"Mit tiefem Schrecken gedenken wir der zahlreichen Opfer. Ein Wort fällt mir dazu ein: Schande." Papst Franziskus' dramatische Worte nach dem 3. Oktober 2013, als direkt vor der Küste der kleinen Insel Lampedusa 365 Menschen starben, weil ihr Boot von der Küstenwache nicht bemerkt worden war und sank, obwohl die Menschen um Hilfe schrien. Auch Italiens Innenminister Angelino Alfano meldete sich mit entschiedener Stimme zu Wort.
"Die Grenzüberwachung im Mittelmeer ist eine europäische Angelegenheit und kann nicht nur auf Italiens Schultern lasten. Frontex muss verstärkt eingesetzt werden und die Seegrenzen besser überwachen."
Just zur gleichen Zeit stand im Europaparlament die Entscheidung über Eurosur an, ein Überwachungs- und Datenaustauschsystem, das den europäischen Grenzschützern von Frontex zuarbeiten sollte. Erklärt Giovanni La Via, italienischer Europaabgeordnetener: "Eurosur macht den Informationsaustausch zwischen allen europäischen Mittelmeeranrainern möglich, um alle Bewegung in diesem Seegebiet zu überwachen und damit sich die Hilfskräfte der unterschiedlichen Ländern miteinander absprechen können. "
Eurosur werde Menschen retten und Tragödien wie die vor Lampedusa verhindern - das war das schlagende Argument der Befürworter. Kritiker, wie Cornelia Ernst, Europaabgeordneter der Linken, bestritten das entschieden.
"Ich werde einen Teufel tun, an Eurosur auch nur ein gutes Haar zu lassen. Und zwar weil wir nicht noch mehr Maßnahmen brauchen zur Kriminalisierung, Bekämpfung und Überwachung von Migranten. Wir sehen keinen Bedarf, um dafür teure Sicherheitstechnik einzukaufen und irgendwelche Lagebilder zu erstellen. Und das viele viele Geld brauchen wir nicht für Eurosur, sondern die Lebensrettung von Migrantinnen und Migranten."
Von einer zentralen europäischen Flüchtlingspolitik noch keine Spur
Bis 2020 sollen für Antennen, Radar, Satelliten und Drohnen offiziell 245 Millionen Euro ausgegeben werden, unabhängige Experten halten das für weit unterschätzt und gehen von mehr als 800 Millionen Euro aus. Weiterer Kritikpunkt: in den Eurosur-Statuten ist zwar vorrangig von Rettung von Menschenleben die Rede, aber nicht davon, was mit den Geretteten geschehen soll. Unverständlich ist auch: Einerseits wollen die von der Immigration besonders betroffenen südeuropäischen Länder die EU in die Pflicht nehmen, sperren sich aber anderseits gegen eine zentrale europäische Flüchtlingspolitik. Europa soll Geld geben und überwachen, aber der Umgang mit den Flüchtlingen soll auch weiterhin Sache der einzelnen Länder bleiben. Was zu anderen Dramen führt: am 11. Oktober, dem Tag nach der Verabschiedung von Eurosur im Europaparlament saß der syrische Arzt Mohhammad Jammo mit einem Satellitentelefon auf einem untergehenden Flüchtlingsboot 100 Kilometer südlich von Lampedusa und bat die italienische Seenotrettungszentrale in Rom dringend um Hilfe
"Ich sagte, wir sterben, wir haben mehr als 100 Kinder an Bord. Und die Frau in der Zentrale sagte mir: gGib mir deine Koordinaten, und ich gab sie ihr, unsere Smartphones haben ja alle inzwischen ein GPS. Aber anstatt mir zu sagen, dass sie kommen würden, sagte sie zu mir, das ist nicht unser Job."
In einem jetzt von dem italienischen Nachrichtenmagazin "Espresso" veröffentlichen Interview schilderte der syrische Arzt die letzten Stunden des von libyschen Soldaten beschossenen und leckgeschlagenen Bootes mit fast 500 Menschen an Bord. Es befand sich in einem Seegebiet, das zwar näher an Italien lag, für das aber Malta zuständig ist. Die Römer gaben Dr. Jammo eine Telefonnumer in Malta. Wieder vergingen Stunden, bis die maltesischen Helfer vom Ernst der Lage überzeugt waren und endlich Hilfe schickten. Als die endlich eintrafen, war das Boot gekentert. Etwa 250 Menschen waren ertrunken. Eurosur hätte gegen solche bürokratische Sturheit auch nicht geholfen. Die Position des Bootes war genau bekannt, die Behörden in Italien wie in Malta rechtzeitig alarmiert. Aber niemand gab den Befehl zur Rettung der Menschen. Sagt Dr. Jammo
"Man muss solche Hilferufe künftig ernster nehmen. In der Rettungszentrale haben sie mich einfach nicht so ernst genommen, wie es notwendig gewesen wäre. Sie sagten nur ok. Ich sagte, wir gehen unter. Und sie sagten, wartet noch ein wenig, ok?"
Unter den vielen Toten sind auch Dr. Jammos Söhne, einer sechs Jahre, der andere neun Monate alt. Man hat nicht mal ihre Leichen gefunden.