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Europas Zukunft nach dem Brexit
EU verteidigen "unter äußerst unangenehmen Umständen"

Bei der EU gehe es nicht alleine um eine Kosten-Nutzen-Rechnung, sondern darum, wie sich "das kleine Europa am besten verteidigen kann" bei Handel und Investitionen, sagte Joachim Fritz-Vannahme, Direktor des Europa-Programms der Bertelsmann-Stiftung, im DLF. Die Europäer - auch Großbritannien - hätten alle vom Zusammenschluss profitiert.

Joachim Fritz-Vannahme im Gespräch mit Daniel Heinrich |
    Eine Flagge der Europäischen Union und eine Fahne vom Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland, der Union Jack
    "Wir haben es heute in Europa immer noch mit der größten Handelsmacht zu tun", sagte Joachim Fritz-Vannahme im DLF. (Jens Kalaene/dpa)
    Daniel Heinrich: Ich spreche mit Joachim Fritz-Vannahme. Er ist der Direktor des Programms "Europas Zukunft" der Bertelsmann-Stiftung. Herr Vannahme, Trennungsbrief, Scheidung, "Black Wednesday", historischer Moment, gerechtfertigt der Pathos?
    "Das ist ein historischer Tag"
    Joachim Fritz-Vannahme: Nun, auf jeden Fall. Das ist ein historischer Tag, denn noch nie hat die Europäische Union in ihrer 60-jährigen Geschichte erleben müssen, dass ein Mitglied geht. Wir haben uns ja über Jahrzehnte daran gewöhnt, dass immer nur neue Mitglieder rein wollen. Jetzt dreht sich der Spieß um. Jetzt kann man sagen, natürlich ist es nicht irgendein Mitglied. Das macht die Bedeutung des Augenblickes natürlich größer.
    Es ist allerdings auch ein Mitglied, was sich immer schwergetan hat mit der Integration in diese Europäische Union. Ich will mal, wenn Sie erlauben, ganz weit zurückgreifen. Es gibt 1930 ein überall gern zitiertes Diktum von Winston Churchill, der damals gesagt hat, "We are with Europe, but not of fit" - wir sind mit Europa, aber wir sind nicht ein Teil davon.
    Und wenn Sie den Brief von Theresa May heute im ersten Absatz mal genau lesen, dann geht der Tonfall, dann geht die Weltsicht genauso weiter. 80 Jahre nach Winston Churchill, ein Weltkrieg noch dazwischen und eine Entkolonisierung, ein Zerfall des Empires. Aber es denken offenkundig auf der Insel, ich sage jetzt vorsichtig, genügend Engländer immer noch genauso, wie der Engländer Winston Churchill 1930 gedacht hat.
    Immerwährende Ambivalenz zu Kontinentaleuropa
    Heinrich: Also schon immer eine Vernunft- anstatt einer Liebesehe?
    Fritz-Vannahme: Ja, eine Vernunftehe, die gleichzeitig Nähe und Distanz brauchte. Übrigens das ist auch etwas, was in diesem Brief durchaus zu finden ist. Da ist von "common values", gemeinsamen Werten und hervorragenden Beziehungen, gemeinsamer Sicherheit die Rede. Da gibt es schon sehr viele Anklänge an Nähe, Gemeinsamkeit, und gleichzeitig natürlich die Distanz, die durch das Referendum vom 23. Juni 2016 endgültig dazwischengeschoben worden ist.
    Von da an, kann man sagen, ist diese Ambivalenz praktisch auf einem anderen Niveau, unter anderen Umständen, in einem anderen Jahrhundert reproduziert worden. Wir erleben da etwas, was wir von den Engländern, sage ich jetzt noch mal, nicht zum allerersten Mal gehört haben.
    "Die Briten sind nicht pragmatisch"
    Heinrich: Aber der Brief, Herr Vannahme, der suggeriert ja schon: Das Mitglied geht, die Partnerschaft bleibt.
    Fritz-Vannahme: Ja, das meinte ich genau mit Nähe und Distanz. Ich glaube, die Briten sind nicht naiv und sind nicht einfach ideologisch in diesem Augenblick. Sie sind aber auch nicht pragmatisch. Das würde ich ihnen auch nicht konzedieren, denn wenn sie pragmatisch wären, dann hätten sie sich das Ganze vielleicht noch zwei- oder dreimal überlegt. Aber es ist, wie es ist: Brexit ist Brexit. Das ist ja ein Satz, der nicht nur von Premierministerin Theresa May zu hören war, sondern ganz früh auch von Finanzminister Wolfgang Schäuble.
    Die Tatsachen sind die Tatsachen und damit müssen wir jetzt fertig werden, und das ist auch im Grunde genommen der Duktus dieses Briefes, der nach einem versöhnlichen ersten Passus dann eher in die juristischen Feinheiten eintritt und da die Kündigung auch wirklich ankündigt und vollzieht. Das soll jetzt zwei Jahre lang im Detail ausgehandelt werden.
    Viele Experten sagen, zwei Jahre sind viel zu kurz. Das werden wir sehen. Da würde ich im Augenblick jetzt nicht irgendwo in Spökenkiekerei oder Kaffeesatzleserei verfallen. Schwierig wird es so oder so. Der Ton, noch mal, ist eher ein versöhnlicher, eher ein miteinander in die Trennung reingehen als ein gegeneinander in die Trennung reinlaufen.
    Nicht genug Leute für die Abwicklung von der EU
    Heinrich: Herrn Barnier, dem Verhandlungsführer, stehen lange Wochenenden bevor.
    Fritz-Vannahme: Ja, das glaube ich, wobei die Verhandlungsführer auf der Seite der Europäischen Union natürlich unendlich viel besser gerüstet sind. Erstens sind sie verhandlungserfahren durch die ganzen Erweiterungsprozesse der letzten Jahrzehnte. Zum Zweiten haben sie die Fachleute, die mit diesen juristischen Details bestens vertraut sind. Auf der anderen Seite werden sich viele, viele britische Fachleute überhaupt erst mal ganz tief einarbeiten müssen.
    Wir haben ja seit dem Referendum auch wiederholt Warnungen aus dem öffentlichen Dienst Großbritanniens gehört, und zwar von den höchsten Rängen herunter, die gesagt haben, Vorsicht, Vorsicht, dafür haben wir eigentlich gar nicht die Anzahl von Leuten. Denn wenn wir auf der einen Seite einen Ausstiegsvertrag, einen Scheidungsvertrag verhandeln sollen, und auf der anderen Seite gleichzeitig das Verhältnis neu gestalten wollen, über Handelsverträge, Kooperationsverträge, das ist eine Aufgabe, da haben wir einfach nicht genügend Leute für. Während die Europäische Union in Brüssel, glaube ich, auf diese Art von Arbeit relativ entspannt blicken darf.
    EU ist weltgrößter Auslandsinvestor
    Heinrich: Ganz angekommen, Herr Vannahme, scheint das noch nicht bei allen auf der Insel. Die Menschen wollen über sich selbst bestimmen, sagt der Abgeordnete und Brexit-Befürworter William Cash. Wie entsteht denn so ein Eindruck, dass die EU nicht zulässt, dass die Menschen über sich selbst bestimmen?
    Fritz-Vannahme: Ich glaube, da liegt ein profunder Irrtum erst mal vor. Natürlich will jeder von uns, dass wir über uns selbst bestimmen, als Bürger, als Individuum. Das ist überhaupt keine Frage. Von dem Augenblick an aber, wo ich in die europäische Integration hineingehe, muss ich doch auch wissen, warum ich das tue. Eines der grundlegenden Motive ist ja nicht allein eine Kosten-Nutzen-Rechnung, sondern dass wir mit der Zeit gemerkt haben, dass dieses zwar immer größer gewordene, aber doch im globalen Maßstab relativ kleine Europa sich am besten verteidigen kann – und damit meine ich jetzt gar nicht so sehr Verteidigung im klassischen Sinne, sondern auch im Sinne von Handel, Investitionen -, wenn man gemeinsam mit anderen in solche Prozesse eintritt.
    Und wir haben heute es in Europa immer noch mit der größten Handelsmacht zu tun. Wir haben hier immer noch den größten Markt für Auslandsinvestitionen. Europa, die Europäische Union ist immer noch der größte Investor weltweit bei Auslandsinvestitionen. Es haben im Grunde genommen auch bei Cash and Carry, wenn man so sagen darf, die Europäer alle von diesem Zusammenschluss profitiert. Wenn da jetzt in Großbritannien die, wie ich finde, abwegige und irrige Idee aufkommt, dass einem etwas genommen worden ist, dann hat man offenkundig die Gewinnseite in den letzten Jahren, um nicht zu sagen Jahrzehnten nie deutlich genug gemacht.
    "Die anderen machen uns keine Geschenke"
    Heinrich: Herr Vannahme, letzte Frage. Der Brexit, ist das die Chance, dass sich die übrigen 27 zusammenrücken, dass die wieder gemeinsam nach vorne blicken?
    Fritz-Vannahme: Wenn Sie mich vor einem halben Jahr gefragt hätten, hätte ich glatt Ja gesagt. Inzwischen glaube ich das nicht mehr. Ich glaube, dass der Druck sowohl von außen als auch von innen noch stärker werden muss, damit vielleicht nicht alle 27, aber eine größtmögliche Zahl von Teilnehmern endlich erkennt, dass wir im 21. Jahrhundert unter äußerst unangenehmen Umständen die europäische Idee und Integration verteidigen müssen und die anderen uns keine Geschenke machen.
    Heinrich: Das sagt Joachim Fritz-Vannahme, der Direktor des Programms "Europas Zukunft" der Bertelsmann-Stiftung. Herr Vannahme, vielen Dank für das Gespräch.
    Fritz-Vannahme: Herzlich gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.