Nach der Europawahl
Wie die Postenvergabe im EU-Parlament funktioniert

Wird es wieder eine Kommissionspräsidentin geben? Wer wird EU-Ratspräsident? Seit Wochen wird über Antworten auf diese Personalfragen spekuliert. Jedes Land will dabei seinen Einfluss auf Posten und Ämter. Wie entschieden wird: im Überblick.

Von Klaus Remme | 03.06.2024
    Hinter einem Wegweiser mit der Aufschrift "Parlement Européen" sind die Flaggen der Mitgliedssaaten der EU und der Sitz des EU-Parlaments in Straßburg zu sehen.
    Aktuell hat das EU-Parlament 705 Abgeordnete. Im September 2023 wurde beschlossen, die Sitze für die Legislaturperiode 2024 bis 2029 auf 720 zu erhöhen. (picture alliance / SULUPRESS.DE / Marc Vorwerk)
    Auch ohne dass Wahlergebnis und Sitzverteilung im neuen Europäischen Parlament feststehen, wird seit Wochen über Antworten auf die wichtigsten Personalfragen spekuliert. Steile Thesen haben Konjunktur, etwa die Spekulation, Außenministerin Annalena Baerbock könnte Nachfolgerin von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen werden.
    Alle wissen: Am Tag nach der Wahl dreht sich ein großes Personalkarussell und wer dabei sein will, muss sich ins Spiel bringen. Nicht zu früh, nicht zu spät. Verlässliche Kalkulationen sind Mangelware. Beim letzten Mal, vor fünf Jahren, wurde Ursula von der Leyen EU-Kommissionspräsidentin, ohne auch nur als Außenseiterin gehandelt worden zu sein.

    Inhalt

    Warum sind Personalfragen in Brüssel so kompliziert?

    In Deutschland ist es nach Wahlen vergleichsweise einfach. Nach Sondierungsgesprächen und Koalitionsverhandlungen zwischen den regierungswilligen Parteien sind am Ende auch die wichtigsten Personalfragen geregelt. Welche Partei stellt den Bundeskanzler, wie verteilen sich die Ministerposten, wer wird Parlamentspräsident? All das kann durch die dann ausgehandelte Regierungsmehrheit entschieden werden.
    In Brüssel sind Personalfragen Teil eines großen Mosaiks, das nach den Wahlen erst noch zusammengesetzt werden muss. Schließlich gibt es keine EU-Regierung und keine festen Koalitionen.

    Politik durch 27 innenpolitische Brillen

    Der Europäische Rat, also die Staats- und Regierungschefs, einerseits und die neugewählten Abgeordneten des Europäischen Parlaments andererseits, haben ihre vertraglich festgelegten Kompetenzen, um wichtige Schaltstellen der Macht zu besetzen. Brüssel ist da nur einer von vielen Schauplätzen.
    In 27 Hauptstädten der EU wird jeweils auch durch die innenpolitische Brille über die personelle Aufstellung in der EU-Zentrale gerungen. In Deutschland beispielsweise wurde schon im Koalitionsvertrag zwischen den Ampelparteien 2021 genau auf die jetzige Europawahl geschaut.
    Präzise wurde vor zweieinhalb Jahren schon festgelegt, dass, falls die EU-Kommissionspräsidentin nicht aus Deutschland kommt, falls Ursula von der Leyen eine zweite Amtszeit also versagt bleibt, die Grünen das Vorschlagsrecht für den deutschen EU-Kommissar bekommen.
    Jedes Land will seinen Einfluss auf Posten und Ämter. Politische und wirtschaftliche Schwergewichte wie Deutschland und Frankreich müssen darauf achten, das Postenkarussell nicht zu dominieren. Auch die regionale Balance, von Finnland bis Zypern, von den baltischen Ländern bis nach Portugal, spielt eine gewichtige Rolle.

    Parlament oder Regierungschefs: Wer gibt den Ton an?

    Der Vertrag von Lissabon regelt klar, dass der Europäische Rat mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten oder der Präsidentin benennt. Qualifizierte Mehrheit, das bedeutet, 55 Prozent der Mitgliedsstaaten, also 15 von 27, die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung ausmachen.
    Vor fünf Jahren, 2019, war dies besonders pikant, da sich die Staats- und Regierungschefs für Ursula von der Leyen entschieden, die im Wahlkampf gar nicht angetreten war und nicht etwa für den Spitzenkandidaten der stärksten politischen Gruppe, für den CSU-Politiker Manfred Weber.
    Das Modell „Spitzenkandidat“ ist ein Versuch, dem Parlament größere Relevanz im Auswahlverfahren für die Kommissionspräsidentschaft zu verleihen. Die Staats- und Regierungschefs sind vertraglich lediglich daran gebunden, bei ihrer Nominierung, das Ergebnis der Parlamentswahl zu berücksichtigen.
    Was das konkret bedeutet, ist nicht geregelt, und immerhin wurde mit Ursula von der Leyen eine CDU-Politikerin vorgeschlagen, die aus den Reihen der stärksten Parlamentsgruppe, der konservativen EVP, kommt.
    Das Parlament wiederum ist einerseits an den Personalvorschlag des Europäischen Rats gebunden, es „darf“ nur über den oder die Nominierte abstimmen. Andererseits muss der Vorschlag mit absoluter Mehrheit bestätigt werden. Ist das nicht der Fall, gibt es keinen zweiten Wahlgang, sondern es gilt das Motto: „Zurück auf Los“, die Staats- und Regierungschefs müssen einen neuen Vorschlag machen.

    Bekommt Ursula von der Leyen eine zweite Amtszeit?

    Ihre Chancen stehen nicht schlecht. Ursula von der Leyen hat sich in den vergangenen Jahren den Ruf einer effizienten Krisenmanagerin erarbeitet. Sie hat aber auch Kritiker. Diese verweisen etwa auf ihr Agieren rund um den sogenannten „Pfizer-Deal“, einen milliardenschweren Ankauf von Impfstoffen, den von der Leyen als Kommissionspräsidentin durch SMS-Textnachrichten mit Pfizer-Chef Bourla ausgehandelt haben soll.
    Sowohl belgische Behörden als auch die europäische Staatsanwaltschaft, EPPO, haben ermittelt, ohne dass es bisher zu einer Anklage gekommen ist.
    Unabhängig davon: Ursula von der Leyen hat die Europäische Kommission in den beiden Großkrisen der vergangenen Jahre, der Pandemie und dem russischen Überfall auf die Ukraine, als EU-Schaltzentrale gestärkt.
    In beiden Fällen bestand die Gefahr, dass sich nationale Interessen durchsetzen würden. Die Geschlossenheit der Europäischen Union stand auf dem Spiel. An mangelnder Erfahrung wird eine Nominierung im Europäischen Rat also nicht scheitern.
    Und: Nach ihrer Nominierung als Spitzenkandidatin der europäischen Konservativen signalisierte die SPD-geführte Bundesregierung grundsätzlich ihre Unterstützung für Ursula von der Leyen.

    Kommissionsposten: Ursula von der Leyen versus Mario Draghi

    2019 wurde sie maßgeblich durch die Fürsprache von Frankreichs Präsident Macron zur Kandidatin. Aus beiden Ländern, Frankreich und Deutschland, kommen zunehmend Medienspekulationen, denen zufolge Olaf Scholz und Emanuel Macron Alternativen zu Ursula von der Leyen erwägen.
    Über Macrons Präferenz für den ehemaligen italienischen Premier Mario Draghi wird spekuliert. Gerade mit Blick auf den Streitpunkt rund um eine mögliche gemeinsame Schuldenaufnahme in der EU, wären sich Macron und Draghi nahe. Doch warum Olaf Scholz diese Achse stärken würde, ist unklar.
    Darüber hinaus: Eine nicht-deutsche Kommissionspräsidentin würde den Weg für einen grünen EU-Kommissar ebnen. Scholz hat von der Leyen zwar vor einer Kooperation mit Rechtsextremen gewarnt, doch wägt man wenige Tage vor der Wahl die Optionen, bleibt von der Leyen Favoritin für den wichtigsten Posten in der EU. Sie pflegt engen Kontakt zu Italiens Regierungschefin Meloni und Polens Ministerpräsident Tusk. Eine qualifizierte Mehrheit im Europäischen Rat ist realistisch.

    Absolute Mehrheit für EVP bleibt Herausforderung

    Im Parlament, der zweiten Hürde auf dem Weg in eine zweite Amtszeit, führt die Gruppe der Europäischen Volkspartei, EVP, in allen Umfragen. Doch die notwendige absolute Mehrheit bleibt eine Herausforderung. 2019 bekam von der Leyen gerade einmal neun Stimmen mehr als notwendig. EVP, Sozialdemokraten und Liberale hatten für sie gestimmt. Aktuellen Umfragen zufolge wird dieses informelle Bündnis nach den Wahlen schwächer dastehen als heute.
    Grund genug für von der Leyen, auf beiden Seiten des Spektrums nach Unterstützung Ausschau zu halten. Bei den Grünen einerseits und vor allem rechts von der EVP andererseits. Doch auch im Parlament gilt:
    Die „rechte Karte“ ist heikel. Auch die Sozialdemokraten im Europäischen Parlament haben in den vergangenen Tagen darauf hingewiesen, dass ihre Unterstützung an Bedingungen geknüpft ist und auf dem Spiel steht, falls von der Leyen versuchen sollte, auf der Suche nach einer absoluten Mehrheit im Parlament mit Kräften rechts von der EVP zu kooperieren.

    Um welche Posten wird gerungen und wer wird gehandelt?

    Neben der Kommissionspräsidentschaft wird in den ersten Tagen nach der Wahl auch über den Ratspräsidenten und den Außenbeauftragten, also den Chefdiplomaten der EU, entschieden. Auch der Posten des Parlamentspräsidenten gehört zum Personalpaket der einflussreichsten Ämter.
    Die Präsidentschaft im Parlament wechselt zur Halbzeit der Legislaturperiode, nach zweieinhalb Jahren. Falls Ursula von der Leyen aus der konservativen Parteienfamilie für die Kommissionspräsidentschaft zum Zuge kommt, wäre mit Blick auf die Ratspräsidentschaft der Weg frei für einen Mann aus einem der kleineren EU-Länder. Als zweitstärkste Kraft nach den Konservativen werden die Sozialdemokraten vermutlich Ansprüche anmelden.
    Vorbedingung für den Posten im Kreis der Staats- und Regierungschefs ist eigene Regierungserfahrung, bestenfalls mit dem Ruf, geschickter Verhandler zu sein. Der Portugiese Antonio Costa würde alle Voraussetzungen erfüllen, entsprechend wird in Brüssel seit Monaten über seine Ambitionen spekuliert.
    Costa ist in Verbindung mit Korruptionsermittlungen als portugiesischer Regierungschef zu einem frühen Zeitpunkt des Skandals zurückgetreten. Doch Beweise sind bisher ausgeblieben und der ermittelnde Staatsanwalt selbst steht in der Kritik.

    Roberta Metsola vor zweiter Amtszeit als EU-Parlamentspräsidentin?

    Als Nachfolger für Josep Borrell im Amt des Außenbeauftragten der EU könnten dann die Liberalen zum Zuge kommen. Mit Kaja Kallas, der estnischen Regierungschefin, hätten sie eine Kandidatin in ihren Reihen, die Erfahrung aufweist und die Erwartungen der Osteuropäer auf einen prominenten Posten in Brüssel erfüllen würde.
    Mit Blick auf die Parlamentspräsidentschaft rechnen viele Beobachter in Brüssel mit einer zweiten Amtszeit von Roberta Metsola, eine Konservative aus Malta.
    Metsola hat es in den vergangenen zweieinhalb Jahren verstanden, das Parlament als gewichtige Stimme innerhalb der europäischen Institutionen zu stärken, sie ist im Kreis der Regierungschefs hervorragend vernetzt und wird dort auf Augenhöhe anerkannt. Ihr Verbleib an der Spitze des Parlaments würde der konservativen EVP-Gruppe darüber hinaus eine Konkurrenz zwischen ihr und dem amtierenden EVP-Fraktionsvorsitzenden Manfred Weber, CSU, ersparen.

    Entscheidender Einfluss auf "Green Deal"

    Über diese Spitzenämter hinaus gibt es durch die Bildung der EU-Kommission mit ihren 27 Mitgliedern zahlreiche Möglichkeiten, Forderungen von Mitgliedsländern zu berücksichtigen und im Parlament politische Mehrheiten informell zu organisieren.
    Zwar hat jedes Land, ob klein oder groß, Anspruch auf jeweils einen Kommissarsposten, doch diese sind alles andere als gleichgewichtig. Ein „Klima-Kommissar“ wie der Niederländer Frans Timmermans hatte in den vergangenen Jahren entscheidenden Einfluss auf den sogenannten Green Deal, das multimilliardenschwere Programm, den Kern der Kommissionsagenda.
    Einzelne Kommissare können auch durch ihre Funktion als Vizepräsident der Kommission politisch aufgewertet werden. Neben Frans Timmermans, Spitzenkandidat der europäischen Sozialisten und Sozialdemokraten, wurde nach den letzten Wahlen auch Margrethe Vestager aus Dänemark, Vertreterin der liberalen Gruppe im Parlament, Vizepräsidentin der Kommission, verantwortlich für Wettbewerbsfragen. Der Außenbeauftragte, oder genauer, Hohe Vertreter der EU für Außenpolitik, ist qua Amt Vizepräsident der Kommission.

    Kommissarsposten für Verteidigung?

    Möglicherweise entsteht nach den Wahlen ein neues Ressort in der Kommission, jedenfalls hat sich unter anderem Ursula von der Leyen schon dafür ausgesprochen, einen separaten Kommissarsposten für den Bereich Verteidigung zu schaffen.
    Falls es so kommt, wird der polnische Außenminister Sikorski als möglicher Kandidat gehandelt. Der russische Überfall auf die Ukraine und die massive Hilfe für Kiew haben also möglicherweise Auswirkungen auf die Struktur der nächsten EU-Kommission.
    Da sicherheitspolitische Fragen vor allem in den Kompetenzbereich der Nationalstaaten fallen, waren verteidigungspolitische Aspekte der Europäischen Union bisher Teil der EU-Außenpolitik und gehörten so zu den Aufgaben des Außenbeauftragten.