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Eurovision Song Contest in Israel
"Wie jeder andere Ort auch"

Er ist ein Pflichttermin für Fans schriller Musikinszenierungen: Zum ersten Mal seit 20 Jahren findet der ESC in Israel statt. Für das kleine Land im Nahen Osten ist es eine Herausforderung - auch angesichts der fragilen Sicherheitslage. Im offiziellen Programm hat der Nahost-Konflikt keinen Platz.

Von Benjamin Hammer | 13.05.2019
Tel Aviv bereitet sich auf die Ausrichtung des Eurovision Song Contests vor
Tel Aviv bereitet sich auf die Ausrichtung des Eurovision Song Contests vor (AFP/ Jack Guez)
Das Messezentrum von Tel Aviv. Hier wird der Eurovision Song Contest ausgetragen. Eine Gruppe von Fans genießt in Liegestühlen die Sonne. Aus den Lautsprechern tönt Abba - die ESC-Gewinner von 1974.
Es wirkt beinahe idyllisch. Dabei erlebte die Region vor rund zehn Tagen die schwerste Eskalation zwischen der Hamas im Gazastreifen und Israel seit fünf Jahren. Über 600 Raketen hatten militante Palästinenser abgefeuert. Allerdings nicht auf den Großraum Tel Aviv. Die Bewohner der Stadt hoffen, dass die Waffenruhe mit der Hamas hält.
"Ich bin froh, dass der ESC zu uns kommt", sagt ein Israeli, Anfang 40. "Das wird Spaß machen. Der ESC in Tel Aviv bedeutet, dass wir so sind, wie jeder andere Ort auch. Zumindest wollen wir das glauben. Dass wir den Wettbewerb wie andere Länder ausrichten können. Das viele Leute kommen und eine gute Zeit haben."
75 Kilometer von Tel Aviv bis zum Gazastreifen
Tel Aviv Mitte März. Zum ersten Mal seit Jahren gab es Raketenalarm. Militante Palästinenser schossen zwei Raketen auf die Stadt. Niemand wurde verletzt. Doch für die Bewohner war es eine Erinnerung: Dass Tel Aviv zwar manchmal sehr weit entfernt wirkt von den Realitäten des Nahen Ostens. Aber nicht weit weg ist. Von der ESC-Halle in Tel Aviv bis zum Gazastreifen sind es gerade einmal 75 Kilometer. Eine Rakete der Hamas braucht für diese Strecke etwa 90 Sekunden.
In einer der Messehallen befindet sich das Pressezentrum des Eurovision Song Contest. Hier sitzen auch Fans und Blogger, die aus der ganzen Welt angereist sind. Einer von ihnen ist der Deutsche Benjamin Hertlein. Er bloggt über den ESC und verpasst seit zehn Jahren kaum einen Wettbewerb. Nach Tel Aviv kam er an jenem Samstag, als die Region vor einem neuen Krieg stand:
"Wenn man weiß, das liegt irgendwie in einer Krisenregion. Oder ein Land, dass mit einem anderen im Krieg ist, so wie das zum Beispiel auch vor zwei Jahren auch in Kiew war: Dann ist das natürlich nicht business as usual".
Trotzdem ist die Stimmung gut. Sehr gut sogar. Die ESC-Fans feiern. Und die Bewohner der Stadt feiern mit. Die Gewalt im Nahen Osten wird meistens ausgeblendet. In Tel Aviv hat es seit drei Jahren keinen Terroranaschlag mehr gegeben. Damit ist so etwas Ähnliches wie Normalität eingekehrt. Doch die Menschen in Tel Aviv können sich gut an jene Zeiten erinnern, als es auch in ihrer Stadt nicht friedlich war. Als sich Selbstmordattentäter in Bussen und vor Restaurants in die Luft sprengten.
Fragen zu Konflikt werden wegmoderiert
Im Pressezentrum wird gerade die Probe des Teilnehmers aus Aserbaidschan gezeigt. "Es war so schwer, es zu ertragen", singt er. "Also halt einfach die Klappe."
Tel Aviv wird häufig als Blase bezeichnet – losgelöst vom Nahen Osten. Und die meisten Einwohner bestreiten gar nicht, dass da was dran ist. In dieser vermeintlichen Blase agiert nun auch die Europäische Rundfunkunion, kurz: EBU. Sie veranstaltet den Eurovision Song Contest. Was geschehen würde, wenn militante Palästinenser in den kommenden Tagen Raketen auf Tel Aviv schießen, dazu äußern sich die EBU-Verantwortlichen nur ungern. Man arbeite an der Seite der israelischen Vertreter, um die Sicherheit aller Besucher zu gewährleisten, heißt es in einer schriftlichen Erklärung. Eine Interviewanfrage lehnte die EBU unter Verweis auf Zeitprobleme ab.
Den deutschen ESC-Fan und Blogger Benjamin Hertlein überrascht das nicht. Er hat beobachtet, wie die Teilnehmer des Wettbewerbes zur jüngsten Eskalation im und am Gazastreifen befragt wurden. EBU-Vertreter hätten diese Fragen dann ganz schnell wegmoderiert:
"Was ich auf jeden Fall weiß ist, dass die EBU Probleme erst einmal klein hält oder unter den Teppich kehrt erst mal."
Die Angriffe der Hamas aus dem Gazastreifen, die israelische Besatzung des Westjordanlandes: Im offiziellen Programm des Eurovision Song Contest ist für den Konflikt mit den Palästinensern kein Platz.
"Die EBU ist ja immer darauf bedacht, den Song Contest sehr unpolitisch zu halten."
Das wiederum dürfte bei den meisten Israelis gut ankommen. Denn viele von ihnen haben das Gefühl, dass ihr Land im Ausland auf den Nahostkonflikt reduziert wird.
Jerusalem war Wunschkandidat der Regierung
Als die Israelin Netta Barzilai im vergangenen Jahr den ESC gewann, war die Begeisterung groß. Das kleine Israel hatte gewonnen. Ein Land, das im Nahen Osten auch 71 Jahre nach der Staatsgründung weitgehend isoliert ist. Der Blick vieler Israelis ist in Richtung Europa gerichtet. Und nun kommt Europa nach Israel. Mit der vielleicht wichtigsten Samstagabendshow der Welt.
Geht es nach den Blogs und Tweets der ESC-Fans, fühlen sie sich wohl in Tel Aviv. Auch der Blogger Benjamin Hertlein freut sich, hier zu sein. In der Stadt, die beansprucht, der liberalste Ort im gesamten Nahen Osten zu sein.
"Es gibt da schon eine große Überschneidung mit der Gay-Community. Und Tel Aviv natürlich als mit eine der Gay-Hauptstädte der Welt. Da haben sich schon viele gefreut, dass wir hier hinfahren."
Und nicht nach Jerusalem. Die Stadt war der Wunschkandidat der israelischen Regierung, sie ist religiöser und konservativer als Tel Aviv. Im liberalen Tel Aviv wird für den ESC auch am jüdischen Feiertag Schabbat gearbeitet. Das geht nicht anders, weil das Finale an einem Samstagabend stattfindet. Bei vielen ultra-orthodoxen Juden sorgt das jedoch für Entrüstung. Und so unterbrach eine ultra-orthodoxe Partei sogar die aktuellen Koalitionsverhandlungen mit dem Likud von Premierminister Benjamin Netanjahu.
Der Streit in der israelischen Politik. Der Konflikt mit der Hamas im Gazastreifen. Boykottaufrufe der BDS-Bewegung. All das könnte die gewollte Harmonie während des Eurovision Song Contest stören. Die Veranstalter hoffen daher, dass diese Themen so schnell wie möglich in den Hintergrund rücken. Auf dem Twitter-Account des Wettbewerbes werden sie schlicht nicht erwähnt.