Nach Bundestags- oder Landtagswahlen ist die Sache klar: Wer für die SPD als Kandidat antritt und gewählt wird, landet nach der Wahl in der SPD-Fraktion. Gleiches gilt für Linke, Grüne, Liberale und alle anderen parteigebundenen Bundestagsabgeordneten. Im Europaparlament sind die Dinge aber weit komplizierter. Und deshalb steht am Wahlabend längst noch nicht fest, wie viele Abgeordnete welcher Fraktion angehören.
Welche Fraktionen gibt es im Europaparlament?
Im Europaparlament mit seinen derzeit 705 Abgeordneten gibt es sieben Fraktionen. Sie bilden die traditionellen politischen Lager parlamentarischer Demokratien ab.
- Die Linke hat 38 Abgeordnete aus 13 Mitgliedstaaten der EU
- Die Fraktion der Sozialisten & Demokraten (S&D) vereinigt 144 Abgeordnete aus 26 EU-Ländern
- Die Fraktion der Grünen (Grüne/EFA) hat 71 Abgeordnete aus 18 EU-Ländern, unter ihnen auch sechs Abgeordnete der European Free Alliance, einer Gruppe von Regionalparteien zum Beispiel aus dem spanischen Katalonien und Frankreich, die staatenlose Nationen und benachteiligte Minderheiten vertreten
- Die Fraktion der Christdemokraten (Europäische Volkspartei, EVP) ist die derzeit stärkste Fraktion im Europaparlament mit 176 Abgeordneten aus allen 27 Mitgliedstaaten
- Die Renew-Fraktion vereint 102 Abgeordnete des liberalen Spektrums aus 24 Mitgliedstaaten
- Die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) hat 69 Abgeordnete aus 17 EU-Ländern
- Die Fraktion Identität und Demokratie (ID) zählt nach dem kürzlich erfolgten Rauswurf der AfD noch 49 Abgeordnete aus zehn EU-Mitgliedstaaten
Welche Vorteile haben Fraktionen im Europaparlament?
Wer eine Fraktion im Europaparlament bilden will, muss mindestens 23 Abgeordnete aus einem Viertel der 27 Mitgliedstaaten zusammenbringen. Das ist keine niedrige Hürde, sie zu überwinden lohnt sich jedoch.
Fraktionen erhalten mehr Redezeit im Plenum als fraktionslose Abgeordnete. Sie bekommen auch mehr Geld zur Beschäftigung von Mitarbeitern.
Außerdem haben Fraktionen eine bevorzugte Position, wenn im Parlament die Mitgliedschaft und der Vorsitz in Ausschüssen verteilt wird. Dasselbe gilt für die Mitgliedschaft und den Vorsitz in den sogenannten Delegationen, die die Beziehungen zu Parlamenten in Drittstaaten pflegen.
Und schließlich haben nur Mitglieder einer Fraktion realistische Aussichten, zum Berichterstatter für ein wichtiges Gesetzgebungsvorhaben ernannt zu werden. Diese Berichterstatter haben die wichtige und hochangesehene Aufgabe, innerhalb des Europaparlaments, in dem es keine festen Koalitionsabsprachen gibt, mehrheitsfähige Kompromissvorschläge zu Gesetzesvorhaben auszuhandeln.
Welche Rolle spielen die europäischen Parteienfamilien bei der Fraktionsbildung?
Über die Parteienfamilien rekrutiert sich die Mehrheit der Abgeordneten einer jeden Fraktion. Parteienfamilien – das sind Zusammenschlüsse von nationalen Parteien mit weitgehend identischer Programmatik. Es gibt also zum Beispiel eine grüne, eine linke, eine sozialdemokratische und eine christdemokratische Parteienfamilie auf europäischer Ebene.
Will eine neue Partei Mitglied in einer solchen Parteienfamilie werden, muss sie einen Aufnahmeantrag stellen, der in einem manchmal jahrelangen Verfahren geprüft wird. Dabei wird etwa das Programm des Antragsstellers unter die Lupe genommen oder seine Rolle in einer etwaigen Regierungsbeteiligung auf nationaler Ebene.
Für alle Mitgliedsparteien einer europäischen Parteienfamilie ist die Frage der Fraktionszugehörigkeit geklärt: Ihre Abgeordneten werden automatisch in die der Parteienfamilie entsprechende Fraktion aufgenommen.
Es gibt übrigens auch eine Fraktion, die Abgeordnete mehrerer Parteienfamilien umfasst: nämlich die Renew-Fraktion, die von drei zentristischen bzw. liberalen Parteifamilien getragen wird (ALDE, Renaissance, EDP).
Was sind „Non-Inscrit“?
Non-Inscrit (Nicht-Eingeschriebene) – so werden im Europaparlament fraktionslose Abgeordnete bezeichnet. Für die Fraktionslosigkeit kann es unterschiedliche Gründe geben. Etwa, dass ein Abgeordneter als unabhängiger Kandidat ohne Parteizugehörigkeit gewählt worden ist. Oder dass ein Abgeordneter eine Partei vertritt, die keiner europäischen Parteienfamilie angehört.
Zu Beginn einer Legislaturperiode zählen im Durchschnitt rund zehn Prozent der Abgeordneten zu den sogenannten Non-Inscrit. Deren Zahl sinkt dann allerdings in den ersten Wochen der neuen Legislaturperiode deutlich. Denn viele von ihnen versuchen sich einer Fraktion anzuschließen, weil sie nur so eine Chance haben, mehr als nur das Minimum an Redezeit im Plenum zu erhalten oder die Mitgliedschaft in jenen Ausschüssen zu bekommen, in denen ihre wichtigsten politischen Anliegen verhandelt werden.
Auch die Fraktionen haben einen Vorteil, wenn sie möglichst viele Non-Inscrit aufnehmen, weil dadurch ihre Teamstärke im Parlament steigt. Dabei achten sie allerdings darauf, dass es eine ausreichende Schnittmenge bei den politischen Grundüberzeugungen zwischen ihnen und den Non-Inscrit gibt, um die Einheit der Fraktion zu bewahren.
Die ersten Wochen einer Legislaturperiode gleichen im Europaparlament also gewissermaßen einem Speed-Dating, bei dem Fraktionen versuchen, möglichst viele der Fraktionslosen an sich zu binden, währen die Non-Inscrit versuchen, möglichst umfassende Zusagen für die Verteilung der Ausschuss-Mitgliedschaften zu erhalten.
Wann steht nach einer Wahl fest, wie viele Abgeordnete die einzelnen Fraktionen haben?
Im Grunde genommen bleibt die Landschaft der Fraktionen im Europaparlament die gesamte Legislaturperiode über in Bewegung. Haben sich die Fraktionslosen, sofern sie das wollen, erst einmal für eine Fraktion entschieden, dann kehrt eine gewisse Grundstabilität ein. Doch die gesamte Wahlperiode über gibt es Bewegungen bei der Fraktionsmitgliedschaft. Sei es, weil Abgeordnete von ihrer Fraktion vor die Tür gesetzt werden, wie gerade erst die der AfD, sei es, weil Abgeordnete von einer Fraktion zu einer anderen wechseln, weil sie dort ihre Positionen besser vertreten sehen.
Um trotz dieser Fluidität eine Entscheidungsgrundlage für die Verteilung von Positionen im Parlament zu finden, wird zu Beginn einer jeden Legislaturperiode ein sogenannter Cut-Off-Day festgelegt. In diesem Jahr wird es der 3. Juli sein.
An diesem Tag wird die Stärke jeder Fraktion durchgezählt, und die ermittelten Zahlen geben dann die Grundlage ab für die Verteilungsschlüssel von Positionen in den Ausschüssen, den Delegationen oder im Präsidium des Parlaments. Dieser Verteilungsschlüssel gilt dann für den Rest der Wahlperiode, unabhängig davon, ob sich die Stärke der Fraktionen im Lauf der Zeit noch verändert.