Mit ihren immer neuen Notkrediten für Griechenland kaschiere die Europäische Zentralbank eine Insolvenz des Landes, sagte Stark, der bis 2012 im Direktorium der EZB saß: "Faktum ist, dass das griechische Bankensystem völlig am Tropf der Zentralbanken hängt - auf der einen Seite durch die Notkredite, die die nationale Zentralbank gibt, aber auch durch die Liquidität, die die Europäische Zentralbank bereitstellt."
Die Folgen dieser Finanzierung seien zunächst nicht spürbar, erklärte Stark: "Im Grunde genommen kann sich das Karussell weiter drehen. Die EZB ist keine politische Institution, aber sie verhält sie wie eine politische Institution und gibt diese Kredite, obwohl auf der griechischen Seite die Bemühungen sehr beschränkt sind, zu einer Einigung mit den Gläubigern zu kommen." Die Konsequenz weiterer Kredite für Griechenland sei aber, dass die grundsätzlichen wirtschaftlichen und wettbewerbspolitischen Probleme des Landes nicht angegangen würden. Dieser Zustand müsse beendet werden, so Stark: "Wenn auf der Gegenseite keine Leistung erkennbar ist, kann dies kein Spiel ohne Ende sein.
Kleinere Löhne, eigene Währung
Eine mögliche, wenn auch harte Lösung der wirtschaftlichen Probleme des Landes ist aus Starks Sicht eine deutliche Absenkung der griechischen Löhne, um die Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich zu steigern oder die Einführung einer abgewerteten, eigenen Währung. Allerdings betonte er, dass dies politisch erhebliche Probleme verursachen würde und in der Übergangsphase zu einer chaotischen Situation im Land führen könnte.
"Ein Aussteigen Griechenlands aus dem Euro wäre nicht das Ende der Währungsunion oder Europas. Die Finanzmärkte haben sich längst darauf eingestellt, Griechenland als Sonderfall zu behandeln. Es kann nicht darum gehen, dass man aus dem Fehlverhalten der griechischen Regierung die Schlussfolgerung zieht, der Euro ist gescheitert", sagte Stark.
Er warnte deshalb die Gläubiger vor weiteren Zugeständnissen an die griechische Regierung beim heutigen Eurosondergipfel in Brüssel. Es gehe auch um die Frage, inwieweit man den politischen Ordnungsrahmen der Eurozone weiter erodieren lassen wolle. "Man schadet Europa, wenn man hier weitere Zugeständnisse an Griechenland geben würde. Man schadet dem europäischen Gedanken und auch der Akzeptanz Europas." Außerdem dürfe nicht vergessen werden, dass ärmere Länder Probleme hätten, die Notwendigkeit der Griechenland-Hilfen zuhause zu vermitteln. Auch bestehe die Gefahr, dass das Beispiel Griechenland Schule mache und sich andere Euroländer in Zukunft ähnlich verhalten, womit die Eurozone sich immer mehr zu einer Transferunion entwickle.
Das Interview in voller Länge:
Christiane Kaess: Vor dem drohenden Szenario, dass Griechenland tatsächlich die Eurozone verlassen müsste, fürchten viele Griechen, dass ihr Geld bald nichts mehr wert ist, oder sie keines mehr bekommen. In den vergangenen Tagen haben sie mehrere Milliarden Euro von ihren Konten abgehoben. Sollten die Banken des Landes deshalb zusammenbrechen, würde das auch die ganze griechische Wirtschaft an den Rand des Abgrundes bringen. Es gäbe keine Kredite mehr für Unternehmen, keine Investitionen mehr. Über das Wochenende hatte die Europäische Zentralbank die Nothilfen für die griechischen Banken noch einmal erhöht. Angeblich sollen sich griechische Banken sogar darauf vorbereiten, am Dienstag geschlossen zu bleiben. Auch darüber möchte ich jetzt sprechen mit Jürgen Stark. Er war bis 2012 Chefvolkswirt und Mitglied im Direktorium der Europäischen Zentralbank. Guten Morgen!
Jürgen Stark: Schönen guten Morgen.
Kaess: Herr Stark, kommt jetzt der Grexit zwangsläufig über den Zusammenbruch der Banken?
Stark: Ja zunächst einmal nicht. Ich glaube, dass die Europäische Zentralbank zunächst einmal die Ergebnisse der heutigen weiteren Verhandlungen in Brüssel, zunächst unter den Finanzministern und dann mit den Staats- und Regierungschefs abwartet. Aber Faktum ist, dass das griechische Bankensystem völlig am Tropf der Zentralbanken hängt: Auf der einen Seite durch die Notkredite, die die nationale Zentralbank gibt, aber auch durch die Liquidität, die die Europäische Zentralbank bereitstellt, und das sind gewaltige Volumina. Mittlerweile sind diese Notkredite aufgelaufen auf 86 Milliarden Euro. Das ist das, was die EZB gebilligt hat, was die griechische Zentralbank tun darf. Aber auch die Liquidität vonseiten der EZB selbst gegen entsprechende Sicherheiten in Höhe von 120 Milliarden Euro.
Kaess: Das heißt, wie lange könnte die EZB das noch weitermachen?
Stark: Nun, im Grunde genommen kann sich das Karussell weiter drehen. Die EZB ist keine politische Institution. Aber sie verhält sich so, als sei sie eine politische Institution und gibt diese Kredite, obwohl auf der Gegenseite, aufseiten der griechischen Regierung die Bemühungen sehr beschränkt sind, zu einer Einigung mit den Gläubigern zu kommen.
Kaess: Aber wenn sie es nicht tun würde, hätten wir schon jetzt den Zusammenbruch der Banken.
Stark: Das was die Zentralbanken im Moment tun, ist ein Kaschieren der Insolvenz Griechenlands. Das heißt, das Bankensystem wäre längst zusammengebrochen, aber auch die Volkswirtschaft wäre längst zusammengebrochen. Das ist natürlich das, was man immer im Blick haben muss: Was bedeutet es, wenn man diese Kredite nicht mehr zur Verfügung stellt. Wenn auf der Gegenseite allerdings dann keine Leistung erkennbar ist, dass man gewillt ist, die Probleme Griechenlands wirklich anzugehen und einer Lösung zuzuführen, dann kann dies kein Spiel ohne Ende sein.
Kaess: Über mögliche Lösungen können wir gleich noch sprechen. Noch mal eine Nachfrage: Welche Folge hat dieses Kaschieren der Staatspleite, wie Sie es genannt haben?
Stark: Die Folgen sind zunächst nicht spürbar. Sie sind nicht spürbar, weil die Banken weiter funktionieren. Die Banken geben auch weiterhin Kredite, wenn auch in extrem geringem Maße. Die Folge wäre nun, dass politisch sich nichts tut, wenn dieses Karussell sich weiterdreht.
Stark: Grexit wäre nicht das Ende der Währungsunion
Kaess: Und Ihre Einschätzung, Herr Stark, ist, die EZB wird aber den Geldhahn zudrehen, wenn der Sondergipfel heute keine Ergebnisse bringen würde.
Stark: Ja. Das ist die große Frage. Dann würde die EZB sich wirklich in eine Situation bringen, in der sie verantwortlich gemacht würde für den Kollaps des griechischen Bankensystems und der Volkswirtschaft. Ob sie so weit geht, das mag ich wirklich bezweifeln.
Kaess: Aber eine andere Möglichkeit würde ihr doch gar nicht bleiben, oder?
Stark: Ja. Es ist abzuwägen, ob man auf diese Art und Weise Griechenland den Exit aus dem Euro nahelegt, oder de facto den Exit damit bewerkstelligt, oder ob man der griechischen Regierung sagt, ihr müsst weiter verhandeln, wir geben euch noch eine gewisse Zeit. Es gibt auch andere Optionen, zum Beispiel diese Nothilfen auf dem derzeitigen Niveau einzufrieren. Dann würde sich zunächst einmal nichts bewegen, nichts ändern, aber die Perspektive vielleicht geöffnet, dass der Druck auf die griechische Regierung stärker wird.
Kaess: Jetzt sagt Alexis Tsipras, der griechische Ministerpräsident, der Grexit wäre der Anfang vom Ende der Eurozone. Auf der anderen Seite sagt der Präsident des ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, der Grexit nach dem Bankrott ist die Rettung. Wer hat Recht?
Stark: Auf jeden Fall wäre ein Aussteigen Griechenlands aus dem Euro nicht das Ende der gemeinsamen Währung, nicht das Ende der Währungsunion und auch nicht das Ende Europas. Die Finanzmärkte haben sich längst darauf eingestellt, Griechenland als einen wirklichen Sonderfall zu behandeln, und es kann nicht darum gehen, dass man nun anhand einer sehr, sehr kleinen Volkswirtschaft und dem Fehlverhalten einer Regierung, dass man daraus die Schlussfolgerung zieht, der Euro ist gescheitert und Griechenland dürfe den Euro nicht verlassen. Ich meine, Hans-Werner Sinn vom ifo-Institut hat insoweit Recht, dass im Augenblick ja "nur" das fiskalische Problem Griechenlands angegangen werden soll, oder auch das Rentensystem, dass aber das Grundproblem der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit Griechenland gar nicht angegangen ist. Griechenland hat nach wie vor Löhne, die doppelt so hoch sind wie Polen, aber hat nicht die entsprechende Produktivität. Das heißt, es gibt viel tiefgreifendere Probleme in Griechenland, die angegangen werden müssen, als nur das derzeitige fiskalische Problem.
Stark: Man schadet Europa, wenn man hier weitere Zugeständnisse macht
Kaess: Und wie wäre dieses Wettbewerbsproblem zu lösen?
Stark: Ja. Da gibt es eine Lösung über eine Abwertung. Diese Abwertung geht in einer Währungsunion über die Reduzierung der Löhne vor sich, über eine Anpassung der sogenannten relativen Preise, oder über eine Abwertung, indem Griechenland das Währungsgebiet verlässt und seine eigene Währung wieder einführt. Das alles ist sehr schmerzhaft, nicht getestet bisher. Das wäre der erste Fall. Aber ich glaube, das wäre für Griechenland in der mittel- bis längerfristigen Perspektive durchaus die bessere wirtschaftliche Lösung. Ich sage, die bessere wirtschaftliche Lösung, weil es politisch natürlich erhebliche Probleme verursachen würde und letztlich in der Übergangsphase auch zu einer chaotischen Situation im Lande führen würde.
Kaess: Und, Herr Stark, es gibt die Befürchtung, dass diese Abwertung ins Bodenlose stürzen könnte, also das Geld überhaupt nichts mehr wert ist. Wie groß schätzen Sie dieses Risiko ein?
Stark: Man muss zwischen einer spontanen Reaktion der Finanzmärkte und einer mittelfristigen Reaktion unterscheiden. Spontan kann das natürlich zu einem totalen Überschießen führen. Niemand weiß genau, wo der Wechselkurs der Drachme, sage ich mal, gegenüber dem Euro oder gegenüber anderen Währungen wirklich liegen würde. Manche reden von einer Abwertung von bis zu 50 Prozent. Dies mag sein, aber das wird sich einpendeln in einer Abwertungsrate, die deutlich geringer ist als 50 Prozent.
Kaess: Herr Stark, wenn ich Sie richtig verstehe oder interpretiere, dann sollten die Gläubiger heute bei ihrem Treffen oder bei ihren Treffen - es sind ja mehrere heute in Brüssel - auf keinen Fall weitere Zugeständnisse machen.
Stark: Das ist richtig. Es geht ja nicht nur um Griechenland, und darum Griechenland zu helfen. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist natürlich die, inwieweit will man die Europäische Währungsunion in ihrem institutionellen Rahmen, in ihrem Ordnungsrahmen noch weiter erodieren lassen. Man schadet Europa, wenn man hier weitere Zugeständnisse an Griechenland geben würde. Man schadet dem europäischen Gedanken der Akzeptanz auch Europas. Und man darf auch nicht vergessen, dass es politisch für viele andere Regierungen im Eurogebiet sehr, sehr schwer ist, dies zuhause zu vermitteln. Es geht auch um Länder, die ärmer sind als Griechenland, die aber bisher ihr Geld Griechenland zur Verfügung gestellt haben, die also niedrigere Renten haben, die niedrigere Löhne haben, die generell ein niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen haben.
Kaess: Wie groß ist ihre Sorge, dass es trotzdem heute in Brüssel zu einem faulen Kompromiss kommt, wie das jetzt immer bezeichnet wird, dass man einfach sich weiter so durchwurstelt, wie das bisher gemacht wurde?
Stark: Ich weiß nicht, ob es in Richtung eines faulen Kompromisses geht. Wenn man eine Einigung findet, habe ich den Eindruck, wird die griechische Regierung, die derzeitige griechische Regierung, oder auch das griechische Verwaltungssystem gar nicht in der Lage sein, dies umzusetzen. Auf der einen Seite die Regierung nicht willens sein, dies umzusetzen, auf der anderen Seite ist man institutionell nicht in der Lage, das umzusetzen. Was immer man letztendlich entscheiden wird heute, vielleicht ein positives Signal, ja, wir haben uns verständigt, aber das ist nicht das Ende des Spiels, das wir jetzt seit mehreren Monaten sehen.
"Ansteckungsgefahren sehe ich im Moment nicht"
Kaess: Herr Stark, Sie sind Kritiker des EZB-Rettungsprogramms, also des möglichen Ankaufs von Staatsanleihen. Ist das aber nicht gerade in der jetzigen Situation vor diesem drohenden Grexit der einzige Weg, um die Märkte zu beruhigen und um eine Ansteckungsgefahr zu vermeiden?
Stark: Zunächst einmal: Ansteckungsgefahren sehe ich im Moment überhaupt nicht. Griechenland ist wirklich ein Sonderfall. Die anderen Länder, die in Schwierigkeiten waren, wie Irland oder Portugal, befinden sich durchaus auf einem positiven Weg. Insoweit gibt es diese Ansteckungsgefahren überhaupt nicht mehr.
Kaess: Aber es gibt ja noch andere Risikokandidaten?
Stark: Ja sicher. Es gibt auch ein besonderes Risiko, dass dieses griechische Beispiel, wenn man heute nun zu einem Kompromiss kommt und vonseiten der anderen europäischen Länder weiter nachgibt, dass dies Schule macht und dass andere Länder sich ähnlich verhalten. Das heißt, man braucht sich gar nicht so sehr anzustrengen, um seine eigenen Probleme zu lösen. Wir werden dann viel stärker in eine Transferunion hineinkommen. Das ist das große Risiko, das ich sehe, und dafür gibt es keine rechtliche Basis.
Was nun die EZB angeht: Natürlich kann die EZB auf diese Art und Weise die Märkte beruhigen. Aber welche Probleme werden denn dadurch gelöst? Die strukturellen Probleme überhaupt nicht, sondern das trägt nur dazu bei, dass die Lösung der Probleme verzögert wird, und am Ende steht dann eine viel schärfere, eine viel härtere und schmerzhaftere Anpassung, als dies unter den jetzigen Bedingungen nötig wäre.
Kaess: ..., sagt Jürgen Stark, ehemals Chefvolkswirt und Mitglied im Direktorium der Europäischen Zentralbank. Danke für dieses Gespräch heute Morgen, Herr Stark.
Stark: Vielen Dank.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.