Mit ihrem nachdenklichen Lied "1944" hat die Ukrainerin Jamala den diesjährigen Eurovision Song Contest gewonnen. Dank einer hohen Punktzahl beim Publikumsvotum überholte die 32 Jahre alte Popsängerin in der Nacht zum Sonntag im nahezu allerletzten Moment die Australierin Dami Im, die nach der Vergabe der Punkte der Jurys der jeweiligen Länder noch deutlich in Führung gelegen hatte. Australien landete am Ende in Stockholm auf Platz zwei, es folgten Russland, Bulgarien und Gastgeber Schweden. Die Ukraine, die zuletzt 2004 bei dem Gesangswettbewerb gewonnen hatte, erhielt 534 Punkte, Australien 511 und Russland 491. Deutschland wurde mit elf Punkten Letzter.
Dass ein melancholischer Song wie "1944" den ESC gewinnt, ist für das kitschiges Popfest ungewöhnlich. Jamalas Darbietung stach gerade deshalb heraus, weil die meisten Finalisten von Liebe und Begierde sangen, während die Ukrainerin ein ganzes anderes und deutlich tiefgehenderes Thema wählte: die Deportation der Krimtataren - darunter auch Jamalas Urgroßmutter - aus ihrer Heimatregion durch Josef Stalin im Jahr 1944.
Die Regeln des ESC verbieten politische Texte
Damals wurden die Krimtataren in völlig überfüllten Zügen nach Zentralasien abgeschoben. Tausende starben bei der Fahrt oder verhungerten nach der Ankunft in der dürren Steppe. Den Krimtataren wurde bis in die 1980er Jahre hinein nicht erlaubt, auf die Krim zurückzukehren. Jamala selbst, die bürgerlich Susana Jamaladinova heißt, wurde in Kirgistan geboren. Jamalas Song ist eine Kombination aus mittelschnellem Pop und einem von Schmerz geplagten Text. Das Lied beginnt mit dem Satz: "Wenn Fremde kommen, kommen sie zu eurem Haus, sie töten euch alle und sagen: 'Wir sind nicht schuldig.'" Unmittelbar nach dem Sieg bekam sie per Twitter Glückwünsche des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko.
Dass solch ein Lied den Gesangswettbewerb gewinnt, gibt dem ESC auch eine politische Russland hatte die Krim 2014 annektiert. Nach dem Sieg von Jamala wird der nächste ESC 2017 in ihrem Heimatland stattfinden - in dem nach wie vor der Ukraine-Konflikt tobt. Russlands Annexion der Krim wird in dem Lied nicht erwähnt. Durch den Sieg Jamalas könnte dieses Thema aber wieder stärker in den öffentlichen Fokus rücken. Die Krimtataren, die eine turksprachige, überwiegend muslimische Minderheit darstellen, berichten davon, dass ihre Unterdrückung seit der russischen Annexion der Schwarzmeer-Halbinsel zugenommen habe.
Russischer Politiker: "ESC verwandelt sich in politisches Schlachtfeld"
Prompt kritisierten russische Abgeordnete den Sieg als politisch motiviert. Das sei kein Beitrag für den gesamteuropäischen Kulturdialog, den sich der Wettbewerb auf die Fahnen geschrieben habe, sagte der Außenpolitiker Alexej Puschkow. Der ESC verwandele sich in ein politisches Schlachtfeld. Ähnlich äußerte sich der Parlamentarier Konstantin Kossatschjow. Der Erfolg von Jamala sei ein "Sieg des Kalten Krieges" des Westens gegen Russland, meinte er der Agentur Tass zufolge in Moskau.
Die Regeln des ESC verbieten Lieder mit politischen Texten. Jamala bestand am Abend darauf, dass ihr Lied keinen politischen Subtext habe. "Ich möchte wirklich Frieden und Liebe für jeden", sagte sie mit der Eurovision-Trophäe und einer Ukraine-Flagge in den Händen. Später sagte sie zu ihrem Lied: "Ich war sicher, dass man, wenn man singt, wenn man über die Wahrheit spricht, wirklich Menschen berühren kann."
Jamiel Lee war als Ersatz für Xavier Naidoo gestartet
Die "The Voice of Germany"-Siegerin Jamie Lee mit der Startnummer zehn meisterte ihren Auftritt gegen 21.45 Uhr in einem blauen fantasievollen Manga-Outfit-Kleid mit Kopfschmuck und Waldbühnenbild. Ihr Auftritt wurde zwar von vielen als gelungen bezeichnet. Auch von der ARD gab es nach der Show Lob:
Jamie Lee war Ende Februar beim deutschen Vorentscheid gekürt worden. Ursprünglich hatte der bei der ARD zuständige NDR den Sänger Xavier Naidoo schicken wollen, dessen Nominierung als einzigen Kandidaten aber wieder kassiert, als Proteste gegen seine Nähe zu der obskuren Reichbürger-Bewegung laut geworden waren.