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Europameister Portugal
Der Triumph kommt zur rechten Zeit

Der Erfolg der Portugiesen bei der Fußball-Europameisterschaft sei ein wichtiger Sieg für die geschundene portugiesische Seele, meint Thilo Wagner. Die Krise der vergangenen Jahre habe tiefe Wunden gerissen. Die Freude über den EM-Titel schweiße zumindest für ein paar Tage eine Nation zusammen, die eigentlich sehr zerrissen sei.

Von Tilo Wagner |
    Jubelnde Portugiesen auf dem Platz
    Der Traum hat sich zum ersten Mal erfüllt - Portugal ist Europameister (Revierfoto, dpa picture-alliance)
    Seit dem Schlusspfiff im Endspiel gegen Frankreich in Paris gibt es in Portugal nur noch ein Thema. Der Fußball verdrängt alles, und das Land schaut stolz auf sich selbst. Wie wichtig dieser Sieg für die geschundene portugiesische Seele ist, lässt sich kaum in Worte fassen. "Episch" titelt die eine Zeitung, "Tapfere und unsterbliche Nation" die andere. Natürlich: Autokorsos, Fanmeile, Nationaltrikots und wehende Fahnen – das gehört mittlerweile zum Standardprogramm für alle Welt- oder Europameister. Doch in Portugal hat dieser Erfolg eine Bedeutung, die über den Sport hinausgeht.
    Der portugiesische Philosoph José Gil hat das in einen treffenden Vergleich gepackt. In Portugal, so Gil, gäbe es mittlerweile zwei Pseudoreligionen: Die Krise und den Fußball. Auf der einen Seite der Gedanke, dass die Nation Portugal in den Stürmen der Finanz-, Staatsschulden- und Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre in den Abgrund gerissen werde und das Land aufhöre, zu existieren. Und auf der anderen Seite die Hoffnung, dass durch einen Sieg im Fußball die Nation doch noch gerettet werden könne.
    Fußball ist ein bindendes Element
    Der Fußball hat in Portugal einen besonderen Stellenwert. Tagtäglich erscheinen drei auflagenstarke 50-Seiten-schwere Fußballzeitungen. In den Cafés und Bars dient das lockere Gespräch über den Ballsport als Eisbrecher. Und selbst unter Künstlern und Intellektuellen ist die Gruppe, die gar nichts mit dem Fußball anfangen kann, in der Minderheit. Der Fußball ist ein bindendes Element in einer portugiesischen Gesellschaft, die nur wenige positive Momente erlebt. Im Sport sonst ist Portugal eigentlich ein unauffälliger Akteur: Seit dem Beginn der Olympischen Spiele der Neuzeit vor 120 Jahren konnte das Land gerade einmal vier Goldmedaillen gewinnen. Und auch im Fußball stand Portugal zwar häufig kurz davor, aber ein großer Titel war dem Land bisher verwehrt geblieben. Mit dem Ausnahmefußballer Eusébio in den 1960er-Jahren wuchs in Portugal die Hoffnung, auch einmal ganz oben auf dem Treppchen stehen zu dürfen. Ein halbes Jahrhundert später ist aus dem Traum Wirklichkeit geworden.
    Der Triumph kommt zur rechten Zeit. Die Krise der vergangenen Jahre hat tiefe Wunden gerissen. Portugal ist zwar nicht ganz so sehr ins Kreuzfeuer der europäischen Finanzhüter geraten wie Griechenland. Aber die ständigen Zweifel an der Wirtschaftsleistung und dem Entwicklungsniveau des Landes sind auch an den Portugiesen nicht spurlos vorbeigegangen. Vor allem weil die Portugiesen eine zwiespältige Antwort gefunden haben: Hemmungslose, selbstzerfleischende Kritik im Inneren, und gleichzeitig die Verteidigung des Landes gegenüber Europa.
    Liebe zum Heimatland ist ungebrochen
    Die Freude über den EM-Titel schweißt zumindest für ein paar Tage eine Nation zusammen, die eigentlich sehr zerrissen ist. In kaum einem anderen europäischen Land sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich so groß wie in Portugal, und die Krise der vergangenen Jahre hat diese Tendenz verstärkt. Gleichzeitig leben fast ein Fünftel aller Portugiesen im Ausland, weil sie ihrem Land auf der Suche nach einer besseren Zukunft den Rücken gekehrt haben. Gerade in Frankreich, wo rund 600.000 portugiesische Emigranten leben, sind die Portugiesen, die größtenteils aus einfachen, ländlichen Verhältnisse stammen, nicht selten zur Zielscheibe für Spott und Hohn geworden. Der Triumph ausgerechnet in Paris trägt deshalb einen besonders süßen Beigeschmack.
    Trotz der wirtschaftlichen Zerrissenheit ist Portugal weiterhin eine Nation, in der die Liebe zum Heimatland ungebrochen ist. Das historische Erbe der Portugiesen aus der Zeit der Entdeckungen spielt beim Aufbau des patriotischen Grundgefühls genauso eine Rolle, wie die Nelkenrevolution Mitte der 70er – und eben auch der Fußball.
    Vor 12 Jahren hatte Portugal im eigenen Land das EM-Finale gegen Griechenland verloren. Für die kleine iberische Nation war das eine Tragödie. Nach dem Sieg in Paris richtete jetzt Portugals Nationaltrainer Fernando Santos, der jahrelang in Griechenland gearbeitet hat, ein paar Grußworte auf Griechisch nach Athen. Die Verbrüderung zwischen den gepeinigten Krisenstaaten Europas findet zumindest im Fußball einen versöhnlichen Abschluss.