Schossig: Fragen wir mal umgekehrt: Sie sind Jahrgang 1922. Sie waren KZ-Insasse, als junger Mann in Auschwitz. Sie haben sich für den christlich-jüdischen Dialog eingesetzt, in vielen Jahrzehnten für deutsch-polnische Verständigung, allerdings viele Jahre als Dissident damals noch. Was bedeutet das jetzt für Sie als Europäer, diese Europawahl? Eigentlich ist es doch ein Stück europäischer Alltag
Bartoszewski: Also, für mich ist das natürlich ein bedeutendes Ereignis in der Geschichte meines Landes, weil meine Landsleute, und ich auch, zum ersten Mal im Leben die Möglichkeit bekommen haben, sich eindeutig zu bekennen, als Mitglieder einer größeren Staatengemeinschaft, Wertegemeinschaft in Europa. Aber natürlich, die Leute der Generation, zu der Generation gehört auch mein ein bisschen jüngerer Kollege Tadeusz Mazowiecki, der in Deutschland nicht unbekannt ist, zu der Generation gehört auch mein Freund Stanislav Lem, ein bekannter polnischer Schriftsteller, in Deutschland gelesen, der Jahrgang 1921 ist, zu der Generation gehört auch Bronislaw Geremek, Karlspreisträger aus Aachen, ehemaliger polnischer Außenminister. Für uns alle, für die Leute, die noch im Kopf die Vorkriegszeit und die NS-Zeit und die Hölle der totalitären Systeme haben, ist das eine Öffnung, eine große Öffnung und Bestätigung des neuen Anfangs. Aber natürlich, wir wissen ganz genau, für viele Europäer in 15 Unionsstaaten ist das eine Routineentscheidung, vielleicht weniger interessant als ein Feiertag oder Sonntag. Das ist auch zu verstehen. Nur, im Leben jeden Volkes gibt es besondere Symbole und Schwerpunkte. Der Beitritt zur Europäischen Union ist für die Leute im ganzen ehemaligen Ostblock, nicht nur in Polen, auch im Baltikum zum Beispiel, auch südlich von Polen, für Ungarn, für Tschechien eine neue Etappe. Wir sind nicht mehr im Schatten Moskaus. Wir sind aufs neue souveräne, abendländische, kulturell zivilisatorisch geprägte Staaten, Völker, Gesellschaften.
Schossig: Wenn man nun einen Blick auf dieses Parlament wirft, auf dieses größer gewordene Parlament, dann fragt man sich ja doch, ob es funktional ist für diesen Kontinent? Hätte dieser EU-Wahlkampf nicht etwas anders geführt werden müssen? Er wurde ja geführt von den nationalen Parteien, um nationale Stimmungsbarometer zu machen und den Impuls zu nehmen, sozusagen, für die nationalen Wahlen. Hätte er nicht, Ihrer Ansicht nach etwas europäischer sein können? Also zum Beispiel, was die Frage der EU-Verfassung betrifft? Sie haben es ja jetzt gerade gesagt, das ist ein großer Anspruch, den dieser Kontinent hat. Oder zum Beispiel der Beitritt der Türkei, der auch die geistige Ausrichtung des Kontinentes betrifft?
Bartoszewski: Ich teile die Bedenken. Ich bin nicht überzeugt, dass dies die letzte Weisheit ist, in Bezug auf was man bis heute erreicht hat im Rahmen der Prozedur. Das ist für uns eine Kraftprobe, auch eine psychologische Probe, auch für die Länder, die jetzt in die Union kommen, oder die jetzt formell beitreten. Ich sage formell, weil in Europa, im gewissen Sinne des Wortes, sind wir sowieso, aber in der Organisation ist das für uns eine Neuigkeit, ein Experiment. Natürlich spielen beim Wahlprozess hier, allerdings nicht nur in Polen, nationale Interessen und nationale, interne, auch kleine Probleme, die Rolle. Wenn wir heute die ersten Nachrichten und Ergebnisse beobachten, die inoffiziellen Ergebnisse aus Großbritannien, erfahren wir, dass die Bürger zum Beispiel bei Wahlentscheidungen zum Europäischen Parlament sich äußern unter Druck der internen Bewertung der Aktivitäten der britischen Regierung. Es geht nicht so sehr um die britische Perspektive auf dem europäischen Kontinent. Es geht um, man könnte sagen, alltäglich Probleme der Position mit der Regierung.
Schossig: Die europäischen Völker sollen an einem Strang ziehen in diesem Parlament, aber Europa ist seit Jahrtausenden zwar ein gemeinsames, kulturelles Projekt, es hat griechische Antike, römisches Recht, Rationalismus, Aufklärung hinter sich, ein europäischer Kontinent, ein diffiziler, ein differenzierter. Ist so viel Vielfalt in einem demokratischen Parlament denn überhaupt zu spiegeln?
Bartoszewski: Natürlich ist das eine Herausforderung ohne gleichen. Ich muss sagen, teilweise als Historiker, teilweise als höchster, mehr als ehemaliger Diplomat, sehe ich in der europäischen Problematik eine sehr lange, Jahrhunderte lange Erfahrung und Jahrhunderte lange Testproben. Ich sehe in der jetzigen Entwicklung oder im jetzigen Umbruch, besser gesagt, eine vergleichbare Situation, wie bei der Taufe der europäischen Völker im Mittelalter. Das ist ein neues Kapitel der Geschichte der Menschheit. Denn niemand hat gewusst, wie das Experiment des Christentums funktionieren wird, bei Germanen oder bei Slawen. Rom war schon eine feste Position, aber nach dem römischen Reich hat sich das Christentum doch überall verbreitet. Sowohl die Germanen, als auch die Slawen haben das Christentum anerkannt als kulturelle, geistige Grundlage. Und jetzt, nehmen wir an, kommt ein neuer Umbruch. Der neue Umbruch wird natürlich Folgen haben. Welche Folgen wissen weder wir heute, noch unsere Kinder, wenn sie in der Schule sind oder sogar an der Hochschule. Das wird sich erst erweisen durch unsere eigene interne Entwicklung und Fähigkeit des Zusammenlebens mit anderen im 21. Jahrhundert, in einem Europa, nicht zu vergleichen mit dem Europa der totalitären Systeme im 20. Jahrhundert.
Schossig: Zum Schluss noch eine ganz kurze Frage: Sie sind ja von Ihrer politischen Karriere her Journalist, Schriftsteller. Sie kennen Deutschland aus vielen Besuchen im letzten Jahrhundert. Sie haben gelesen in Deutschland, sie kennen dieses Land und Sie sind natürlich Pole. Können Sie sich als Pole vorstellen, dass es im europäischen Parlament Gemeinsamkeiten gerade zwischen Deutschland und Polen geben könnte?
Bartoszewski: Ich kann mir das sehr gut vorstellen. Bis 1988, solange wir nahestehende Leute hatten, die eine größere Rolle in der internen und auch in der Außenpolitik in Deutschland gespielt haben, habe ich überhaupt nicht gezweifelt, dass dieser Weg ein normaler Weg sein wird. Wir sind Nachbarn und die Idee des Weimarer Dreieckes halte ich bis heute für eine kluge, gescheite Idee. Es sind Politiker, die einen größeren Wert auf diese Idee legen, es gibt andere, die nicht diesen Wert der Idee zugestehen, aber ich bin fest davon überzeugt, mit den europäischen Staaten, mit den europäischen Völkern müssen wir in die Zukunft schauen. Wenn wir mit den Deutschen, so wie die Deutschen mit den Franzosen, Nachbarn sind, ist das vielleicht ein Zufall der Geschichte, aber der Zufall ist Wirklichkeit.