Stellt Euch vor, es ist Europawahl - und keiner geht hin. Oder es gehen vor allem diejenigen hin, die gegen diese Europäische Union sind. Das ist ein Szenario, bei dem jedem Befürworter des Projekts EU, bei aller Kritik an den real existierenden Arbeitsweisen, mehr als nur leicht blümerant werden kann.
Diese achten Europawahlen sind anders. Sie sind in vielerlei Hinsicht anders. Entschieden wird über die Zusammensetzung eines Parlaments, das deutlich mehr zu sagen hat, seit nach den letzten Europawahlen 2009 der Vertrag von Lissabon in Kraft getreten ist. Das EU-Parlament ist mächtiger geworden, weil es an vielen gesetzgeberischen Ecken und Ende mitentscheidet. Ohne das Parlament geht in Brüssel fast nichts mehr. Zum Beispiel wird es keinen neuen Präsidenten der EU-Kommission geben, wenn er oder sie im Parlament keine Mehrheit findet.
Das Projekt Europa habe Bedeutung
Diese Wahlen sind auch deshalb anders, weil die Schulden-Krisenjahre und die Ukraine-Krisenmonate der Erkenntnis gedient haben: Das Projekt Europa hat Bedeutung, sein Gedeih oder Verderb hat Auswirkungen auf 500 Millionen Menschen in der EU und Millionen außerhalb der EU obendrein.
Und für diese Wahl haben alle relevanten Fraktionen der jeweiligen Parteienfamilien einen europäische Spitzenkandidaten - oder bei den Grünen ihrer zwei - aufgestellt, den sie im Amt des EU-Kommissionspräsidenten sehen wollen. Für den oder die sie Mehrheiten erringen wollen. Vielleicht zu spät, vielleicht zu zögerlich, vielleicht zu halbherzig, vielleicht nicht immer glücklich ausgewählt. Aber es ist immerhin ein Ansatz, mehr Demokratie und weniger Hinterzimmer bei Personalentscheidungen der EU zu haben.
Denn das Gefühl, dass es zu viel Hinterzimmer in der Europapolitik, zu wenig Berücksichtigung der Bedürfnisse von Bürgern gibt - nicht zu verwechseln mit populistischem, dem EU-Volk nach dem Munde reden - dieses Gefühl wird den Europaskeptikern, den Europagegnern manche Stimme zutragen. Ganz sicher schon heute in erheblichem Maße von den Niederländern und den Briten. Wenn sie denn überhaupt hingehen zur Wahl.
Juncker und Schulz haben sich eher ein "Duett" geliefert
Dass die beiden aussichtsreichsten Kandidaten auf das Amt des Kommissionspräsidenten, für die Volksparteien Jean-Claude Juncker und für die Sozialdemokraten Martin Schulz, dass sie im Wahlkampf inhaltlich eher ein Duett gesungen, denn sich ein Duell geliefert haben, hat den Reiz der Europawahl 2014 wahrlich nicht gerade erhöht. Wenn sie ihr aber für 2019 und folgende jeden Reiz nehmen wollen, dann schlagen die Staats- und Regierungschefs nicht denjenigen, dessen Fraktion die Nase am Ende Sonntagnacht europaweit vorne hat, für das wichtigste europäische Amt vor.
Die Tatsache, dass die EU-Gegner von rechts und links, am Ende in welchem Umfang auch immer, Aufwind bekommen werden, kann man auch positiv sehen: Es zwingt die EU-Freunde, mehr zu vermitteln, mehr zu rechtfertigen und, ja, mehr zu begeistern. Sie können nicht mehr wie Jahrzehnte lang darauf setzen, dass das Projekt der Europäischen Einigung ein Selbstläufer ist.