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Europas Zukunft nach dem Brexit
"Exit-Referenden dürfen sich nicht lohnen"

Nach dem Brexit ist es aus Sicht des Politikwissenschaftlers Markus Jachtenfuchs wichtig, Kleinstaaten die Illusion zu nehmen, dass sie im Alleingang mehr erreichen könnten als in der Europäischen Union. In der politischen Debatte sei es wichtig, die Vorteile der EU stärker herauszustellen, sagte der Forscher von der Hertie School of Governance im DLF.

Markus Jachtenfuchs im Gespräch mit Christine Heuer |
    Eine Hand hält die International New York Times in Berlin in einem Kiosk.
    Die News der britischen Entscheidung löst eine Schockwelle von Europa bis zur Börse nach Mumbai aus (picture alliance / dpa / Klaus-Dietmar Gabbert)
    Christine Heuer: Europa ist in seiner schwersten Krise, und die Frage steht im Raum, wie soll es weitergehen, was ist nun nötig, um die EU zu retten, vielleicht sogar zu verbessern. Erste Antworten deuten sich an und werden in den nächsten Tagen sicher konkreter werden. Dazu dienen auch die vielen Gespräche, die jetzt anberaumt sind.
    Am Montag ein Treffen der Regierungschefs von Deutschland, Frankreich, Italien und Ratspräsident Donald Tusk in Berlin. Danach der EU-Gipfel, bei dem erstmals der neue Kreis der nur noch 27 EU-Staaten intern berät, und heute schon ein Treffen in Berlin. Dorthin hat Außenminister Steinmeier seine Amtskollegen aus den Gründungsstaaten der damaligen EWG eingeladen.
    Und dort begrüße ich Markus Jachtenfuchs, Politikwissenschaftler, er forscht über Europa an der Hertie School of Governance. Guten Tag, Herr Jachtenfuchs!
    Markus Jachtenfuchs: Guten Tag, Frau Heuer!
    Heuer: Wie ernst ist die Gefahr für Europa?
    Jachtenfuchs: Sie ist natürlich sehr ernst, weil ja jetzt nicht nur der Brexit stattgefunden hat, sondern sich die Krisen kumulieren und weil wir jetzt auf Grundsatzdebatten darüber haben, wie es eigentlich mit der Europäischen Union weitergehen sollte, weil jetzt alle möglichen Themen aufs Tapet gebracht werden und es gut sein kann, dass wir darüber auch aktuelle Probleme, die wir auch noch behandeln müssen, vergessen, weil alle in Angst vor weiteren Austrittsreferenden stehen.
    Heuer: Und was ist die Antwort darauf? Was wäre sozusagen das Gebot der Stunde? Kerneuropa, wie es offenbar die Außenminister der ehemaligen EWG-Staaten andenken?
    Jachtenfuchs: Kerneuropa ist ja schon eine alte Idee, die vor 20 Jahren vorgeschlagen wurde. Ich glaube, Kerneuropa ist eine wichtige Sache und eine sinnvolle Idee für solche Staaten, die große Schwierigkeiten haben, die immer engere Union mitzumachen.
    Ich glaube aber auch, man soll das nicht überschätzen, denn Großbritannien hat ja nicht gesagt, wir wollen ein Kerneuropa. Großbritannien hat gesagt, wir wollen raus. Wir wollen raus auch aus dem Binnenmarkt, also aus dem Projekt, das – das ist ja die große Ironie – die konservative Premierministerin Margaret Thatcher vor 30 Jahren so vehement gefordert hat. Für solche Positionen hilft Kerneuropa nur noch relativ wenig. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist, wir haben ja auch noch die Eurozone, und wie Kerneuropa in der Eurozone funktionieren sollte, das vermag ich nicht zu sehen.
    Heuer: Also dass der Brexit eine Chance sein könnte für einen Neuanfang, das höre ich bei Ihnen raus, das sehen Sie jetzt erst mal leider gar nicht.
    Jachtenfuchs: So weit würde ich jetzt nicht gehen, ich glaube nur, dass Kerneuropa einfach eine begrenzte Lösung ist. Ich glaube schon, dass der Brexit uns einiges zeigt: Erstens natürlich, dass diese Mobilisierung pro oder gegen Europa auch ein Land komplett spalten kann.
    Wir sind hier ja sehr darauf fixiert, was das für Europa heißt, was das für Deutschland heißt, aber man muss sich mal vorstellen, was das für Großbritannien heißt. Sie haben ein komplett gespaltenes Land, wir haben es eben gehört, entlang jung und alt, quer durch die Links- und Rechtsspaltung. Die müssen damit auch umgehen. Das ist nicht so ganz ohne.
    "Wir haben Probleme, bei denen brauchen wir mehr Europa"
    Heuer: Aber das passiert ja nicht nur in Großbritannien. Das droht ja auch in anderen und auch sehr wichtigen europäischen Staaten, in Frankreich und den Niederlanden zum Beispiel. Wie kann man das denn aufhalten?
    Jachtenfuchs: Wenn wir das alle wüssten. Das überlegen wir jetzt. Also ich glaube, man kann es nicht dadurch aufhalten, indem man sagt, wir lassen immer mehr los in der Europäischen Union und wir geben immer mehr den Nationalstaaten zurück, weil man glaubt, ach, das sind alle Leute, die haben Angst vor zu viel Europa.
    Wir haben Probleme, bei denen brauchen wir mehr Europa. Das streitet doch auch niemand ernsthaft ab. Flüchtlingskrise, Eurokrise et cetera – da kann man nicht sagen, weniger Europa ist gut, und dann ist sozusagen die nationalistische Mobilisierung zufrieden. Marine Le Pen oder Geert Wilders werden sich mit sowas nie zufriedengeben. Ich glaube, was man braucht, ist erstens die aktive politische Auseinandersetzung damit.
    Eine der Dinge, die ja beim Brexit-Referendum aufgefallen waren, ist, dass das Remain-Lager extrem zurückhaltend war, nicht so richtig wusste, was es eigentlich sagen soll. Ich glaube, jetzt sind alle langsam aufgewacht, und es wird ihnen doch ein bisschen mehr klar, dass Europa auch sehr positiv ist und man nicht einfach immer nur auf die Probleme für alle möglichen Gruppen, Staaten schauen muss, die es zwar gibt, aber man muss die Vorteile stärker herausstellen. Das ist das eine.
    Das Zweite ist, glaube ich auch, dass es vielleicht irgendwie dazu kommen müsste zu so einem großen Deal, der sagt, in manchen Bereichen brauchen wir definitiv mehr Europa, das brauchen wir, da gibt es nix dran rumzurütteln, in den anderen Bereichen kann man vielleicht tatsächlich etwas zurückgehen, etwas nachlassen und dass das ein Kompromiss sein könnte, mit dem dann alle leben können.
    Heuer: Also nicht mehr die gekrümmte Banane, aber die große europäische Idee.
    Jachtenfuchs: Ja, so ein bisschen, genau. Nicht nur die große europäische Idee. Die europäische Problemlösung in den Bereichen Flüchtlingskrise ist ja keine Idee, das ist ein reales Problem.
    "Eine Sache der politischen Überzeugungskraft"
    Heuer: Ja, stimmt. Viele Bürger haben die Nase voll von der EU. Das gilt eigentlich für alle Mitgliedstaaten. Wenn Sie sagen, man muss denen die Vorteile wieder schmackhaft machen, wie soll denn das gehen?
    Jachtenfuchs: Das ist zum einen, glaube ich schon, eine Sache der politischen Überzeugungskraft. Zum anderen ist es auch, glaube ich, dass man mal über die Alternativen diskutiert. Die Protestlager haben ja immer den Vorteil, dass sie nur sagen, uns passt irgendwas nicht. Sie können aber wenig überzeugend sagen, was man denn eigentlich machen sollte, denn es wird in der Brexit-Debatte immer wieder thematisiert, also dass das Leave-Lager sagte, wir schließen dann unsere eigenen Handelsabkommen mit China und den USA ab, und dann sagte dann Präsident Obama, na ja, dann seid ihr am Ende der Warteschlange. Solche Dinge.
    Also dass man mal auf Illusionen auch hinweisen muss von Kleinstaaten, die einfach in einer immer mehr globalisierten Welt mit aufsteigenden großen Mächten – China et cetera – im Grunde keine Chance haben. Das muss man, glaube ich, deutlich stärker betonen als wir das bislang getan haben.
    "Man kann nicht mit Austrittsdrohungen für sich das Beste rausholen"
    Heuer: Wie kann man andere Staaten vor dem Exit aus der EU abschrecken? Es gibt ja die Idee, mit Großbritannien jetzt besonders hart umzugehen, damit es nicht viele Nachahmer gibt. Finden Sie das richtig?
    Jachtenfuchs: Grundsätzlich glaube ich schon, denn ich glaube, wenn man jetzt die britische Debatte sich anschaut, dann sieht man ja schon so einen gewissen Beginn von Katzenjammer und diese Überlegung nach der euphorischen Siegesnacht, ach, was haben wir da eigentlich erreicht. Also die Londoner City verlässt den EU-Passport oder so, für die britische Finanzindustrie ist es schlimm, die Regionalsubventionen, hat der Regierungschef von Wales schon gesagt, die aus Brüssel kommen, fallen natürlich auch weg, die möchte er gerne von der Zentralregierung haben. Also vielleicht gibt es sozusagen da auch ein gewisses Aufwachen, das da stattfinden wird.
    Insofern ist schon klar, glaube ich, dass sich Exit-Referenden nicht lohnen dürfen. Also die EU ist, glaube ich, wirklich am Ende, wenn rauskommt, jeder, der ein Referendum abhält und damit enorm was erreicht, hat Erfolg. Dann fängt Viktor Orban an, dann fangen zahllose andere an.
    Ich glaube, das führt für die EU ins Nichts. Es geht gar nicht darum, die Briten zu bestrafen, aber es geht, glaube ich, darum, klarzumachen, man kann nicht mit Austrittsdrohungen für sich das Beste rausholen. Stellen Sie sich mal vor, wir würden sowas in Deutschland machen – Bayern macht ein Referendum über die Flüchtlingskrise oder sowas.
    "Wir haben einfach eine neue Konfliktlinie"
    Heuer: Wenn Sie zurückschauen, Herr Jachtenfuchs, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit Europa – was war denn eigentlich der entscheidende Fehler, wann ist die Stimmung so gekippt, dass der europäische Gedanke irgendwie zu erodieren scheint?
    Jachtenfuchs: Ich glaube nicht, dass es irgendwann mal einen entscheidenden Fehler gab. Ich glaube, die europäische ... oder was passiert ist, ist, dass immer mehr diese Idee, wollen wir eigentlich einen autonomen Nationalstaat, wo wir weitestgehend unser Schicksal selber gestalten können oder wollen wir übernationale Institutionen, wo wir gemeinsam stärker sind, aber auch viele Kompromisse machen. Der ist, glaube ich, immer stärker geworden in den letzten 30 Jahren – ich glaube, ganz klar mit Maastricht, das war die Wasserscheide, das war kein Fehler, aber das war die Wasserscheide –, und dass jetzt immer mehr Leute denken, dieses immer mehr internationale Institutionen, das hat wenig Zweck. Ich glaube also nicht, dass es da einen Fehler gab.
    Ich glaube, wir müssen uns wirklich dieser Situation stellen, das wird auch nicht weggehen. Wir haben einfach eine neue Konfliktlinie, die nicht links und rechts ist, sondern die Offenheit, Globalisierung, internationale Institutionen versus nationale Identität, nationale Geschlossenheit gibt, und ich glaube, mit der werden wir in Zukunft umgehen müssen.
    Heuer: Das ist also gottgegeben, aber die Frage stellt sich ja trotzdem, weil das wird ja schon ins Gespräch gebracht, der Anteil Deutschland zum Beispiel an dieser Entwicklung.
    Jachtenfuchs: Ich glaube, erstens ist es nicht gottgegeben, ich glaube es ist in der Tat dadurch gegeben, dass wir halt eine immer stärkere Europäische Union haben, und wenn die Alternative heißt, wir wollen sie schwächen, dann stoßen sich diejenigen vor den Kopf, die sich stärker machen. Vergessen Sie nicht, das britische Referendum ist fifty-fifty ausgegangen. Was der Anteil Deutschlands daran ist, ich glaube nicht, dass das Ängste vor deutscher Hegemonie sind, die werden zwar immer wieder thematisiert, aber sie haben ja parallel – und da zeigt sich immer diese Ambivalenz –, Sie haben ja auch immer wieder parallel die Rufe nach stärkerer deutscher Führung, Deutschland würde nicht genug führen, es würde nicht genug tun.
    Heuer: Markus Jachtenfuchs, Politikwissenschaftler an der Hertie School of Governance war das. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, Herr Jachtenfuchs!
    Jachtenfuchs: Danke, Frau Heuer!
    Heuer: Schönen Tag trotz allem!
    Jachtenfuchs: Gleichfalls!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.