Ein Vereinshaus in der Pariser Vorstadt Cormeilles-en-Parisis. Gut 30 Frauen und Männer singen, klatschen, schwingen mit den Oberkörpern. Esther Graf dirigiert den Gospel-Chor. Die junge Frau ist Pastorin und arbeitet als Gemeindegründerin für die evangelische Freikirche "France Mission". In den Räumen der Stadt darf sich die 26-Jährige allerdings nicht religiös engagieren.
Ein Stockwerk höher sitzen Damien Wary und Timothée Neu auf dem Boden, umringt von einigen Kindern der Sänger. Damien, 33, ist ebenfalls evangelikaler Pastor, Timothée, 27, absolviert ein Praktikum in Sachen Gemeindegründung. Die Männer sorgen für Stimmung wie bei einem Kinderfest. Nach einem Ratespiel geht Damien zu Werteerziehung über.
"Erinnert ihr euch, welche Werte wir schon besprochen haben? (Kinder antworten) Richtig: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Großzügigkeit. Heute reden wir über Ausdauer und Durchhaltevermögen."
Der Pastor liest eine Fabel vor, die sein Thema vermittelt, fragt die Kinder kurz ab. Nach anderthalbstündiger Betreuung bringt er sie zu den Eltern.
Durch die Fenster sieht man eine gesichtslose Siedlung mit Reihenhäusern und Grünflächen. Cormeilles-en-Parisis zieht vor allem Familien an, denen Paris zu teuer ist oder die die Nähe zum Land suchen. Der Kirchenbund "France Mission" hat die Stadt zum Missionsgebiet erklärt, sagt Damien Wary.
"Wir haben strategische und spirituelle Gründe. Strategisch wichtig ist, dass es hier in der Region bisher keine einzige protestantische Kirche gibt. Cormeilles zählt 25.000 Einwohner, die Nachbarstadt 22.000. Mit den kleineren Orten im Umkreis kommen wir auf 70.000 Einwohner ohne evangelische Gemeinde. Spirituell heißt: Wir beten, um zu spüren, was sich eröffnet und wohin Gott uns führt."
Gemeindegründung nach "strategischem Marketingplan"
Der junge Mann mit akkuratem Kurzhaarschnitt, Kapuzenjacke und jungenhaftem Lachen hat an einer evangelikalen Hochschule unweit von Paris einen "Master in Missionswissenschaft und Gemeindegründung" absolviert. In Cormeilles-en-Parisis verwirklicht er sein erstes Projekt. Ende 2015 ist er dafür mit Frau und Kind in diese Stadt, 20 Kilometer nordöstlich von Paris, gezogen. Inzwischen hat das Ehepaar zwei weitere Kinder bekommen. Beste Voraussetzung, um Kontakte zu anderen Familien zu knüpfen. Damien praktiziert jetzt, was er im Studium gelernt hat – es hört sich teilweise nach einem Marketingplan an.
"Zuerst gilt es, die Stadt und ihre Bewohner so gut wie möglich kennen zu lernen und für sie zu beten. Ich will erfahren, wer sie sind, was sie mögen, welche Musik sie hören... Dabei gehe ich soziologisch vor, besorge mir Statistiken, recherchiere im Internet und in der Stadtbücherei. Aber das Wichtigste ist: als Christ zu leben, die Menschen aufrichtig zu lieben und für sie Zeit zu haben."
Eine Gemeindegründung erfolgt immer im Team. Damien hat drei Mitstreiter: Chorleiterin Esther stammt aus Interlaken, ihr Schweizer Kirchenbund hat sie als Missionarin nach Frankreich entsandt.
Eine Frau soll nicht Chefin sein
Esther wird in Cormeilles als Pastoralassistentin bezeichnet. Dabei ist auch sie ausgebildete Pastorin, genau wie Damien. Aber beim Kirchenbund "France Mission" soll eine Frau nicht Chefin sein. Die Neo-Protestanten vertreten ein konservatives Frauen- und Familienbild.
In der Vorbereitungsphase haben sich die jungen Leute wie selbstverständlich beim katholischen Pfarrer und beim Bürgermeister vorgestellt, ihnen ihre Pläne erläutert. Transparenz ist wichtig, sagt Damien.
"Der erste Kontakt mit dem Bürgermeister verlief sehr gut. Wir haben ihm erklärt, dass wir unser kulturelles und unser kultisches Projekt klar unterscheiden. Die Idee mit dem Gospelchor hat er begrüßt. Aber auf unsere religiösen Pläne hat er ziemlich zurückhaltend reagiert. Das ist normal. Das Rathaus will wohl abwarten, wie sich unser Vorhaben entwickelt."
Der Gospelchor darf gratis im städtischen Vereinshaus üben, aber für Bibelstunden haben die Missionare bisher keinen Saal gefunden und das Abhalten von Gottesdiensten ist für sie noch ferne Zukunftsmusik. Zur Abendmahlsfeier gehen die Vier daher in die Nachbarstadt. Taverny liegt nur acht Kilometer entfernt. Dort gibt es seit zehn Jahren eine Freikirche, es ist ihre Mutterkirche.
Sonntag, fünf Uhr nachmittags. Pastor Pierre Egger begrüßt die Gemeinde. Esther spielt Gitarre, Damien schlägt auf einer Kistentrommel den Takt. Die Anwesenden singen eifrig. Später ergreifen auch die Missionare aus Cormeilles und andere Gläubige das Wort: Im Saal sind alle Altersgruppen und viele Hautfarben vertreten, die Stimmung ist gelöst. Nach dem Gottesdienst gibt es noch einen Imbiss.
"Alles läuft über Beziehungen"
Pastor Pierre Egger räumt den letzten Stuhl ins Kabuff, sperrt den Saal ab. Volles dunkelblondes Haar, sportliche Figur, Lederjacke und Jeans - Egger ist 58, sieht aber viel jünger aus. Ein Kumpel-Typ, der schnell zum Du übergeht. Pierre stammt auch aus der Schweiz. Als junger Mann hat er in Genf im Marketing gearbeitet, viel Geld verdient und einen Sinn im Leben gesucht. Den hat der getaufte Katholik dann in einer evangelikalen Jugendbewegung gefunden. Vor 30 Jahren ist er als Missionar nach Frankreich gezogen. Inzwischen hat er hier zwei Gemeinden gegründet: Zuerst in Asnières bei Paris, dann in Taverny. Bis eine Gemeinde funktioniert, muss ein Team durchschnittlich zehn Jahre lang ackern, sagt Pierre.
"Alles läuft über Beziehungen. Veranstaltungen mit religiösen Inhalten, das ist extrem schwierig. Es muss über Kultur gehen und dann eigentlich alles über Freundschaften. Das ist der einzige Weg in der Großstadt. An die Leute kommst du gar nicht ran, schon die Häuser sind verschlossen. Die einzigen, die heute noch Türen abklappern, sind die Zeugen Jehovas, und die haben so mittelmäßigen Erfolg mit ihrer Taktik."
Pierre setzt auf Vereinsarbeit. Er selbst spielt Tennis. Außerdem hat er sich jahrelang in den Schulen seiner drei Kinder als Elternvertreter engagiert. Dabei hatte er Glück: Eine Mutter, mit der er zusammen tätig war, wurde später zur Bürgermeisterin der Stadt gewählt. Die Freikirche in Taverny zählt inzwischen 50 eingeschriebene Mitglieder und noch mal so viele Menschen, die mitmachen, ohne registriert zu sein, sagt Pierre.
"Bei uns in der Gemeinde sind mindestens die Hälfte aller Leute so unterwegs mit anderen Leuten, auf einem geistigen Parcours. Die versuchen sie so für Gott zu gewinnen. Ohne sie zu bedrängen. Das braucht Zeit, das haut nicht immer hin. Aber alle Taufen hier bei uns, dieses und letztes Jahr, das sind alles Leute, die haben so den Glauben entdeckt, durch ihre Freunde und Nachbarn."
Christliche Hauskreise wichtiger als imposante Kirchen
Christliche Hauskreise sind den Evangelikalen wichtiger als imposante Kirchen. Im Mittelpunkt ihres Glaubens steht die ganz persönliche Beziehung des Einzelnen zu Gott. Die Bibel gilt als Maßstab fürs Leben. Pierre selbst betreut einen Nachbarn, der unter seiner Scheidung leidet.
"Dann haben wir abgemacht: Wir lesen dreimal die Bibel, wenn du weitermachen willst, kannst du weitermachen. Und jetzt lesen wir seit anderthalb Jahren die Bibel."
Der Nachbar sei zwar noch nicht restlos bekehrt, komme aber regelmäßig zu Veranstaltungen in die Gemeinde.
Zwei Kirchengründungen, vier bis acht Taufen pro Jahr - das genügt Pierre noch lange nicht. Das nächste Vorhaben ist noch ehrgeiziger: Pierre Egger will ein "regionales Fortbildungszentrum" eröffnen – geplant wie ein Schneeballsystem: Die Auszubildenden sollen zwei Jahre lang bei einer Gemeindegründung mithelfen, gleichzeitig geschult werden, und danach selbst eine neue Gemeinde aufbauen. Vier motivierte Kandidaten haben sich schon gemeldet.
Der Aktivismus des Pastors fügt sich in eine Strategie ein, die der Dachverband der Evangelikalen Kirchen in Frankreich, kurz CNEF genannt, entwickelt hat. Sie heißt: "Eine Gemeinde für 10.000 Einwohner". Der CNEF hat dazu einen Videoclip auf seine Webseite gestellt.
Generalstabsmäßige Eroberung der Seelen
Begeisterte junge Menschen – allesamt Männer – stehen vor Landkarten und Informationstafeln. Es sieht aus, als würden sie generalstabsmäßig die Eroberung der Seelen planen. Konkrete Anleitungen, Dokumente und Tabellen erklären, in welchen Etappen und Zeiträumen eine neue Gemeinde aufgebaut werden kann. Derzeit gibt es in Frankreich nur eine Gemeinde für 30.000 Einwohner, bedauert Daniel Liechti, Vize-Präsident im CNEF.
"Wir halten es für einen spirituellen Skandal, dass so viele Menschen keine evangelikale Kirche in ihrer Nähe haben. Viele wissen nicht einmal, dass es uns gibt. Wir streben kein Monopol an, wollen aber der gesamten Bevölkerung mit dem Evangelium zu Diensten sein."
Protestanten sind in Frankreich eine kleine Minderheit: Knapp zwei Millionen Menschen bezeichnen sich als evangelisch, das sind drei Prozent der Bevölkerung. Die blutige Verfolgung der Hugenotten im 16. Jahrhundert, ihre Unterdrückung und die massive Auswanderung im 17. Jahrhundert haben bis heute Spuren hinterlassen.
Unter Frankreichs Protestanten bildeten die Evangelikalen lange eine Splittergruppe. In den 1950er Jahren zählten sie nur 50.000 Gläubige, inzwischen sind sie 650.000, Tendenz steigend. Schon jetzt praktizieren mehr evangelikale als lutherisch-reformierte Protestanten. Und alle zehn Tage gründen sie eine neue Freikirche, sagt Daniel Liechti, aber selbst das ist ihm noch viel zu wenig. Der Verbandschef erklärt, wie der CNEF die Missionare unterstützt.
"Eine Kirche für 10.000 Einwohner"
"Unser Motto "Eine Kirche für 10.000 Einwohner" bedeutet: Wir sorgen für die nötigen Mittel. Wir stellen Geld bereit, um Tempel und Säle zu eröffnen. Wir gründen Schulen, um Theologen auszubilden. Wir kontaktieren die Behörden und sagen ihnen: Es ist nicht in Ordnung, dass es in dieser oder jener Großstadt fast keine Gemeinden gibt."
Besonders großen Zulauf haben die Neo-Protestanten in den Banlieue-Siedlungen. An Paris grenzt das Departement Seine-Saint Denis. Jeder dritte Bewohner dort ist ein Migrant. In dieser Gegend haben sich die Freikirchen innerhalb von zehn Jahren in etwa von 50 auf 100 verdoppelt.
Manche Gemeinden sind klein und unbedeutend. Andere ziehen die Menschen in Scharen an. Am größten ist eine so genannte Megachurch namens Charisma. Der Portugiese Nuno Pedro hat sie 2004 gegründet und leitet sie mit seiner Frau Nathalie.
Das Hauptgebäude liegt in einem Industriegebiet der Vorstadt Le Blanc Mesnil. Die Kirche, ein riesiger weißer Kubus hinter einem Metallzaun, gleicht einer lehren Lagerhalle. Jeden Sonntag organisiert Charisma einen kostenlosen Pendelverkehr: Dutzende Busse holen die Gläubigen an zwei S-Bahn-Stationen ab, fahren sie zur Kirche, in der mehrere tausend Menschen Platz finden. Was auffällt: Fast alle Gläubigen sind schwarz. Innen schreitet Pastor Pedro auf einer Bühne auf und ab, heizt die Stimmung an.
"Seid ihr froh hier zu sein? An diesem Ort scheint die Sonne. Amen. Seht euch das Lächeln eures Nachbarn an. Diese Kirche ist der Ort der Liebe. Hier wollen wir jetzt zusammen eine gute Zeit verbringen. Amen."
Girlanden mit Luftballons, blinkende Glühbirnen, Schummerlicht und riesige Bildschirme, auf denen das Geschehen und die Gläubigen zu sehen sind – die Dekoration sieht nach Party aus. Die Gläubigen singen aus voller Brust, klatschen im Takt, einzelne schluchzen, andere tanzen in den Gängen. Nach ein paar Liedern ruft der Pastor nachdrücklich zum Spenden auf.
"Jetzt ist der Moment für die Opfergaben. Wir werden dem Herrn geben, ich wiederhole: wir werden dem Herrn geben. Weil Gott uns gegeben hat, stehen wir jetzt auf und geben ihm mit großer Freude."
"Spirituelle Abzockerei"
Hunderte Hände zücken die Geldbeutel. Anschließend tritt ein Gast-Prediger aus den USA auf. Er mischt Zitate aus einem Bibeltext mit Anekdoten aus seinem Leben, bescheinigt dem Pastor große Frömmigkeit und lobt die Charisma-Kirche als Vorzimmer zum Paradies. Die Gläubigen rufen Amen und applaudieren.
Wie die meisten Gottesdienstbesucher sind auch Relande und Gaylor aus entfernten Vorstädten angereist. Nach zwei stündigem Gottesdienst warten die jungen Leute auf ihre S-Bahn. Ihre Familien stammen aus der Demokratischen Republik Kongo, wo es besonders viele Neo-Protestanten gibt.
"Die ganze Woche fiebere ich dem Sonntag entgegen, um in die Kirche zu gehen. Da empfinde ich Liebe. Meine Sitznachbarn und ich haben uns angelacht und Gottes Gegenwart gespürt."
"Bei Charisma fühlst du dich schon wie im Paradies. Mir ist, als würde mich der Pastor persönlich ansprechen. Alle Leute dort sind begeistert."
Daniel Liechti vom CNEF ist allerdings gar nicht begeistert. Sein Verband bietet den Kirchen der Migranten in den Banlieues Hilfe an. Aber die Methoden von Charisma lehnt er kategorisch ab. Liechti wirft dem portugiesischen Pastor "spirituelle Abzockerei" vor.
"Diese Kirche ist für uns borderline. Es stört uns nicht, dass der Pastor sechs- oder achttausend Menschen versammelt, aber sein Personenkult missfällt uns. Und noch mehr lehnen wir seine Botschaft ab: Er predigt das sogenannte Wohlstandsevangelium."
Gemeint ist die theologische Auffassung, wonach Wohlstand und persönlicher Erfolg sichtbare Beweise sind für Gottes Gunst. Persönliches Unglück gilt demnach als göttliche Bestrafung.
Olivier Abel ist Mitglied der Vereinigten Protestantischen Kirche Frankreichs, zu denen Reformierte und Lutheraner gehören. Der Philosoph und Theologe lehrt an den protestantischen Hochschulen von Paris und Montpellier. Er begrüßt es, dass gelegentlich auch Evangelikale aus Afrika bei ihm studieren.
"Das gibt uns die Gelegenheit, uns an anderen Überzeugungen zu reiben. Aber unsere Lehre schockiert diese jungen Leute oft. Sie streiten uns den wahren Glauben ab. Beim Examen stellt sich immer wieder heraus, dass alles, was sie hier gehört haben, an ihnen abgeglitten ist. Der Kontakt bleibt also fruchtlos."
Neo-Protestantismus größere Gefahr als der Islamismus
Studenten wie diese sind für Abel Fundamentalisten: Für sie ist es verboten, die Bibel zu hinterfragen. Sie vertreten daher auch erzkonservative Ansichten in Sachen Familie und Sexualität. Scheidung oder homosexuelle Handlungen sind für sie Sünde. Der Theologe betont, dass sich der Neo-Protestantismus besonders im frankophonen Afrika rasant ausbreitet und durch die Migrationsströme auch in Frankreich zunimmt.
"Im Rahmen der Globalisierung mit ihren Völkerwanderungen kann man diesen Neo-Protestantismus - der nicht vom CNEF vertreten wird - als Religion der Überlebenden bezeichnen. Es ist ein ultra-leichter, tragbarer Glaube. Er entwickelt sich dort, wo niemand sonst fähig ist, diese Menschen zu integrieren."
Wenn es den traditionellen Protestanten nicht gelinge, diese Gläubigen aus fremden Ländern und Kulturen aufzunehmen und sich mit ihnen zu mischen, dann könnten ihre Gemeinden erhebliches Gewicht bekommen. Es sei sogar denkbar, dass diese Entwicklung innerhalb des Protestantismus in ein, zwei Generationen zu Parallelgesellschaften führe und dann eine größere Gefahr darstelle als der Islamismus.