Martin Zagatta: Frau Helberg, so ein Angebot auf Feuerpause und dass man jetzt abziehen könnte, das müsste den Rebellen, den Kämpfern doch eigentlich gelegen kommen, denn militärisch sind sie doch so gut wie geschlagen in Aleppo? Oder wie ist das zu beurteilen, dass es diese Skepsis da offenbar immer noch gibt?
Kristin Helberg: Es herrscht zunächst mal ein ganz großes Misstrauen gegenüber diesen Angeboten, solange sie nicht international überwacht werden und solange es einfach passieren kann, wie es in der Vergangenheit vorgekommen ist, dass diese Rebellen womöglich irgendwo hinkommen, wo sie später verhaftet werden, wo sie verschwinden. Es gibt Berichte von mehreren hundert jungen Männern, die jetzt verschwunden sind, verhaftet wurden durch das Regime.
Das heißt, solange da nicht international wirklich draufgeschaut wird, gibt es dieses Misstrauen, dass man eigentlich seine Verhaftung damit riskiert. Und aus Sicht der Rebellen unterschreibt man damit die Kapitulation. Das ist ja die Strategie Assads, die funktioniert hat auch schon in einigen Vororten von Damaskus, dass man Gebiete so lange dauerbombardiert, abriegelt und aushungert, bis am Ende keine Chance mehr besteht, weder für Rebellen, noch für Zivilisten, dort zu überleben. Mit Ankündigung hat Assad das ja auch gemacht. Der letzte Weg ist dann, die Zivilisten zu retten, sie zu evakuieren - das sollten wir nicht missverstehen als eine humanitäre Aktion - und dass Rebellen letztlich abziehen, meistens dann in die Provinz Idlib im Norden Syriens, wo immer noch die Opposition weite Gebiete kontrolliert.
"Assad versucht, nicht loyale Bevölkerungsteile zu vertreiben"
Zagatta: Wer könnte denn einen solchen Abzug der Rebellen garantieren? Das heißt, da müssten dann das syrische Regime oder die Russen im Prinzip die UNO zulassen, oder was wäre da möglich?
Helberg: Die UNO befindet sich in einer schwierigen Situation. Sie hat es in der Vergangenheit auch andernorts abgelehnt, eine Evakuierung zu überwachen, weil das eine Form von politischer Säuberung ist. Präsident Assad versucht ja, nicht loyale Bevölkerungsteile, alle, die in oppositionellen Gebieten gelebt haben, die letzten Jahre zu vertreiben in andere Regionen und dort die eigenen Unterstützer anzusiedeln, beispielsweise in Daraya, in einem Vorort von Damaskus, wo das funktioniert hat, und die UNO will da eigentlich nicht mitmachen formal.
Andererseits sagen dann zivile Gruppen auch in diesen Orten, ihr müsst uns hier irgendwie helfen, wir können uns nicht einfach darauf verlassen, das Regime hat das immer gebrochen. Jeder Waffenstillstand, der vereinbart wurde, hat nicht wirklich gehalten, weil das Regime sich am Ende nicht an die Verabredung gehalten hat. Das ist hoch komplex. Die UNO darf sich da nicht so weit einmischen. Aber zum jetzigen Zeitpunkt, angesichts der Situation in Ost-Aleppo, ist es natürlich sehr wichtig, Zivilisten geregelt zu evakuieren zum jetzigen Zeitpunkt und nicht weiterhin verzweifelt laufen, rennen, ziehen und schleppen sich zu lassen entlang dieser Straßen. Was wir da beobachten, ist ja wirklich eine Tragödie.
"Alle Kriegsparteien begehen Verbrechen in Syrien"
Zagatta: Jetzt zeigt das syrische Staatsfernsehen Bilder von Flüchtlingen, von Zivilisten, die dann sagen, sie seien quasi von den Kämpfern als Geiseln genommen worden, an der Flucht gehindert. Das berichtet jetzt auch ein AFP-Reporter, so wurde das heute Morgen gemeldet, dass das tatsächlich so sei, dass Zivilisten da an der Flucht gehindert werden. Das heißt, diese Rebellen begehen da auch Verbrechen?
Helberg: Alle Kriegsparteien begehen Verbrechen in Syrien. Daran besteht kein Zweifel. Ins Verhältnis gesetzt ist einfach das Assad-Regime aufgrund der eigenen Luftwaffe, aufgrund der Unterstützung, die es hat, verantwortlich für die meisten getöteten Zivilisten ganz generell. Was den Abzug und dieses Behindern von Flucht betrifft: Ich bin nicht in Ost-Aleppo. Ich kann das nicht beurteilen. Was ich feststelle ist, dass das Regime sehr geschickt auch westliche Reporter mit geflüchteten Syrern sprechen lässt in den von ihnen kontrollierten Gebieten, und da müssen wir einfach sehr skeptisch sein. Denn die Menschen versuchen gerade nur ihre Haut zu retten. Die Menschen sind verzweifelt, sie wollen überleben, und dort wo sie hingehen werden sie das sagen, was erwartet wird.
Wer in Gebieten bleibt, die wieder von Assad zurückerobert werden, muss jetzt den Kopf einziehen, nichts Kritisches sagen, und dann wird man natürlich einem westlichen Reporter das erzählen, was Assad hören möchte oder auch die Propaganda des Regimes hören möchte. Deswegen wäre ich vorsichtig, diese Äußerungen jetzt als wirklich wahr anzusehen. Aber es mag durchaus passiert sein. Bestimmt gibt es Regionen, wo die Rebellen vielleicht das verhindern wollten. Das weiß ich nicht, weil ich nicht vor Ort bin. Aber ich bin grundsätzlich skeptisch, denn wir wissen, wie sehr effektiv und sehr klug das Regime auch die eigene Propaganda nutzt und auch westliche Reporter in diesem Sinne beeinflusst.
Assads Strategie des "ergebt euch oder sterbt"
Zagatta: Was bedeutet denn der jetzt absehbare Fall von Ost-Aleppo? Ist das ein symbolischer Sieg des Regimes, oder ist das irgendwie auch kriegsentscheidend?
Helberg: Es ist ein ganz schwerer Verlust, politisch für die Opposition, militärisch für die Rebellen. Wir dürfen nicht vergessen, dass ja Ost-Aleppo auch zivil von einer oppositionellen, von einem Stadtrat regiert wurde. Alle die Menschen, die dort dieses Gebiet regiert haben, müssen jetzt fliehen, müssen in den Untergrund gehen, müssen sich retten. Denn es ist mit Verhaftungswellen zu rechnen. Die Rebellen müssen ihre Strategie ändern. Sie sehen, dass sie kein Territorium halten können angesichts der militärischen Übermacht. Auf der anderen Seite: Sie werden womöglich sich darauf verlegen, Anschläge zu begehen. Sie können nicht weitere Gebiete unbedingt halten. Die Kämpfe werden sich konzentrieren auf die Provinz Idlib. Dort wird Assad genau das gleiche versuchen, also einkesseln, Dauerbombardieren, Infrastruktur zerstören, aushungern. Das ist das, was bisher zu seinem Erfolg geführt hat.
Und wir als internationale Gemeinschaft müssen uns überlegen, ob das das Land befrieden wird, ob wir dadurch Ruhe bekommen werden in diesem Land. Denn es muss ja darum gehen, was die Syrer sich wünschen und sich vorstellen können, und ich bin überzeugt, dass eigentlich nur eine inklusive verhandelte Lösung, eine inklusive Regierung in Damaskus, mit der die meisten Menschen in Syrien einverstanden sind, die sie als akzeptabel begreifen, dieses Land befrieden kann. Assad kann Gelände zurückgewinnen mit der Unterstützung, die er hat. Er darf alles an Waffen einsetzen, von Chemiewaffen über Bunkerbrecher durch Russland, über Brandbomben und Streubomben. Keiner hindert ihn daran. Deswegen hat er militärischen Erfolg. Er setzt auf militärische Lösungen und wenn sich Außenminister Steinmeier hinstellt oder auch der UNO-Sondergesandte Staffan de Mistura und sagt, es gibt keine militärische Lösung, es kann nur eine politische Lösung geben, dann ist das vollkommen richtig.
"Russland möchte dieses Land nicht ewig bombardieren"
Aber wenn eine Seite genau das betreiben darf, ungehindert an einer militärischen Lösung zu arbeiten, dann werden wir nicht am Verhandlungstisch enden. Das heißt, wir brauchen schon eine gewisse Gegenreaktion, ein Gegengewicht, den Versuch, das zu stoppen, diese Strategie des "ergebt euch oder sterbt" durch Assad. Erst dann werden wir wieder an einem Verhandlungstisch sitzen, mit dem Ziel, tatsächlich eine Form von Machtübergabe zu verhandeln. Und der wichtige Punkt ist natürlich Russland. Russland möchte dieses Land ja nicht ewig mitregieren und bombardieren und dort Assad an der Macht halten, weil es weiß, das ist zu teuer und kann es sich eigentlich nicht leisten. Deswegen muss Russland auch an einer Machtübergabe oder an einer politischen Lösung mitarbeiten und die Zeit wäre jetzt wahrscheinlich endgültig gekommen, wenn Aleppo gefallen ist. Das war die Bedingung von Assad, er wollte Ost-Aleppo um jeden Preis zurückerobern. Das ist ihm jetzt wahrscheinlich gelungen. Und dann bleibt abzuwarten, ob da noch mal eine internationale diplomatische Initiative irgendwann Erfolg hat.
Zagatta: … sagt die Syrien-Expertin Kristin Helberg. Frau Helberg, danke für dieses Gespräch und Ihre Einschätzungen.
Helberg: Ich danke Ihnen.
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