Eigentlich ist es eine ziemlich klare Sache: Diejenigen Europa-Parlamentarier, die das engere Zusammenwachsen der EU wünschen, die nicht möchten, dass nationale Politiken gemeinsam europäisches Handeln erschweren oder verhindern – die wünschen, dass sich das Konzept von Spitzenkandidaten bei Europawahlen in irgendeiner Form etabliert. Die EU-kritischen,oder -skeptischen oder -feindlichen möchten das nicht. Wie der tschechische Abgeordnete Jan Zahradil, der der konservativen EKR-Fraktion angehört:
"Natürlich - wer dafür ist, dass sich die EU zu einem Quasi-Staat entwickelt, der möchte, dass die EU-Kommission politischer und einer normalen nationalen Regierung ähnlicher wird. Diejenigen unter uns, die mit diesem Konzept nicht einverstanden sind, haben ihre Zweifel. Wir möchten eine EU-Kommission der Technokraten, bestehend aus Experten, die von nationalen Regierungen nominiert werden und ihnen verantwortlich sind und nicht etwa der europäischen Wählerschaft oder europäischen Parteien."
Die Mehrheit im Europa-Parlament sieht das anders. Jan Zahradil weiß das:
"Of course, we are aware, at the moment, we are probably in the minority with that."
Sieg für mehr Bürgernähe in der EU?
Es waren die großen Parteienfamilien im EU-Parlament – EVP, Sozialdemokraten, Grüne, Liberale, Linke - die vor den jüngsten Europawahlen 2014 erstmals Spitzenkandidaten aufstellten, analog zu den Gepflogenheiten bei nationalen Wahlen. Sie stießen damit auf mehr oder weniger große Begeisterung bei den Regierungen der EU-Mitgliedsländer. Diese sind nach dem Lissabon-Vertrag über die Arbeitsweise der EU nur geheißen, bei ihrem Recht, einen Kandidaten für die Position des EU-Kommissionspräsidenten vorzuschlagen, das Wahlergebnis zu berücksichtigen.
Das EU-Parlament beharrte nach den Wahlen vor zwei Jahren darauf, dass nur einer der fünf Spitzenkandidaten von ihnen zum Kommissionspräsidenten gewählt werden würde, wenn er sich denn eine Mehrheit in ihren Reihen organisieren kann. Als "Wahlsieger" bekam Jean-Claude Juncker, Kandidat der größten Fraktion, der EVP, den ersten Aufschlag. Mit dem bekannten Ergebnis. Die Staats- und Regierungschefs stellten sich – wenn auch teils widerstrebend – schließlich ebenfalls hinter ihn. Ein Sieg für das Parlament. Ein Sieg für mehr Bürgernähe in der EU?
"Die Spitzenkandidaten waren ein wichtiger Schritt nach vorne, die Europawahlen zu personalisieren; sie auch zu politisieren."
Jo Leinen, SPD-Europaabgeordneter.
"Das heiß auf Deutsch: den Menschen Gesichter zu bieten, die Europa regieren wollen und auch Programme zu bieten, in welche Richtung Europa laufen soll."
Einmal Spitzenkandidaten, immer Spitzenkandidaten bei EU-Wahlen?
"Also, erstens, glaube ich mal, das Parlament wird diese Möglichkeit, mit Einfluss zu nehmen, nicht wieder aus der Hand geben."
EU-Regierungen wollen Spitzenkandidaten-System nicht im Wahlgesetz verankern
Herbert Reul, CDU-Europaabgeordneter.
"Und zweitens, es ist passiert. Und wenn etwas mal Realität war, ist es extrem außergewöhnlich, wenn man das wieder zurückdreht."
Die Diskussion darüber ist jedenfalls angelaufen. Die große Mehrheit der EU-Regierungen will das Spitzenkandidaten-System bei der Europawahl zumindest nicht im Wahlgesetz verankern und schon gar nicht festschreiben, dass der siegreiche Spitzenkandidat automatisch EU-Kommissionspräsident wird.
"Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, in der Reform des Wahlrechts Pflöcke einzuhauen. Wir hätten Zeit bis Ende 2016, um auf der EU-Ebene diese Reform des Wahlrechts zu beschließen. Dann muss ja noch in den 28 Mitgliedsländern dieses ratifiziert werden."
Das gehört eben auch zur Diskussion um Sinn oder Unsinn des Konzepts von Spitzenkandidaten auf europäischer Ebene: Bringen sie mehr Wahlbeteiligung? 2014 jedenfalls eher Fehlanzeige. Waren die Kandidaten außerhalb Brüssels, bzw. ihrer Heimatländer oder vielleicht noch in den Ländern, deren Sprache sie fernsehtauglich beherrschen, bekannt? Klares Nein.
"Wir brauchen mehr europäisches Denken"
Ist zumindest die Nominierung des EU-Kommissionspräsidenten aus den Hinterzimmern gekommen, transparenter, demokratischer geworden. Skeptiker Jan Zahradil bezweifelt auch das.
"Ich glaube überhaupt nicht an dieses Argument von mehr Demokratie und mehr Transparenz durch den Spitzen-Kandidaten-Prozess… Ich glaube, das ist nur wieder ein Trick – vor allem der Parlaments-Mehrheit, sich mehr Macht zu verschaffen."
Worin jene Mehrheit nicht per se einen Makel sähe. Aber in erster Linie, sagt Ulrike Lunacek, österreichische Abgeordnete der Grünen, geht es um etwas anderes:
"Wir brauchen mehr europäisches Denken – und das geht nur über gemeinsame Kandidaten."