Eine Nichtwählerin: 61 Jahre, blondgefärbte Haare, weiße Regenjacke. Die Berlinerin, die lieber inkognito bleibt, verzichtet auf ihr Wahlrecht, weil sie sauer ist auf die europäischen Normen. "Ich ärgere mich über Vieles", sagt sie. Zum Beispiel darüber, dass hundert Jahre alte schöne Glühlampen, die sich bewährt haben, durch Quecksilberlampen ersetzt werden. "Von wegen Energieeinsparung. Im Gegenteil! Es wird alles teurer! Merkwürdigerweise", sagt sie.
Robert Gäding, 30 Jahre alt und Erzieher, will sich zwar am Wahlsonntag auf die Socken machen, dann aber auf dem Zettel alles durchstreichen. Das sei die einzige Partizipation, die ihm zugestanden werde. Die Prozesse im Europaparlament hält er für undurchsichtig. Die Volksvertretung sei zwar eine demokratische gewählte Instanz, habe aber nicht viel zu sagen. "Deswegen ist diese Wahl für mich sinnlos", bekennt er.
Nicola, eine 31-jährige Gelegenheitsjobberin, macht aus einem anderen Grund kein Kreuzchen: Weil sie vollkommen zufrieden ist mit Europas Politik, geht sie nicht zur Wahl. "Ich habe Vertrauen, dass es so laufen wird, wie es laufen soll. Es ist schon richtig so, wie es ist", sagt sie. Ein Frustpotenzial habe sie nicht.
Sinkende Beteiligung trotz steigender Bedeutung
Richard Hilmer, Geschäftsführer des Meinungsforschungs-Instituts Infratest dimap, sieht eine absurde Entwicklung: "Je wichtiger Europa, je wichtiger das Europaparlament wurde, desto geringer war das Interesse an der Wahl. Die Wahlbeteiligung sank kontinuierlich von Legislaturperiode zu Legislaturperiode."
Dieser Trend könne diesmal gestoppt und möglicherweise sogar umgekehrt werden, meint er.
Der Meinungsforscher weiß, dass Brüssel und Straßburg häufig als undurchsichtiger Parlamentsmoloch wahrgenommen werden. Dennoch hofft Hilmer, dass die Wahlbeteiligung in diesem Jahr steigt - auch wegen der Krim-Krise. Die Unruhen im Osten Europas, so der Experte, könnten den Zusammenhalt stärken unter den EU-Bürgern.
Die Umfragen zeigten, dass die Bedeutung Europas als Sicherheitsgarantie für alle Mitgliedländer nochmal ein Stück präsenter und bewusster werde, sagt Hilmer. "Ich sehe gute Chancen für eine etwas höhere Beteiligung."
Putin als Wahlhelfer?
Allerdings sind sich die Sozialwissenschaftler nicht einig, ob Putin die EU-Bürger tatsächlich zur Wahlurne treibt. So beobachtet der Göttinger Politikwissenschaftler Alexander Hensel zwar eine Dominanz der Krimkrise in den Medien. In der Öffentlichkeit habe das aber nicht zu der Einschätzung geführt, dass ein stärkeres oder anders gestaltetes Europa benötigt werde. "Das ist zumindest keine Botschaft, die von einem großen Teil der Bevölkerung vertreten wird", sagt er.
Als sicher gilt zumindest eins: Die Kommunalwahlen, die in zehn Bundesländern zeitgleich mit der Europawahl stattfinden, kommen Brüssel zugute. Denn für den Wähler sei es ein demokratischer „Abwasch", erläutert Hilmer: "Fast jeder, der sich an der Kommunalwahl beteiligt, wird auch sein Kreuzchen bei dieser Wahl machen."
Hilmer rechnet vor: Eine Städte- und Gemeindeabstimmung steigert die Beteiligung an der Europawahl um zehn bis 15 Prozent. Da in diesem Jahr auch in Nordrhein-Westfalen Kommunalwahlen stattfinden, und hier ungefähr 20 Prozent aller Wahlberechtigten wohnen, könnten die zuletzt gemessenen 43 Prozent Europa-Wahlbeteiligung leicht getoppt werden. "Das wären schon zwei Prozent mehr - dann wären wir schon bei 45 Prozent übers gesamte Bundesgebiet."
Personalisierter Wahlkampf schafft Nähe
Die Sozialforscher führen weitere Argumente an für eine Reduzierung der Wahlmüdigkeit: Der jetzige Wahlkampf sei stark personalisiert. Zudem gebe es mit Martin Schulz bei den Sozialdemokraten und mit Ska Keller bei den Grünen europäische Spitzenkandidaten, die aus Deutschland stammten. Dies schaffe Nähe. Schließlich sollen erstmals bei der Bestimmung des EU-Kommissionspräsidenten die Europawahl-Ergebnisse berücksichtigt werden. Motiviert nun auch der Wegfall der traditionellen Drei-Prozent-Hürde die Wähler – speziell die Kleinstpartei-Wähler?
Für Politikwissenschaftler Hensel hängt dies von der Wahlprognose ab. Vor allem bei der rechtspopulistischen AfD. Die AfD liege schon längere Zeit nicht nur mehr bei vier Prozent, sondern bei fünf, sechs oder sogar sieben Prozent in den Umfragen. "Das heißt aber auch, dass im schlechten Fall für die AfD sogar eine Demobilisierung entstehen könnte, weil eben tendenziell Wähler sagen: Naja, ich muss die AfD ja jetzt gar nicht mehr ins Parlament hieven, sie kommt ja eh hinein."
Die Forscher diskutieren aber nicht nur über die Wahlbeteiligung, sondern auch über die geplante Präsentation der Statistik: Infrastest dimap will am 25. Mai die Wählerwanderung im Vergleich zur Bundestagswahl 2013 darstellen - inklusive Nichtwähleranteil. Meinungsforscher Hilmer ist überzeugt, dass die vergangene Europawahl als Bezugsgröße zu weit weg ist für den Bürger.
Für den Göttinger Experten Alexander Hensel hingegen ist eine nationale Abstimmung ein unpassender Vergleichswert. Nach seiner Ansicht stimmt der Bürger bei der Europawahl nämlich viel experimentierfreudiger ab. "Von daher sehe ich eine bedeutende Differenz zwischen Europawahlen und Bundestagswahlen. Da ist ein Vergleich zumindest etwas problematisch", sagt Hensel.