Europawahl
Der rechte Rand - zwischen Ambition und Chaos

Vor der Wahl zum EU-Parlament können sich die Parteien am rechten Rand Hoffnungen auf einen Stimmenzuwachs machen. Und dies trotz der Querelen in den vergangenen Wochen. Damit könnte ihr Einfluss wachsen.

Von Peter Kapern |
    Ein Mann mit blauem Anzug sitzt in einem Fernsehstudio. Neben ihm sind Bildschirme. Darauf sind die Bilder zweier Frauen: Marine Le Pen und Ursula von der Leyen. Der Mann ist der rechte italienische Politiker Matteo Salvini.
    Mit den Stimmen der Rechten erneut zur EU-Kommissionspräsidentin? Ursula von der Leyen (rechts) könnte nach der EU-Wahl auf die Unterstützung von Rechtspopulisten wie Marine Le Pen und Matteo Salvini angewiesen sein. (picture alliance / ZUMAPRESS.com / LaPresse / Roberto Monaldo)
    Für die Fraktionen des rechten Flügels im Europaparlament verlaufen die letzten Wochen vor der Wahl sehr turbulent. Büros von Abgeordneten, Kandidaten und Fraktionsmitarbeitern werden von Staatsanwaltschaften in mehreren EU-Mitgliedsstaaten durchsucht. Maximilian Krah und Petr Bystron, Nummer eins und zwei auf der AfD-Liste, werden von der eigenen Partei in der heißen Wahlkampfphase kaltgestellt.
    Gleichzeitig wird den rechtsgerichteten Parteien ein deutlicher Zuwachs bei den Wahlen prognostiziert. Die Idee einer vereinten, großen Fraktion auf der rechten Seite wird wiederbelebt, Pläne für eine Umgestaltung der gesamten EU werden von den Rechtspopulisten geschmiedet.

    Inhalt

    Warum gibt es zwei rechte Fraktionen im Europaparlament und was unterscheidet sie?

    Die eigentliche Trennlinie zwischen den beiden Fraktionen auf dem rechten Flügel des Europaparlaments bildet eine außenpolitische Positionierung: pro Moskau oder pro Washington?
    In der Fraktion „Europäische Konservative und Reformer“ (EKR) haben sich die rechten Parteien mit einer transatlantischen Orientierung zusammengefunden. Sie unterstützt die Kooperation der EU mit der NATO und sieht Russland als Antagonisten westlicher Werte. In der Fraktion „Identität und Demokratie“ (ID) sind die Putin-Freunde vertreten, die sich für eine Annäherung der EU nicht nur an Moskau, sondern auch an China aussprechen.
    Abgesehen von diesem trennenden Merkmal teilen ID und EKR viele Positionen. Sie plädieren für rabiate Maßnahmen zur Beendigung jeglicher Migration, wollen den Kampf gegen den Klimawandel ausbremsen oder leugnen ihn gar. Sie wollen die europäische Integration rückabwickeln und Zuständigkeiten auf die Mitgliedsstaaten zurückübertragen. Ihr Ziel ist ein „Europa souveräner Nationen“.

    Konkurrenz auf nationaler Ebene

    Allerdings werden solche Forderungen in beiden Fraktionen mit unterschiedlicher Radikalität vertreten. In der ID-Fraktion sind rassistische, extrem nationalistische, islamophobe und antisemitische Positionen vertreten. In der EKR finden sich teilweise ähnliche Positionen, etwa vertreten durch die französische Partei Reconquête oder die polnische PiS, aber auch gemäßigt nationalistische Parteien wie die flämische N-VA.
    Ein weiterer Grund für die Existenz zweier rechter Fraktionen sind nationale Unverträglichkeiten zwischen bestimmten Parteien. Zum Beispiel konkurrieren in Flandern der Vlaams Belang und die N-VA um dasselbe Wählerreservoir, genauso wie in Frankreich Reconquête und Rassemblement National oder in Italien die Lega und die Fratelli d‘Italia. Wegen dieser Konkurrenz auf nationaler Ebene gehören sie im Straßburger Parlament unterschiedlichen Fraktionen an.
    Die EKR wurde 2014 gegründet, als die EU-Skeptiker unter den britischen Tories, die kurz drauf das Brexit-Referendum anzettelten, die Oberhand gewannen und sich aus der Fraktionsgemeinschaft mit der christdemokratischen EVP lösten. Die ID-Fraktion hingegen wurde erst 2019 gebildet, als die italienische Lega und die AfD in das Europaparlament einzogen und eine neue Fraktion am rechten Rand des Europaparlaments ins Leben rufen wollten.

    Welche Parteien und Politiker prägen die beiden rechten Fraktionen?

    Die Größe der nationalen Delegationen innerhalb der Fraktion ist unterschiedlich. Die meisten Parteien sind nur mit wenigen, häufig nur mit einem einzigen Abgeordneten vertreten. Die wenigen Parteien mit einer größeren Zahl von Abgeordneten haben daher einen besonders großen Einfluss auf die Position der Fraktion.
    Die dominierende nationale Delegation innerhalb der EKR stellt die polnische PiS mit derzeit 25 Abgeordneten. Auf Platz zwei stehen – mit vier Abgeordneten und deutlichem Abstand – die Fratelli d´Italia.
    Allerdings ist es hier zu einer Machtverschiebung gekommen: Die PiS ist als Regierungspartei abgewählt worden und befindet sich in einer Phase der Neuorientierung. Manches spricht für eine weitere Radikalisierung der Partei.
    Die Fratelli d´Italia hingegen haben die Macht in Italien errungen, ihre Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat beispielsweise in der Migrationspolitik großen Einfluss auf den EU-Rat und die EU-Kommission gewonnen. Meloni wird von Ursula von der Leyen als „eindeutig proeuropäisch“ eingestuft. Wegen ihrer Rechtsstaatspolitik würde die Kommissionspräsidentin ein so positives Urteil über die PiS niemals fällen.
    Die ID-Fraktion wird von einem französisch-italienischen Duo dominiert: Der Rassemblement National von Marine Le Pen stellt 16 Abgeordnete, die Lega von Matteo Salvini 22. Allerdings bahnen sich möglicherweise auch hier für die nächste Legislaturperiode größere Verschiebungen an.

    Was ist der Anlass für die Turbulenzen der letzten Wochen?

    Die Friktion zwischen dem französischen Rassemblement National (RN) und der AfD hatte einen jahrelangen Vorlauf. AfD-Spitzenkandidat Maximilian Krah war zum ersten Mal ins Visier Marine Le Pens geraten, als er einen Mitarbeiter im Europaparlament anheuerte, der zuvor vom RN wegen antisemitischer Ausfälle gefeuert worden war. Krah gab an, er habe von diesen Vorwürfen nichts gewusst.
    Dann folgte der Eklat mit der Potsdamer „Remigration“-Konferenz, deren Radikalität Marine Le Pen nicht ins Konzept passte. Als dann die AfD-Bundestagsfraktion sich im April 2024 dafür aussprach, dass ein französisches Überseegebiet, die Insel Mayotte, in die Unabhängigkeit entlassen werden sollte, waren die französischen Nationalisten ein weiteres Mal verschnupft.
    Der Verdacht, Maximilian Krah könnte von Moskau und China Geld kassiert haben, sowie relativierende Äußerungen zur Waffen-SS brachten das Fass zum Überlaufen. Es sei Zeit für den Bruch, sagte Le Pen im französischen Fernsehen. Als sich Matteo Salvini dieser Auffassung anschloss, war das Schicksal der AfD besiegelt. Keine 24 Stunden später wurden ihre neun Abgeordneten aus der ID-Fraktion ausgeschlossen.

    Was steckt hinter dem Ausschluss der AfD aus der ID-Fraktion?

    Die tiefere Ursache für den Rauswurf der AfD aus der ID-Fraktion ist die Erkenntnis vieler Rechtsextremer und Rechtspopulisten, dass ihre Radikalität einem Griff nach der Macht im Wege steht. Giorgia Meloni konnte sich erst an die Spitze der italienischen Regierung setzen, als sie sich zumindest verbal mäßigte und ihre radikalsten Forderungen abmilderte. Kaum im Amt, erwies sie sich auf europäischer Ebene als konstruktive Politikerin.
    Ob es sich dabei um eine echte Kursänderung der post-faschistischen Politikerin handelt, ist umstritten. Ihre Kritiker weisen darauf hin, dass sie in Italien ihr radikales Programm weiterhin umsetzt, etwa mit dem Versuch, Medien, Kultur und Justiz politisch unter Kontrolle zu bekommen.
    Gleichzeitig musste Lega-Chef Matteo Salvini zuschauen, wie ihm Giorgia Meloni unter rechten Wählern den Rang ablief. Während Meloni sich mäßigte, suchte er sein Heil in immer schrillerer Radikalisierung. Das brachte ihn bei den letzten italienischen Wahlen nur noch auf Platz zwei hinter den Fratelli d‘Italia.

    Mäßigung, um an die Macht zu kommen

    Auch Marine Le Pen hat einen Weg der Mäßigung hinter sich, nachdem sie erfolglos bei drei französischen Präsidentschaftswahlen angetreten ist. 2027, im vierten Anlauf, will sie es in den Élysée-Palast schaffen. Dafür hat sie zum Beispiel ihren eindeutig antisemitischen Vater, den Parteigründer Jean-Marien Le Pen, aus der Partei geworfen und den Austritt aus der EU und dem Euro aus dem Programm gestrichen.
    Das Bündnis mit einer sich immer schneller radikalisierenden AfD im Europaparlament konterkarierte allerdings Le Pens Bemühungen, als geläutert zu erscheinen und so neue Wählergruppen in der Mitte zu erschließen. Das ist der tiefere Grund für Le Pens und Salvinis Bruch mit den deutschen Rechtsextremen.

    Wird es bei den Wahlen einen Rechtsrutsch geben?

    Derzeit zählt die Fraktion „Europäische Konservative und Reformer“ (EKR) 69 Abgeordnete, die „Identität und Demokratie“-Fraktion (ID) kommt nach dem Rauswurf der AfD noch auf 49 Mitglieder. Beiden Fraktionen werden bei den kommenden Wahlen deutliche Zugewinne prognostiziert.
    Das Blog „Der europäische Föderalist“ sah beide Fraktionen kurz vor der Trennung der ID von der AfD bei knapp über 80 Abgeordneten. Die Zeitung Politico errechnet für die EKR im nächsten Europaparlament 75 und für die ID 69 Sitze. Das bedeutet für beide Fraktionen einen klaren Zugewinn. Wobei sie selbst in dieser Fraktionsstärke keine Gestaltungsmacht im Europaparlament mit 720 Abgeordneten gewinnen würden, solange sich die anderen Parteien darauf verständigen, Mehrheiten ohne den rechten Rand zu bilden.
    Um die Schlagkraft der Rechtspopulisten zu stärken, hat Marine Le Pen Giorgia Meloni das Angebot unterbreitet, eine gemeinsame Fraktion zu bilden. Damit könnte sie ihre Strategie der „Normalisierung“ fortsetzen.
    Inhaltlich scheint so eine Strategie nicht ausgeschlossen zu sein, schließlich ist die Haupttrennlinie zwischen der EKR und der ID in den vergangenen Jahren weitgehend eingeebnet worden. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine war die Freundschaft zu Putin politisch keine erfolgversprechende Strategie für Rechtspopulisten mehr – außer in Deutschland und Österreich.
    Die Frage, Moskau oder Washington, muss ID und EKR also nicht mehr trennen. Ob es aber tatsächlich zu einer großen, vereinten Fraktion der Rechten kommt, das hängt von anderen Faktoren ab.

    Warum schließt von der Leyen eine Kooperation mit Teilen der EKR-Fraktion nicht aus?

    Als Ursula von der Leyen 2019 zur EU-Kommissionspräsidentin gewählt wurde, hatte sie gerade einmal neun Stimmen mehr, als nötig waren. Und das, obwohl die sie tragenden Fraktionen, die Europäische Volkspartei (EVP), die sozialdemokratische S&D und die Liberalen, über eine satte Mehrheit im Europaparlament verfügten. Dort gibt es weder Koalitionsvereinbarungen noch einen Fraktionszwang, weshalb ein von der Fraktionslinie abweichendes Votum von Abgeordneten an der Tagesordnung ist.
    Deshalb versucht von der Leyen, vor einer erneuten Wahl im Parlament die Basis einer Mehrheit zu verbreitern. Manfred Weber, Partei- und Fraktionschef der EVP, wirbt aus diesem Grund schon seit Langem um die Unterstützung Giorgia Melonis für von der Leyen. Damit ist die italienische Ministerpräsidentin kurz vor der Europawahl in einer komfortablen Situation.
    Meloni hat die Wahl zwischen zwei attraktiven Optionen. Entweder kann sie von der Leyen im Rat und im Parlament stützen und so darauf setzen, Italiens Bedeutung in der EU zu steigern und das eine oder andere Entgegenkommen zu erreichen, etwa bei der Auslegung des neuen Stabilitätspakts. Damit würde sie sich weiter Richtung politischer Mitte bewegen. Oder sie kann weiter an einer rechten Mehrheit arbeiten, dann aber gemeinsam in einer großen Fraktion mit anderen politischen Schwergewichten wie Marine Le Pen und vielleicht auch Victor Orbán.