Europaparlament
Die komplexe Suche nach Mehrheiten

Im Gegensatz zum Deutschen Bundestag gibt es im EU-Parlament keine strikte Trennung zwischen Regierung und Opposition, daher gibt es weder Koalitionen noch Fraktionszwang. Wie kommen dann Mehrheiten zustande?

Von Peter Kapern | 31.05.2024
    Flaggen der EU-Staaten und der Ukraine sowie die EU-Flagge wehen vor dem EU-Parlament in Straßburg.
    Mehrheiten kommen im EU-Parlament völlig anders zustande als in den Parlamenten der Nationalstaaten. (IMAGO / Panama Pictures / Dwi Anoraganingrum)
    Die Abläufe nach einer Bundestagswahl gleichen einem Ritual: Sondierungsgespräche – Koalitionsverhandlungen – Vertragsunterzeichnung – Parteitage – Kanzlerwahl. Im Europaparlament läuft die Sache ganz anders. Denn dort gibt es keine Koalitionen, keinen Fraktionszwang und deshalb auch keine festgefügten Mehrheiten.

    Inhalt

    Wie wird ein Kommissionspräsident bestimmt?

    Wie ein Präsident der EU-Kommission in sein Amt kommt, das ist in Artikel 17, Absatz 7 des EU-Vertrags festgelegt. Dort ist ein zweistufiges Verfahren beschrieben. In einem ersten Schritt müssen sich die Staats- und Regierungschefs mit qualifizierter Mehrheit (55 Prozent der EU-Mitgliedsstaaten, die gleichzeitig 65 Prozent der EU-Bürger vertreten) auf einen Kandidaten oder eine Kandidatin verständigen.
    Dabei sollen sie das Ergebnis der Europawahl berücksichtigen. Eine Formulierung, die nahelegt, dass der Wahlsieger, also die stärkste Fraktion im Europaparlament, den Kommissionspräsidenten stellen soll. Aber der Satz schließt auch andere „Lesarten“ eines Wahlergebnisses durch die Staats- und Regierungschefs nicht aus, es ist ein sogenannter Gummi-Paragraph.
    In einem zweiten Schritt wählt das Europaparlament dann den Kandidaten mit absoluter Mehrheit, also mit der Mehrheit aller Abgeordneten. Dabei hat jeder Kandidat nur einen Versuch. Fällt er im Parlament durch, muss der Europäische Rat einen anderen vorschlagen.

    Ein schwieriger Balanceakt

    Der Weg vom Kandidaten zum Kommissionspräsidenten ist also komplizierter als der Weg eines Bundeskanzlers ins Kanzleramt. Dieser braucht lediglich eine ausreichende Mehrheit im Bundestag. Ein Kommissionspräsident muss aber zwei Mal eine Mehrheit erreichen - in der Runde der Rats- und Regierungschefs und anschließend im Parlament.
    Diese Institutionen können aber politisch sehr unterschiedlich zusammengesetzt sein. Zum Beispiel könnten im Parlament rechtspopulistische Parteien marginalisiert sein, während gleichzeitig mehrere Regierungschefs dem rechtspopulistischen Lager zuzurechnen sein könnten. Sowohl bei einem Gipfel als auch im Parlament eine Mehrheit zu finden, kann für einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten also einen sehr schwierigen Balanceakt darstellen.

    Welche Rolle spielt das Spitzenkandidatenprinzip?

    Das Spitzenkandidatenprinzip ist vor mehr als zehn Jahren von Europaabgeordneten ersonnen worden. Damals war die Beteiligung an Europawahlen äußerst gering, lag nur knapp über 40 Prozent. Mit der Nominierung von prominenten Spitzenkandidaten sollte in ganz Europa das Interesse an den Wahlen gesteigert werden, weil die Bürger so mitbestimmen können, wer an die Spitze der EU-Kommission rückt.
    Zudem war es die Absicht der Europaabgeordneten, mit dem Spitzenkandidatenprinzip die Machtbalance unter den EU-Institutionen zugunsten des Parlaments und zulasten des Rates zu verschieben. Denn die Grundlage des Prinzips war die Festlegung, dass das Parlament niemanden wählen würde, der nicht zuvor von den europäischen Parteienfamilien zum Spitzenkandidaten gekürt worden ist.
    Dem Rat sollte also Möglichkeit verbaut werden, zu später Stunde einen Überraschungskandidaten aus dem Hut zu zaubern. Bei den Europawahlen 2014 ist das Spitzenkandidatenprinzip angewendet worden, 2019 aber nicht, weil sich die Fraktionen im Parlament auseinanderdividieren ließen.

    Warum gibt es keine Koalitionen?

    Die EU ist kein Staat, erst recht kein Superstaat, wie ihr oft fälschlicherweise unterstellt wird. Sie ist ein Bündnis von Nationalstaaten, die nur in bestimmten Politikbereichen ihre Souveränität an die Brüsseler Institutionen abgetreten haben. Ein solches System könne nicht nach denselben Regeln funktionierten wie ein einzelner Nationalstaat, sagt Klaus Welle, der 13 Jahre lang Generalsekretär und damit der höchste Beamte des Europaparlaments war.
    In einem Nationalstaat wird für eine Legislaturperiode die Rollenaufteilung in Regierung und Opposition festgelegt. Damit ist definiert, wer die Gestaltungsmacht hat und wer machtlos ist. Aber in einem Bündnis aus 27 Staaten könne man nicht eine große Minderheit für die Dauer einer Legislaturperiode von der Gestaltung der gemeinsamen Union ausschließen, argumentiert Welle. Deshalb haben sich im Europaparlament andere Verfahren entwickelt als in den nationalen Parlamenten.

    Keine strikte Trennung von Regierung und Opposition

    Die Suche nach möglichst breiten Kompromissen gehört gewissermaßen zur DNA des Straßburger Parlaments. Jeder Abgeordnete hat durch die spezielle Form der Konsensbildung bei Gesetzgebungsverfahren die Chance, mitzugestalten, er kann also Teil der Mehrheit werden. Es gibt keine strikte Trennlinie zwischen Regierung und Opposition.
    Und das bedeutet, dass es auch keinen Fraktionszwang gibt. Zwar versuchen Fraktionen einheitlich abzustimmen, aber das Ausscheren von Abgeordneten ist die Regel, nicht die Ausnahme. Klaus Welle vergleicht deshalb das Europaparlament mit den Parlamenten des 19. Jahrhunderts, in denen der einzelne Abgeordnete ein größeres Gewicht hatte als die Frage der Partei- oder Fraktionszugehörigkeit.

    Wie kommt im EU-Parlament eine Mehrheit für einen Kommissionspräsidenten zustande?

    Wenn ein Kandidat für den Posten des Kommissionspräsidenten vom Europäischen Rat nominiert worden ist, beginnt für ihn und sein Team ein Gesprächsmarathon. In zahllosen Unterredungen mit den Fraktionsvorständen wirbt der Kandidat um Stimmen. Meistens besucht er zusätzlich noch die Gesamtfraktionen. Die geben ihm dabei klar zu verstehen, welche politischen Projekte für sie in der kommenden Legislaturperiode besonders wichtig sind.
    Und es geht auch um Personalien: Vor der Abstimmung wollen die Parteien natürlich wissen, mit welchen wichtigen Dossiers Politiker ihrer Couleur in der nächsten Kommission betraut sein werden. Gleichzeitig hat das Parlament aber auch institutionelle Wünsche. Es verlangt Zusagen des Kandidaten, die Rolle der Abgeordneten im Institutionengefüge zu stärken. Ein Beispiel: Das Europaparlament verfügt den EU-Verträgen zufolge nicht über das Initiativrecht, kann also von sich aus keine Gesetzesvorhaben auf den Weg bringen. Das kann nur die EU-Kommission.

    Initiativrecht durch die Hintertür

    Die aktuelle Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen musste deshalb dem Parlament vor ihrer Wahl ein Initiativrecht durch die Hintertür zubilligen. Immer dann, wenn das Parlament mit Zweidrittelmehrheit eine Gesetzesinitiative verlangt, so hat es von der Leyen versprochen, würde sie ein entsprechendes Gesetz auf den Weg bringen. So konnte das Parlament seine Macht durch den Abschluss einer interinstitutionellen Vereinbarung ausbauen.
    Der Tag Abstimmung im Parlament über den Kandidaten ist dann der Tag der Wahrheit. Er beginnt mit einer programmatischen Rede des Kandidaten, in der er sein Arbeitsprogramm für die nächsten fünf Jahre skizziert. Die Abgeordneten hören genau zu und entscheiden, ob ihre speziellen Anliegen genügend berücksichtigt wurden. Mit der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses erfährt der Kandidat dann, ob er eine ausreichende Zahl von Abgeordneten überzeugen konnte.