Es sei für sie keine Überraschung, dass die Positionen der beiden Kandidaten sich in dem TV-Duell sehr geglichen hätten, sagte Rebecca Harms. Schließlich sei die große Koalition das Leitmotiv in Brüssel. Harms kritisierte zudem die Aussagen der Spitzenkandidaten Martin Schulz (europäische Sozialdemokraten) und Jean-Claude Juncker (europäische Christdemokraten) zum geplanten Freihandelsabkommen mit den USA. Beide hätten für ein solches Abkommen gestimmt. Jetzt aber würden sie für den Erhalt europäischer Standards und Regulierungen werben.
Wie diese Standards in dem Abkommen verhandelt werden, sei jedoch geheim. Es bleibe weiterhin unklar, was genau die Mindeststandards seien, sagte Harms im Deutschlandfunk.
Die Grünen-Politikerin plädierte außerdem für ein einheitliches europäisches Wahlrecht.
Rebecca Harms, geboren am 7. Dezember 1956 in Hambrock, ist Vorsitzende der Europäischen Grünen Fraktion im Europäischen Parlament. Die gelernte Baumschul- und Landschaftsgärtnerin ist erklärte Gegnerin der Atomkraft. Von 1994 bis 2004 war sie Mitglied des Niedersächsischen Landtages und dort bis 2004 Vorsitzende der Grünen-Fraktion. Bei der Europawahl 2004 zog sie als Spitzenkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen ins Europäische Parlament ein. Sie wurde im Juli 2010 einstimmig zur Vorsitzenden der Fraktion Grüne/EFA gewählt.
Das Interview in voller Länge
Thielko Grieß: Es war keineswegs die einzige Begegnung im Fernsehen, die Sie gestern Abend im ZDF sehen konnten und bei uns im Deutschlandfunk hören konnten. Insgesamt sechsmal treffen die beiden europäischen Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker und Martin Schulz aufeinander. Juncker, der frühere luxemburgische Premier, führt die europäischen Konservativen an. Schulz, der aktuelle Präsident des Europäischen Parlaments, die europäischen Sozialdemokraten. Die Diskussionen werden übertragen von verschiedenen Sendern und Sendergruppen in verschiedenen Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch werden da verwendet. Beide Politiker, Schulz und Juncker, haben außerdem Chancen, EU-Kommissionspräsident zu werden nach der Wahl in gut zwei Wochen. Gestern haben sie ihre Argumente auf Deutsch ausgetauscht.
Am Telefon ist jetzt Rebecca Harms, schon jetzt Europaabgeordnete und Spitzenkandidatin der deutschen Grünen im Europawahlkampf. Guten Morgen, Frau Harms.
Rebecca Harms: Guten Morgen!
Grieß: Wer hat Sie mehr überzeugt?
Harms: Dass ich jetzt den genauen Altersunterschied kenne, finde ich gut. Dass beide gegen Chlor-Hühnchen was haben, die nicht mögen, ist gut zu wissen. Beide haben aber in dieser total wichtigen Frage, Handelsabkommen mit den USA, in ihrer jeweiligen Funktion für die Verhandlungen gestimmt.
Standards nicht plötzlich aufgeben
Grieß: Da hat Martin Schulz gesagt, bei diesem Aspekt über das Freihandelsabkommen, das sei alles transparent einzusehen in Brüssel, und Jean-Claude Juncker hat entgegnet, es sei doch schon richtig, nicht alles transparent zu machen, man könne ja seine Strategie nicht offenlegen.
Harms: Na ja. Ich hätte schon gerne gewusst, als die Verhandlungen eröffnet worden sind, wie denn die Ziele, die da jetzt so jedenfalls scheinbar mit Verve vertreten werden, keine Chlor-Hühnchen, kein Genmais, Arbeitsschutz nicht aufweichen, wie diese Ziele denn verhandelt werden sollen und was die Mindestanforderungen der europäischen Seite sind, um so ein Abkommen abzuschließen, und das bleibt alles tatsächlich im Dunkeln, obwohl ja Herr Schulz so stark gegen die Hinterzimmer in Brüssel argumentiert hat gestern.
Grieß: Ist das der wichtigste Punkt, Frau Harms, bei dem Sie sich unterscheiden von den Grünen gegenüber den Sozialdemokraten und Sozialisten beziehungsweise den Konservativen?
Harms: Nein, das ist jetzt ein Punkt, dieses Handelsabkommen mit den USA, wo die großen Unterschiede deutlich werden. Wir sind als Grüne der Auffassung, dass das, was wir europäisch an Regulierung in vielen Bereichen erreicht haben, und zwar oft im Konsens bisher, hohe Verbraucherschutzstandards, vernünftige, oft vernünftige Rahmengesetzgebung für die Garantierung von bäuerlicher Landwirtschaft, von Qualität auch der Landwirtschaft, gegen Gentechnik, gegen Hormonfleisch, dass wir in Europa die Grundnormen der internationalen Arbeitsorganisation ILO verankert haben, dass das alles gut ist und dass das nicht, weil wir in einer Wirtschaftskrise sind, plötzlich aufgegeben werden darf, weil das ist ja der Motor, der auch Sozialdemokraten den TTIP-Verhandlungen hat zustimmen lassen. Man erhofft sich einen Schub für die wirtschaftliche Entwicklung und man baut darauf, weil man denkt, wenn man Standards im Bereich Umwelt- und Verbraucherschutz abbaut, dass dann die Wirtschaft fluppt, und das bezweifeln wir.
Wahlauseinandersetzung auf zwei Personen verkürzt
Grieß: Ein neuer Standard ist dadurch vielleicht gestern im Wahlkampf entstanden. Ein TV-Duell, so etwas gab es im europäischen Wahlkampf so noch nicht. Zwei Spitzenkandidaten treffen aufeinander. Ist es unfair, dass Sie nicht eingeladen waren beziehungsweise Ihre europäische Spitzenkandidatin Ska Keller?
Harms: Ja, wir sind alle der Meinung – da ist auch Guy Verhofstadt zu erwähnen -, alle Parteien, Parteifamilien sind der Auffassung, dass die Verkürzung auf zwei Personen in dieser Auseinandersetzung, Wahlauseinandersetzung nicht in Ordnung ist.
Grieß: Nun gibt es aber ja auch ein weiteres Zusammentreffen am 15. Mai, das dann auf Phönix übertragen wird. Da sind ja die genannten dabei. Aber wenn ich Sie fragte, ob diese TV-Duelle tatsächlich für Wahlentscheidungen wichtig sind und ob es die Meinung beeinflusst, dann würden Sie das wahrscheinlich auch nicht überschätzen wollen?
Harms: Ich glaube, dass das wichtig ist. Aber was gestern Abend wieder aufgefallen ist, ist, dass wir in Brüssel seit langem eine enge Große Koalition haben zwischen den Parteienfamilien der Sozialdemokraten und der Christdemokraten. Und diese Überraschung bei der Verfolgung dieser sogenannten Duelle, dass die Kandidaten sich oft in ihren Positionen gleichen, die Überraschung teile ich eben nicht, weil die Große Koalition ist das Leitmotiv in Brüssel. Und es wäre schon besser, mehr auch mit den anderen Vertretern anderer Parteien zu diskutieren, weil das ein differenzierteres Bild auch für die Wähler geben würde.
Grieß: Nun haben beide gestern nahegelegt, sie könnten jeweils Kommissionspräsident werden. Aber das ist ja noch nicht ausgemachte Sache. Das Vorschlagsrecht haben zunächst einmal die nationalen Regierungen im Europäischen Rat. Hielten Sie es für wahrscheinlich, dass einer von den beiden am Ende dann doch Kommissionspräsident und damit Nachfolger von José Manuel Barroso wird?
Harms: Ich habe mich sehr dafür eingesetzt, dass wir diese Spitzenkandidaten bekommen für die europäischen Parteienfamilien, auch wenn das im Wahlrecht so noch nicht vorgesehen ist. Die stehen ja immer nur in ihren Ländern direkt dann auch als Personen zur Wahl. Unsere Spitzenkandidaten auch, auch die grüne Spitzenkandidatin. Aber ich bin schon der Meinung, damit dieser Abstand zwischen Wählern und Brüsseler Politikern, der gefühlt größer wird, damit der abgekürzt werden kann, müssen die Leute besser bekannt werden, und diejenigen, die jetzt sich als Spitzenkandidaten stellen, aus deren Kreis soll auch der nächste Kommissionspräsident kommen.
Mehr in Europa unterwegs sein
Grieß: Nun ist es aber so, wie ich gerade gesagt habe, dass die Regeln ja so klar nicht sind. Das ist also schon mal schwierig verständlich für Wähler, die sich nicht täglich mit europäischer Politik beschäftigen. Und dazu gibt es dann noch verschiedene Spitzenkandidaten, etwa bei Ihnen, bei den Grünen. Sie kandidieren für die deutschen Grünen, Ihre Parteikollegin und ebenfalls deutsche Staatsangehörige, Ska Keller, kandidiert auf Platz eins der europäischen Grünen. Wer soll das verstehen?
Harms: Wir haben zusätzlich ja auch eine Doppelspitze. José Bové ist ein Kandidat aus Frankreich, auch europäischer Spitzenkandidat.
Harms: Da fragt man sich, ob das die Sache besser macht.
Harms: Ja, das ist halt so. Die Grünen haben immer Doppelspitzen, decken damit auch als kleine Partei dann größere Möglichkeiten ab, können noch mehr in Europa unterwegs sein. Die Spitzenkandidaten sind nicht immer jeweils auch Spitzenkandidaten in ihren Ländern.
Grieß: Das ist die Diagnose. Die Frage war aber dann doch, ob das sinnvoll ist und verständlich für einen Wähler. Es geht ja darum, dass Menschen zur Wahl gehen und wissen, was sie dort tun in der Wahlkabine.
Harms: Wir haben bisher kein Problem damit. Ich bin jetzt auf Tour durch Deutschland und noch niemand hat in Frage gestellt, ob das sinnvoll ist, was ich da mache. Jedes Mal, wenn wir zusammen Veranstaltungen machen, Ska Keller und ich, was immer wieder passiert, wird deutlich, wir treten beide für ein verändertes Europa unter grünen Aspekten ein. Unser Problem ist ja nicht, dass wir zu viele Kandidaten haben. Unser Problem ist, wir brauchen mehr Prozente, um einflussreicher in Europa zu werden und dann in fünf Jahren, in zehn Jahren vielleicht auch mehr Chancen auf höhere Ämter in Brüssel zu haben.
Ein europäisches Wahlrecht wäre super
Grieß: Das gilt ja jetzt für Sie als Grüne. Ich hatte ein bisschen angesprochen das Wahlsystem insgesamt und damit die Verständlichkeit europäischer Politik. Ganz kurz noch Ihre Antwort.
Harms: Das wäre super, ein europäisches Wahlrecht. Ich finde, das müssen wir angehen. Wir brauchen europäische Listen, so dass diejenigen, die Spitzenkandidaten sind, wirklich überall in Europa gleichzeitig für alle Wähler zur Wahl stehen. Und ich finde, auch nach dem Urteil des Verfassungsgerichts ist ganz klar, wir brauchen ein einheitliches Wahlrecht in Europa.
Grieß: Rebecca Harms, die Spitzenkandidatin der deutschen Grünen im Europawahlkampf. Vielen Dank für das Gespräch, einen schönen Tag.
Harms: Auf Wiederhören!
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