint eine der Wunden auf, die die dogmatische Unfähigkeit zum Argumentieren erzeugt hat: die Nationen des Westens und die Juden hätten die Geschichtsschreibung über den 2. Weltkrieg dominiert, klagt Zaryn, der Historiker. Die Polen seien nie gefragt worden. So sei es zu den drei Dogmen des Westens gekommen: Erstens, die Nazis waren die Täter, die anderen haben zugesehen, den Juden geholfen haben nur einige. Zweitens, die Rote Armee hat Europa befreit. Drittens, Yalta hat den Frieden gerettet. "Und in diesem Format kommen wir nicht vor, sagt er, "aber es passt nicht zu den Erinnerungen in unseren Familien. Unsere Wahrheit heißt: die Rote Armee hat uns besetzt, Yalta hat die Polen verraten. Wir waren Opfer, und der Welt war es egal. Wer weiß denn, dass wir seit 1942 eine Regierung hatten, die dazu aufgerufen hat, den Juden zu helfen? Nur diese Wahrheit will diese Regierung mit dem Gesetz verbreiten."
Aber, so wende ich ein, sie kommt mir dabei vor wie einer, der in die Bar kommt, und als keiner am Tresen ihm zuhören will, schmeißt er ein Glas an die Wand. Da lacht der Senator: "Ja, vielleicht so ungefähr." Und dann sagt er etwas, das gar nicht selbstsicher und stolz klingt: "Aber Ihr seid verpflichtet, dabei mitzuhelfen. Deutschland hat die Werkzeuge und die Mittel, die europäische Mentalität zu prägen. Polen hat nicht die Kraft dazu."
Nochmal ein Kniefall
Wir könnten ihnen aus der Verhärtung, aus dem Dogma, aus der Spaltung der Nation helfen - so schreibt es Konrad Schuller, der kluge Korrespondent der FAZ, zum Streit um das Holocaust-Gesetz - wenn wir den Kniefall immer noch einmal machen, wenn wir keinen Zweifel daran ließen, wo die Verantwortung für das Große Unrecht liegt. Das ist nicht einfach, eine Form dafür zu finden, auch wenn man es will, aber dann könnten wir vielleicht auch anders über den Antisemitismus der Polen reden - über die Tatsache, dass nach dem Ersten Weltkrieg so viele Juden aus Wegrow auswanderten, um den Verfolgungen zu entgehen, über die Zunahme der Judenfeindschaft in letzter Zeit. Über den Antisemitismus als europäisches Phänomen. Und vielleicht auch über andere Traditionen, die uns nicht trennen, sondern vereinen könnten. Linke Traditionen, die, weil sie links sind, nur unter dem Radar fliegen.
"Die Zukunft wird anders sein": Kinder aus dem jüdischen Viertel im Landheim "Kleines Eden", sie turnen, sie basteln, sie wandern und singen. Der ungarische Regisseur Alexander Ford, der Lehrer von Roman Polanski und Andrej Wajda hat den Film "Kinder müssen lachen" gedreht, 1936, mit Schnitten und Einstellungen, die an den frühen sowjetischen Film erinnern. Die Bilder wechseln von der Totalen in Porträts in die Stilleben von Zahnputzbechern und Szenen der Lernens oder Spielens - abgesetzt gegen die Düsternis der armen jüdischen Viertel in Warschau. Der Film wurde gerettet und wird hier auf ein riesiges Tablet mitten im Raum projiziert, in der Ausstellung über "Visionen und Projekte gesellschaftlicher Modernisierung" nach dem Ersten Weltkrieg. In sechs Sälen der Zacheta, der staatlichen Galerie für moderne Kunst, kann man die Aufbruchsjahre besichtigen: die Welle der Revolutionen in Architektur, Theater, Film, die Genossenschaftsgründungen, die Kultur der Arbeiterbewegung. Emanzipation der Frau, Sexualaufklärung, Bauhausdesign, Städtebau. Es war eine Zeit, in der viele Ideen, die vorher keine Chance hatten oder unterdrückt waren, auch in Polen mit Macht zur Verwirklichung drängten. Es ist eine dezente Erinnerung daran, dass eine Zeit lang in dieser zweiten Polnischen Republik etwas anderes möglich war als die Engführung auf ein homogenes und konservatives Polentum, dass es pluralistisch und hell war, und das ehedem ausgegrenzte Gruppen wie Frauen, Kinder, Arbeiter und ethnische Minoritäten dazu gehörten.
"Warum müssen wir unsere Identität denn immer aus Verhängnis und Düsterkeit destillieren, aus diesen verlorenen Schlachten und erfolglosen Heldentaten. Wir haben doch auch diese andere Eigenschaft: Wir Polen sehen ein Problem kurz an, und dann, zack, eins, zwei, drei machen wir uns an die Lösung." Zygmunt Miloszewski, hat drei Kriminalromane geschrieben, deren Held der Staatsanwalt Teodor Szacki ist. Die Aufklärung eines seiner Morde führt in die Archive des Instituts für Nationales Gedenken und tief in die Vergangenheit. Es gibt keine Bösen, es gibt nur Verstrickungen - das Zitat steht als Motto am Anfang des Romans. Es ist von Bert Hellinger, dem umstrittenen Begründer der Familienaufstellung. Vielleicht wäre das ja die Lösung. Nicht das Europa der Vaterländer und auch nicht jedem sein Vaterland der Völker, sondern eine europäische Familienaufstellung, in der wir die Leichen im europäischen Kellern nicht mehr verstecken und auch nicht zur Abwehr der eigenen Veränderung gegeneinander in Stellung bringen, sondern sie akzeptieren als ein gemeinsames Erbe, als geteilte Niederlagen. Es könnte uns zu Helden machen - zu Helden des Rückzugs aus nicht mehr haltbaren Stellungen. Und zur Schatzsuchern in der gemeinsamen Geschichte.
Auf sechs Reisen sucht Mathias Greffrath nach dem, was die Europäer noch miteinander verbindet und macht eine fragmentarische Bestandsaufnahme. Gibt es ein gemeinsames kulturelles Erbe und nicht nur politisch ausbeutbare Identitäten? Wie steht es um die kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften, die Europa geformt haben, und die wir - in verwandelter Form - in die Zukunft mitnehmen müssen? In diesem Fall als Handgepäck - unauffällige Gegenstände, die man einsteckt im Vorübergehen, als Merkzeichen, als Erinnerungen, als Fetische der Zukunft.