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Europarechtler zu EU-Finanzpaket
"Parlamente begnügen sich nicht mehr mit Rolle des Abnickers"

Nicht nur das EU-Parlament muss dem Corona-Finanzpaket noch zustimmen. Auch die Parlamente der 27 EU-Staaten werden darüber entscheiden. Keine reine Formsache, sagte der Europarechtler Alexander Thiele im Dlf. Denn nationale Parlamente gäben sich nicht mehr damit zufrieden, Beschlüsse auf EU-Ebene einfach nur abzunicken.

Alexander Thiele im Gespräch mit Manfred Götzke |
(Von li nach re) Mark Rutte, niederländischer Premier, Kanzlerin Angela Merkel, EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, Italiens Staatschef Guiseppe Conte, EU-Ratspräsident Charles Michel und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron auf dem EU-Gipfel in Brüssel am 18. Juli 2020
Harte Verhandlungen beim Marathon-EU-Gipfel (AFP / POOL / Francisco Seco)
Zu wenig Geld fürs Klima, für Gesundheitsschutz und Forschung, Unklarheit beim Schutz der Rechtsstaatlichkeit kritisieren fast alle Fraktionen des Europaparlaments in einer entsprechenden Resolution. Bis das Parlament im September entscheidet, dürfte also heftig nachverhandelt werden. Doch selbst dann ist noch nicht alles entschieden. Die 27 nationalen Parlamente müssen ebenfalls ihr Plazet zum Corona-Paket geben. Dazu im Interview der Europarechtler der Universität Göttingen im Interview.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Manfred Götzke: Die nationalen Parlamente müssen das Corona-Paket ratifizieren, weil die EU-Kommission erstmals selbst Schulden aufnimmt, sind diese Ratifikation reine Formsache?
Alexander Thiele: Nein, die sind nicht reine Formsache, und das ist in einer demokratischen parlamentarischen Ordnung auch in Ordnung und prinzipiell auch erwünscht. Es geht hier um Geld, geht hier um Finanzmittel, das ist das Haushaltsrecht, wenn man so will. Und in einer demokratischen Ordnung haben sich die Parlamente über Jahrhunderte dieses Recht erkämpft. Das ist eine ihrer Kernkompetenzen, über die Finanzmittel zu entscheiden. Es wäre deswegen sehr viel problematischer und wir sollten sehr viel hellhöriger werden, wenn Parlamente solche ambitionierten Projekte der Regierung einfach so durchwinken und keinerlei Aufstand oder Kritik üben.
Manfred Weber (CSU), Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament in Brüssel. 
"Der jetzige Vorschlag ist so nicht akzeptabel"
Vor der Debatte des Europaparlaments zum Ergebnis des EU-Finanzgipfels hat Manfred Weber (EVP) Änderungen angemahnt. Der jetzige Vorschlag sei für das Europäische Parlament nicht akzeptabel, sagte der CSU-Politiker im Dlf.
"Gewisse Pluralisierung auch der Parteienlandschaft"
Götzke: Normalerweise holen sich Regierungschefs ja vor EU-Verhandlungen ein Mandat ihrer Regierungskoalition im Parlament zu Hause. Nun hat aber zum Beispiel Mark Rutte, der niederländische Regierungschef im Parlament keine Mehrheit mehr. Könnte das Corona-Paket an den Niederlanden scheitern?
Thiele: Ja, in Holland zeigt sich etwas, was wir in ganz Europa zunehmend sehen, so eine gewisse Pluralisierung auch der Parteienlandschaft. Und wir haben in Holland eine Situation, wo also die erste Kammer, vergleichbar mit unserem Bundesrat, jetzt nicht mehr mehrheitlich Mark Rutte stützt. In der zweiten Kammer hat er seine Mehrheit noch. Aber diese erste muss eben auch zustimmen, wenn es darum geht, den neuen Eigenmittel-Beschlusszu ratifizieren. Und das kann dementsprechend durchaus ein Problem werden. Historisch ist die erste Kammer meistens an der Seite der zweiten. Also meistens passiert da nichts. Aber man kann eben angesichts dieser neuen Situation, wo die Mehrheiten unterschiedlich sind, das nicht so hundertprozentig vorhersagen. Und ich glaube, dass das forsche Auftreten Mark Ruttes mit Sicherheit auch innenpolitische Gründe hatte. Also tatsächlich etwas schizophren könnte man sagen im Interesse der Europäischen Union war. Um sicherzustellen, dass am Ende dieser Eigenmittel-Beschluss auch wirklich ratifiziert werden kann.
Götzke: Er hat so verhandelt, dass wirklich beide Kammern zustimmen müssen, quasi?
Thiele: Ja, das könnte man so sagen. Also, die ist ja etwas rechter ausgestaltet, die erste Kammer und etwas nationaler. Und dementsprechend ist Herr Rutte, glaube ich, auch in einer Form aufgetreten, hat das nationale Interesse immer wieder betont, hat deutlich artikuliert, dass er hier jetzt gerade wirklich für die Niederlande alles rausgeholt und er hat sich das auch sozusagen schwarz auf weiß geben lassen, sodass es natürlich dann auch schwer fällt, auch einer rechter besetzten ersten Kammer, dann dagegen zu stimmen, weil das dann möglicherweise genau die Narrative bedienen würde, die man eigentlich bekämpft.
"Ratifizierung wird sehr wahrscheinlich gelingen"
Götzke: Welche Wackelkandidaten sehen Sie sonst noch, wenn wir auf die 27 Parlamente in der EU blicken?
Thiele: Also, das ist immer schwer vorherzusagen. Wir haben natürlich kleinere, teilweise, wo man nicht ganz genau weiß, was passieren wird, vielleicht in Belgien, Sie erinnern sich. Wir hatten in Belgien eine lange Debatte, auch über die Freihandelsabkommen, weil da beide Häuser zustimmen müssen. Wir haben andere, wo man nicht so ganz hundertprozentig sicher sein kann. Im Großen und Ganzen glaube ich aber schon, dass die meisten Staaten ein Interesse haben, am Ende tatsächlich diesem neuen Eigenmittel-Beschluss auch zuzustimmen. Staaten wie Italien, Spanien und andere brauchen schlicht und ergreifend das Geld, um es mal ganz platt zu sagen. Ich bin also schon der Meinung, dass am Ende mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit diese Ratifizierung gelingen wird.
Wir haben dabei noch zu beachten, dass - Sie haben es angesprochen - das Europäische Parlament ja dem mehrjährigen Finanzrahmen noch zustimmen muss. Auch dort geht der Kampf jetzt los. Auch das gehört dazu. Auch hier gehört es zu einem selbstbewussten Parlament, das es das, was die Regierung vorschlägt, erstmal nicht brüsk zurückweist, aber jedenfalls scharf kritisiert. Das sind also normale Aushandlungsprozesse, und wir sollten das nicht zu schnell negativ konnotieren und bewerten. Die Parlamente kämpfen hier um ihren Selbststand und das wollen wir auch in einer demokratischen Ordnung. Und wir wollen den Disput. Wir wollen die Auseinandersetzung offen und transparent. Aber eben, um es etwas pathetisch zu sagen, nicht mehr auf dem Schlachtfeld
Götzke: Werden die nationalen Parlamente insgesamt selbstbewusster, wenn es um europäische, um EU-Entscheidungen geht?
Entscheidet der Bundestag mit Zweidrittel-Mehrheit?
Thiele: Ja, das ist in der Tat so. Ich glaube, man kann schon feststellen, dass wir jedenfalls zunehmend sehen, das Parlamente sich nicht mehr damit zufrieden geben, die Rolle des Abnickers zu übernehmen. Das gilt für viele Parlamente. Das gilt natürlich insbesondere auch für das deutsche Parlament, das sich seiner Stellung und seiner Bedeutung im Integrationsprozess bewusst wird und auch nach zahlreichen Urteilen des Verfassungsgerichts dazu aufgefordert wurde, seine Position gegenüber der Regierung stark, stärker zum Ausdruck zu bringen. Übrigens im deutschen Parlament müssen wir den Eigenmittel-Beschluss auch ratifizieren. Normalerweise geht das mit einfacher Mehrheit. Es gibt allerdings einige, wenige Stimmen, die vortragen, dass das hier in diesem Fall vielleicht sogar eine Zweidrittelmehrheit braucht. Und das könnte ein Problem sein.
Götzke: Warum diese Unklarheit?
Thiele: Ja, diese Unklarheit kommt aus einer etwas nebulösen Passage des berüchtigten Lissabon-Urteils. Dass das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2009 gefällt hat, und dort heißt es unter anderem, dass auch ein Eigenmittel-Beschluss eines Gesetzes nach 23 Satz eins, Satz zwei und gegebenenfalls nach Satz drei Bedarf. Und dieser Satz drei ist genau der, der eine Zweidrittelmehrheit verlangt. Das heißt, das Verfassungsgericht scheint davon auszugehen, dass es Eigenmittel-Beschlüsse geben kann, die einer Zweidrittelmehrheit bedürfen. Und die Frage ist, wann ist das eigentlich der Fall. Und angesichts der Neuerungen und der großen Integrationsschritte, die mit der Verschuldungsmöglichkeit einhergehen, gibt es jetzt einige, die sagen, das könnte doch so ein Fall hier sein, und das wäre dann natürlich ein Problem. Ich glaube nicht, dass das zutrifft. Aber es ist natürlich ein Anknüpfungspunkt, etwa für die Opposition, den Weg nach Karlsruhe zu suchen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.