Ein großes Problem sei zum Beispiel das starre Festhalten an der Einheitswährung des Euros, sagte Wingert. "Die Gleichsetzung Europa mit Euro liegt wie ein Sargdeckel über der politischen Debatte."
Die Bürger müssten mehr an Europa beteiligt werden und die EU müsse ein verbindliches Lobby-Register einführen, fordert der Professor für Praktische Philosophie der ETH Zürich. Es brauche zudem eine schonungslose Bilanz der bisherigen Politik.
Das Interview in voller Länge:
Anne Raith: Es war ein Experiment, das war im Vorfeld immer wieder zu lesen, ein politisches Experiment in 28 Ländern: Zum ersten Mal konnten die 400 Millionen Wahlberechtigten in der Europäischen Union einen Spitzenkandidaten wählen. Also direkt wählen konnten sie ihn nicht, er stand nur im eigenen Wahlkreis auf dem Zettel, aber wer dessen Partei wählte, der sollte sich sicher sein können: Dieser Spitzenkandidat wird auch EU-Kommissionspräsident - so die Idee, eine Idee, die die Europäische Union demokratischer machen sollte. Dass es in der Praxis schwieriger ist, zeigen die Verhandlungen mit den Staats- und Regierungschefs, die sich nicht so ohne Weiteres hinter Wahlgewinner Jean-Claude Juncker stellen wie das Parlament. Und doch sei dies ein politischer Quantensprung, hieß es in einem Aufruf des Soziologen Ulrich Beck vor der Wahl, unterzeichnet unter anderem vom Philosophen Jürgen Habermas, bei dem unser heutiger Gesprächsgast promoviert und habilitiert hat, mit dem er lange zusammengearbeitet hat. Lutz Wingert ist also auch Philosoph, und er lehrt an der ETH Zürich. Ihn habe ich gefragt, ob die EU mit dieser Wahl tatsächlich demokratischer geworden ist.
Lutz Wingert: Nein, das würde ich nicht sagen. Die Idee, dass man durch Spitzenkandidaten Demokratisierung der Europäischen Union erzeugt, soll ja wohl heißen, man gibt dem Parlament, das ja zur Wahl stand, ein Gesicht, und ein Gesicht geben heißt, dass die Menschen dann sich ein Bild machen können, also ein Urteil bilden können, und dann sind sie eher bereit, sich zu beteiligen an der Wahl. Wenn man jetzt die Wahlbeteiligung als Gradmesser nimmt fürs Funktionieren dieser Idee, dann ist die Antwort nein. In Deutschland war es ein bisschen anders. Da müsste man natürlich dann fragen, ob die Kommunalwahlen da so einen Mitzugeffekt hatten. Wenn das so wäre, dann wäre das interessant, dass die Bürger sagen, na ja, mich interessiert eigentlich die Kommune oder die Kreistage mehr als Brüssel, weil Brüssel fern ist, da kann ich sowieso keinen Einfluss nehmen.
Raith: Andererseits hat das Parlament seit dem Vertrag von Lissabon mehr Mitsprache, was sich auch eben jetzt mit diesem Spitzenkandidaten manifestiert. Das Parlament muss dem Kommissionspräsidenten zustimmen, es muss ihn wählen am Ende, und der Europäische Rat, also die Staats- und Regierungschefs, dürfen ihn nicht "durchdrücken". Ist das schon ein Schritt zu mehr Demokratie?
Wingert: Auch da bin ich skeptisch. Also das Vorschlagsrecht bleibt ja beim Europäischen Rat. Natürlich kann das Parlament dann schauen, auch durch die Bestätigung des Budgets hat es schon einen gewissen Einfluss, das ist schon richtig. Aber die Frage ist dann, ob man sagen soll, die Stärkung des Europäischen Parlamentes ist eine Demokratisierung, wenn die Kehrseite der Stärkung des Europäischen Parlamentes ein massiver Kompetenzverlust, ein massiver Machtverlust der nationalen Parlamente ist. Und dann muss man natürlich sagen, ja, gut, wenn die nationalen Parlamente ersetzt werden durch das Europaparlament, ist das ein Mehr an Demokratie oder ein Weniger. Ich würde sagen, es ist ein Weniger, weil die Beeinflussbarkeit des Europaparlamentes viel geringer ist als beispielsweise das Parlament in Dublin oder in Warschau oder in Berlin.
"Die bisherige Politik ist ein starres Festhalten"
Raith: Für Sie, Herr Wingert, stand der Gewinner ohnehin vor den Wahlen fest, Sie haben das zusammengefasst unter dem Akronym TINA, kurz für "There is no alternative", und Sie meinten damit, wie Sie sagen, die herrische Brüsseler Politik einer angeblichen Alternativlosigkeit in der EU. Was meinen Sie genau damit? Wie manifestiert sich diese herrische Brüsseler Politik für Sie?
Wingert: Nun, also die herrische Brüsseler Politik, vor allem jetzt eine herrische Politik der EU-Kommission, aber auch des Europäischen Rats der Regierungschefs und im Kleinsten auch das EU-Parlament, diese maßgeblichen politischen Akteure erwägen nicht - und haben auch nicht erwogen - sachliche Alternativen zur bisherigen Politik. Und die bisherige Politik ist zum Beispiel ein starres Festhalten an Einheitswährungen des Euros, die Alternative, zum Beispiel Parallelwährungen für Krisenländer wie Griechenland, Portugal, Irland überhaupt zu diskutieren, wird gar nicht erwogen. Die Gleichsetzung Europa mit Euro liegt wie ein Sargdeckel über der politischen Debatte. Man sagt, scheitert der Euro, scheitert Europa, und man hat überhaupt nicht diskutiert, auch jetzt nicht nach der Wahl, ob nicht Europa schon längst gescheitert ist.
Wirtschaftlich gesehen geht es vielen Menschen in Europa, nicht in Deutschland, sehr schlecht. Die Märkte haben wieder Vertrauen gewonnen, aber es wird überhaupt nicht gefragt, ob die Jugendlichen in Spanien, Portugal oder Irland Vertrauen gefasst haben. In Portugal verlassen täglich 200 Menschen das Land, und mentalitätsmäßig gibt es so viel Zwietracht unter den europäischen Menschen wie lange nicht. Selbst, wenn man jetzt Bürgerrechte etwas stärkt, die europäische Bürgerinitiative, das Gesetz zu europäischen Bürgerinitiativen wird als Beispiel gegeben - ich würde das nicht ganz absprechen, dass das ein Fortschritt ist, aber auch da können die Bürger nur, wenn sie eine Million Stimmen versammelt haben hinter einem Bürgerbegehren, nur vorsprechen, und die Europäische Kommission kann dann mit Begründung sagen: Wir befassen uns nicht weiter damit. Auch da sieht man: Die Einflussmöglichkeiten der Bürger werden nicht größer.
Raith: Die Bürger haben ja aber auch, Herr Wingert, die Regierungen, die da in Brüssel verhandeln, demokratisch gewählt, also sind in irgendeiner Weise natürlich doch mit Einfluss dort vertreten. Aber ich möchte, pardon, noch zu einem anderen Punkt kommen. Mit Kritik an diesem Europa, was Sie schildern, mit Kritik an dem Euro, an diesem, wie es oft heißt, Elitenprojekt EU haben die Politiker ja auch im Wahlkampf nicht gespart, und zwar nicht nur rechts- oder linkspopulistische Parteien, sondern auch die sogenannten etablierten Parteien. Waren das für Sie bloße Floskeln sozusagen?
Wingert: Ich meine, da macht man den Bock zum Gärtner: Sowohl Herr Schulz als auch Herr Juncker haben die Politik der letzten 20 Jahre zu verantworten - das ist nicht wirklich glaubwürdig. Und es zeigt sich ja auch jetzt: Brüssel schaltet in den normalen Arbeitsmodus um, es geht um Postenbesetzung. Posten sind wichtig, Ämterbesetzung ist wichtig, keine Frage, aber es wird ja gar nicht jetzt diskutiert, nachdem so dramatisch relativ zur schwachen Wahlbeteiligung entweder euro- und europakritische Parteien gestärkt wurden oder solche Parteien wie in Portugal oder Spanien oder Griechenland, die ganz entschieden gegen den von Brüssel verordneten wirtschaftspolitischen Kurs in ihren Ländern gestimmt haben. Diese Parteien sind gestärkt worden.
Es gibt keinerlei Diskussion, auch jetzt auf dem Gipfel nicht, soweit ich das sehen kann, dass man sagt, na ja, jetzt müssen wir aber mal innehalten und fragen, ob die Menschen in Europa überhaupt dieses Europa, das wir hier praktizieren, wollen. Zu Ihrer Frage noch kurz oder Ihrer Bemerkung: Sie sagen, Regierungen sind gewählt worden. Das ist schon richtig. Aber die Demokratie beschränkt sich nicht darauf, dass man mit seiner Wahlstimme seine Stimme preisgibt. Stimmabgabe ist nicht Stimmpreisgabe. Wählen heißt nicht, den Regierungen einen Blankoscheck auszustellen für vier Jahre und dann dürfen sie machen, was sie wollen.
"Es wird nicht wirklich diskutiert"
Raith: Viele Bürgerinnen und Bürger, Sie haben es eben auch schon angesprochen, haben sich bei ihrer Stimmabgabe dieses Mal für EU-kritische oder EU-feindliche Parteien entschieden. War das in Ihren Augen, wenn Sie auf den Zustand der EU blicken, eine fast zwangsläufige Konsequenz, dass eben die Quittung kommt sozusagen?
Wingert: Die Quittung - ja, ich glaube schon, es ist natürlich auch etwas Grundsätzliches. In Dänemark beispielsweise haben, wenn ich den Berichten folgen darf, ... Die Ablehnung, dass Kindergeld für rumänische Einwanderer sofort gezahlt wird, war ein wesentliches Motiv, die eurokritischen oder europakritischen Parteien zu wählen. Und da könnte man dann sagen, es ist eine Reaktion von europafeindlichen oder eurokritischen Parteien zu verzeichnen, die eine Reaktion der Bürger widerspiegelt, nämlich, dass man sich von der Politik der grenzenlosen Mobilität, auch von Arbeitnehmern, überfordert fühlt.
Es wird nicht wirklich diskutiert: Was verkraften die Sozialsysteme, können wir einen europäischen Sozialstaat stemmen? Man sagt dann einfach nur, die Menschen sollen dorthin gehen, wo es Arbeitsplätze gibt. Aber das soziale und kulturelle Umfeld wird nicht bedacht. Die Menschen wollen ihre Lebensverhältnisse selber bestimmen können, sie wollen sie auch gewissermaßen vertraut haben und sie sind eben nicht wie Mitglieder einer globalen Klasse gleichermaßen in London wie in Paris mit Wohnung zu Hause. So viele Möglichkeiten haben sie nicht, und sie empfinden das dann auch als Bedrohung ihrer Rechte.
Raith: Wie kann man den Konflikt, den Sie schildern, umwandeln in eine konstruktive Debatte darüber, wohin die EU steuern sollte und könnte, dass sozusagen das Konstrukt, was man sich vor Jahrzehnten überlegt hat, wieder funktionstüchtig wird?
Wingert: Also ich glaube, es geht erst mal nur dadurch, dass man die Gleichsetzung von Euroskeptikern oder auch EU-Skeptikern mit Nationalisten beendet, diese Strategie erstickt die Debatte, dass Menschen, die sich nicht als Nationalisten verstehen, sich auch nicht trauen, kritisch was zur EU zu sagen, weil man dann gleich in diese Ecke geschoben wird. Das wäre also eine erste Form, dass diese Zwangsjacke, EU-Kritik gleich Nationalismus, abgelegt wird. Das ist übrigens auch in den Medien so. Die Kommentare waren immer so, dass man sagt, na ja, noch haben die pro-europäischen Parteien die Mehrheit. Es wird gar nicht gefragt, wofür sie die Mehrheit haben. Es wird gar nicht gesagt, wofür jetzt Europa eigentlich steht.
Raith: Das heißt, alles in allem steht für Sie am Ende ein bisschen weniger Europa, aber dafür ein funktionstüchtigeres?
Wingert: Ja. Also ich glaube, kleiner ist besser. Das heißt jetzt nicht, dass man sagt, man geht jetzt wieder ganz auseinander, sondern man arbeitet vielleicht punktuell intensiver zusammen. Es muss aber gefragt werden: Wofür soll Europa zuständig sein? Das ist der erste Punkt. Die Bürger müssen daran beteiligt werden, das heißt, man muss die Beteiligungsrechte der Bürger steigern. Ich würde dann sagen, diese Bürgerinitiative, dieses Gesetz muss verändert werden. Es muss so sein: Wenn eine Million Bürger aus mindestens vier Ländern der EU ein Bürgerbegehren machen, dann muss die Kommission mit einem Gesetzvorschlag antworten. Alle EU-Kommissare müssen aus der Mitte des Europäischen Parlamentes gewählt werden, sie müssen ein Direktmandat haben und sie müssen vier oder fünf Jahre in dem Wahlkreis gelebt haben und Steuern gezahlt haben. Man muss ein Lobbyregister nicht auf Freiwilligenbasis machen, sondern auch verbindlicher Basis, so wie die spanische Podemos-Partei, dass jeder Kontakt mit einer Lobbygruppe öffentlich gemacht wird. Das sind alles kleine Schritte, aber man müsste einfach mal fragen, wohin soll eigentlich dieses Europa gehen, welches Europa wollen wir, und dann auch die Bilanz der bisherigen Politik schonungslos machen und feststellen, dass dieses Europa der Werbeprospekte nicht den statistischen und auch erlebten Realitäten entspricht.
Raith: Der Philosoph Lutz Wingert über die Europäische Union und ihre demokratischen Defizite. Einer seiner Vorschläge lautet übrigens auch, den Spieß einmal umzudrehen, dass die EU-Kommission bei ihren Gesetzesvorhaben nämlich eine Million Bürger aus mindestens vier Ländern für ihr Vorhaben gewinnen muss.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.