Stefan Heinlein: Gewalt, Missbrauch und Zwangsarbeit, Alltag in deutschen Kinderheimen bis in die 70er-Jahre. Eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Nachkriegspädagogik. Lange ein Tabuthema; erst spät, vor zwei Jahren, beschloss der Bundestag schließlich, das Schweigen zu brechen. Heute werden die Ergebnisse des Runden Tisches in Berlin vorgestellt.
Für die Evangelische Kirche war Hans Ulrich Anke bei den Gesprächen dabei. Er ist Präsident des Kirchenamtes der EKD. Guten Morgen, Herr Anke!
Hans Ulrich Anke: Guten Morgen, Herr Heinlein.
Heinlein: Sind Sie stolz auf die Ergebnisse des Runden Tisches?
Anke: Ich begrüße sehr, dass der Runde Tisch nun eine einstimmige Lösung, einen einstimmigen Lösungsvorschlag gefunden hat und auch die Bewertung der Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren sich einstimmig zu eigen gemacht hat, so wie es heute Frau Dr. Vollmer im Abschlussbericht vorstellen wird.
Heinlein: Wie war denn, Herr Anke, die Atmosphäre bei den Schlussverhandlungen? Ging es zuletzt vor allem ums Geld, also Entschädigungszahlungen ja oder nein?
Anke: Es war wichtig, dass es nicht nur ums Geld gegangen ist, aber es ging natürlich auch um die Frage, wie konkret Heimkindern jetzt geholfen werden kann, die bis heute andauernden Folgen zu bewältigen.
Heinlein: Warum gibt es denn keine pauschale Opferrente für jedes Heimkind?
Anke: Wir haben in den Beratungen und in den Expertisen und in den Berichten der Heimkinder am Runden Tisch gehört, dass die Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren sehr vielgestaltig war, dass Leid und Unrecht vielfach geschehen ist in den Einrichtungen, aber dass es doch so vielgestaltig ist, dass man nicht einfach eine pauschale Regelung, eine pauschale Bewertung unrechtspauschal in der Heimerziehung der 50er- und 60er-Jahre feststellen kann.
Heinlein: Also im Klartext: Nur wer jetzt nach 20, 30 Jahren noch nachweisen kann, dass er gequält und erniedrigt wurde, der kann dann mit einer Entschädigung rechnen, die anderen nicht?
Anke: Es geht vor allen Dingen darum, diejenigen, die heute noch darunter leiden, denen zu helfen, dass dieses Leid bewältigt werden kann. Also diejenigen, die etwa Therapien brauchen, dass man ihnen hilft, die richtige Therapie zu finden und diese Therapie zu finanzieren. Oder diejenigen, denen etwa Ausbildung in der Zeit der Heimerziehung vorenthalten wurde, weil sie zur Arbeit herangezogen wurden, dass dieses nachgeholt werden kann, wenn das heute möglich ist.
Heinlein: Wäre es nicht angemessener gewesen, Herr Anke, nach all diesen Jahren den Betroffenen diese Einzelfallprüfung zu ersparen?
Anke: Man kann diese Einzelfallprüfung deswegen nicht ersparen, weil wie gesagt die Heimerziehung relativ unterschiedlich war. Es war so, dass in vielen Gruppen schon das Leid und Unrecht so war, dass man es nicht einfach über einen Kamm scheren kann, sondern dass sehr unterschiedliche Herangehensweisen dort waren. Deswegen ist es wichtig, dass geguckt wird, wie ihnen jetzt heute geholfen werden kann.
Heinlein: Gibt es denn irgendwelche Vorgaben, wie diese Einzelfallprüfungen ablaufen sollen? Wer macht sie und wie lange dauern sie?
Anke: Es wird ein gemeinsamer Fonds eingerichtet werden. Dieser Fonds wird neben der zentralen Verwaltung regionale Anlaufstellen haben. Diese haben vor allen Dingen die Aufgabe, mit den Heimkindern, den Betroffenen, zusammen aufzuarbeiten, wo genau ihre Probleme liegen, und dieses möglichst niedrigschwellig und unbürokratisch.
Heinlein: Unbürokratisch sagen Sie. Wie lange werden diese Einzelfallprüfungen dauern?
Anke: Ich gehe davon aus, dass das einzelne Gespräche sind. Bei Bedarf wird ein externer Dritter vielleicht hinzugezogen werden müssen, aber ich halte das für sehr rasch möglich.
Heinlein: Wer hat denn am Runden Tisch, Herr Anke, die Zahlung von pauschalen Entschädigungssummen verhindert? Es heißt ja, vor allem die Länder hätten blockiert.
Anke: Wir waren uns am Runden Tisch insgesamt einig, dass bei der Vielgestaltigkeit der Heimerziehung man nicht einfach eine pauschale Regelung anwenden kann. Das würde zu neuen Ungerechtigkeiten führen, denn man müsste ja sagen, woran will man diese pauschale Regelung anknüpfen: an die einzelnen Heime oder an die Länge des Heimaufenthalts. Wir haben festgestellt, dass es gerade auch kurzfristige Heimaufenthalte waren, die zu erheblichem Leid geführt haben, hingegen längere oft auch so waren, dass viele Heimkinder darunter nicht so stark gelitten haben. Deswegen kann man nicht einfach schlicht eine pauschale Regelung ansetzen.
Heinlein: Der Verein ehemaliger Heimkinder war ja nicht mit am Runden Tisch vertreten. Es haben ja drei Einzelvertreter mitverhandelt für die Heimkinder. Aber für diesen Verein – Sie haben es im Vorbericht gehört – sind die Ergebnisse des Runden Tisches insgesamt eine Farce?
Anke: Die Vertreter der Heimkinder am Runden Tisch sind ja zum Teil auch aus diesem Verein ehemaliger Heimkinder hervorgegangen. Ich kann nicht verstehen, warum ein solches Ergebnis nicht akzeptiert werden kann. Sie sehen ja auch an der Reaktion der ehemaligen Heimkinder am Runden Tisch, dass die das voll mittragen.
Heinlein: Mit welchem Mandat haben denn die drei Vertreter der Heimkinder für die 800.000 Heimkinder der Nachkriegszeit verhandelt?
Anke: Die Organisation der ehemaligen Heimkinder ist so, dass viele Betroffenengruppen sich vor Ort immer gegründet haben bei den einzelnen Einrichtungen. Und die Vertreter, die am Runden Tisch sind, kommen aus solchen örtlichen Betroffenengruppen, zum Teil wie gesagt waren sie selber vorher Mitglied im Verein ehemaliger Heimkinder.
Heinlein: Aber es gibt kein offizielles Mandat in dieser Form?
Anke: Es sind Betroffenengruppen herangezogen worden. Es gibt ja keine Organisation der 800.000 ehemaligen Heimkinder.
Heinlein: Nun hat dieser Verein der ehemaligen Heimkinder weitere juristische Schritte angekündigt, weil es eben keine pauschalen Opferrenten geben wird. Wie bewerten Sie diese Ankündigung? Es wird also keinen Schlussstrich geben, weder juristisch noch moralisch.
Anke: Ich gehe nicht davon aus, dass juristische Wege zu irgendeinem Erfolg führen können. Abgesehen von den Fragen der Verjährung, die ja immer wieder auch angeführt werden, ist ja das Besondere an der Heimerziehung, dass das insgesamt ein System war, an dem nicht Versagen Einzelner das Entscheidende war, sondern dass das Versagen in den Grundlagen, in den gemeinsamen Strukturen der Heimerziehung der 50er- und 60er-Jahre gelegen hat. Deswegen wird man, wenn man einzelne Klagen führt, nicht weiterkommen können. Etwa die Landeskirchen sind ja rechtlich nicht in irgendeiner rechtlichen Verantwortung, aber selbstverständlich in einer moralischen, und deswegen wird die Evangelische Kirche in Deutschland die Verantwortung übernehmen und an diesem Fonds sich beteiligen.
Heinlein: Gibt es denn in der Schlusserklärung, wenn Sie jetzt die moralische Seite ansprechen, eine klare Entschuldigung der Kirchen und der anderen Institutionen an die Opfer der Heimerziehung?
Anke: Mit der Aufarbeitung ist ja deutlich geworden, dass erhebliches Unrecht und Leid in der Heimerziehung auch in den diakonischen Einrichtungen erfolgt ist, und deswegen wird es eine Erklärung geben, in der wir bei den Betroffenen um Entschuldigung bitten werden.
Heinlein: Also klar und deutlich steht das in dieser Schlusserklärung?
Anke: In der Schlusserklärung steht, dass es wichtig ist, dass die Betroffenen entstigmatisiert werden, dass anerkannt wird, dass sie Leid und Unrecht erfahren haben, ohne dass es ihr eigenes Versagen ist, denn sie führen ihre Situation ja oft darauf zurück, dass sie Heimkinder sind. Deswegen ist es wichtig, dass die beteiligten Institutionen das anerkennen, dass Unrecht ihnen erfahren ist und dass sie sozusagen nicht mehr am Rande der Gesellschaft stehen, und deswegen wird dieser Bericht darauf hinweisen, dass die Institutionen ihrerseits um Entschuldigung bitten sollen.
Heinlein: Der Runde Tisch Heimerziehung präsentiert heute seinen Abschlussbericht. Dazu heute Morgen hier im Deutschlandfunk der Präsident des Kirchenamtes der EKD, Hans Ulrich Anke. Ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören.
Anke: Ich danke Ihnen. Auf Wiederhören.
Für die Evangelische Kirche war Hans Ulrich Anke bei den Gesprächen dabei. Er ist Präsident des Kirchenamtes der EKD. Guten Morgen, Herr Anke!
Hans Ulrich Anke: Guten Morgen, Herr Heinlein.
Heinlein: Sind Sie stolz auf die Ergebnisse des Runden Tisches?
Anke: Ich begrüße sehr, dass der Runde Tisch nun eine einstimmige Lösung, einen einstimmigen Lösungsvorschlag gefunden hat und auch die Bewertung der Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren sich einstimmig zu eigen gemacht hat, so wie es heute Frau Dr. Vollmer im Abschlussbericht vorstellen wird.
Heinlein: Wie war denn, Herr Anke, die Atmosphäre bei den Schlussverhandlungen? Ging es zuletzt vor allem ums Geld, also Entschädigungszahlungen ja oder nein?
Anke: Es war wichtig, dass es nicht nur ums Geld gegangen ist, aber es ging natürlich auch um die Frage, wie konkret Heimkindern jetzt geholfen werden kann, die bis heute andauernden Folgen zu bewältigen.
Heinlein: Warum gibt es denn keine pauschale Opferrente für jedes Heimkind?
Anke: Wir haben in den Beratungen und in den Expertisen und in den Berichten der Heimkinder am Runden Tisch gehört, dass die Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren sehr vielgestaltig war, dass Leid und Unrecht vielfach geschehen ist in den Einrichtungen, aber dass es doch so vielgestaltig ist, dass man nicht einfach eine pauschale Regelung, eine pauschale Bewertung unrechtspauschal in der Heimerziehung der 50er- und 60er-Jahre feststellen kann.
Heinlein: Also im Klartext: Nur wer jetzt nach 20, 30 Jahren noch nachweisen kann, dass er gequält und erniedrigt wurde, der kann dann mit einer Entschädigung rechnen, die anderen nicht?
Anke: Es geht vor allen Dingen darum, diejenigen, die heute noch darunter leiden, denen zu helfen, dass dieses Leid bewältigt werden kann. Also diejenigen, die etwa Therapien brauchen, dass man ihnen hilft, die richtige Therapie zu finden und diese Therapie zu finanzieren. Oder diejenigen, denen etwa Ausbildung in der Zeit der Heimerziehung vorenthalten wurde, weil sie zur Arbeit herangezogen wurden, dass dieses nachgeholt werden kann, wenn das heute möglich ist.
Heinlein: Wäre es nicht angemessener gewesen, Herr Anke, nach all diesen Jahren den Betroffenen diese Einzelfallprüfung zu ersparen?
Anke: Man kann diese Einzelfallprüfung deswegen nicht ersparen, weil wie gesagt die Heimerziehung relativ unterschiedlich war. Es war so, dass in vielen Gruppen schon das Leid und Unrecht so war, dass man es nicht einfach über einen Kamm scheren kann, sondern dass sehr unterschiedliche Herangehensweisen dort waren. Deswegen ist es wichtig, dass geguckt wird, wie ihnen jetzt heute geholfen werden kann.
Heinlein: Gibt es denn irgendwelche Vorgaben, wie diese Einzelfallprüfungen ablaufen sollen? Wer macht sie und wie lange dauern sie?
Anke: Es wird ein gemeinsamer Fonds eingerichtet werden. Dieser Fonds wird neben der zentralen Verwaltung regionale Anlaufstellen haben. Diese haben vor allen Dingen die Aufgabe, mit den Heimkindern, den Betroffenen, zusammen aufzuarbeiten, wo genau ihre Probleme liegen, und dieses möglichst niedrigschwellig und unbürokratisch.
Heinlein: Unbürokratisch sagen Sie. Wie lange werden diese Einzelfallprüfungen dauern?
Anke: Ich gehe davon aus, dass das einzelne Gespräche sind. Bei Bedarf wird ein externer Dritter vielleicht hinzugezogen werden müssen, aber ich halte das für sehr rasch möglich.
Heinlein: Wer hat denn am Runden Tisch, Herr Anke, die Zahlung von pauschalen Entschädigungssummen verhindert? Es heißt ja, vor allem die Länder hätten blockiert.
Anke: Wir waren uns am Runden Tisch insgesamt einig, dass bei der Vielgestaltigkeit der Heimerziehung man nicht einfach eine pauschale Regelung anwenden kann. Das würde zu neuen Ungerechtigkeiten führen, denn man müsste ja sagen, woran will man diese pauschale Regelung anknüpfen: an die einzelnen Heime oder an die Länge des Heimaufenthalts. Wir haben festgestellt, dass es gerade auch kurzfristige Heimaufenthalte waren, die zu erheblichem Leid geführt haben, hingegen längere oft auch so waren, dass viele Heimkinder darunter nicht so stark gelitten haben. Deswegen kann man nicht einfach schlicht eine pauschale Regelung ansetzen.
Heinlein: Der Verein ehemaliger Heimkinder war ja nicht mit am Runden Tisch vertreten. Es haben ja drei Einzelvertreter mitverhandelt für die Heimkinder. Aber für diesen Verein – Sie haben es im Vorbericht gehört – sind die Ergebnisse des Runden Tisches insgesamt eine Farce?
Anke: Die Vertreter der Heimkinder am Runden Tisch sind ja zum Teil auch aus diesem Verein ehemaliger Heimkinder hervorgegangen. Ich kann nicht verstehen, warum ein solches Ergebnis nicht akzeptiert werden kann. Sie sehen ja auch an der Reaktion der ehemaligen Heimkinder am Runden Tisch, dass die das voll mittragen.
Heinlein: Mit welchem Mandat haben denn die drei Vertreter der Heimkinder für die 800.000 Heimkinder der Nachkriegszeit verhandelt?
Anke: Die Organisation der ehemaligen Heimkinder ist so, dass viele Betroffenengruppen sich vor Ort immer gegründet haben bei den einzelnen Einrichtungen. Und die Vertreter, die am Runden Tisch sind, kommen aus solchen örtlichen Betroffenengruppen, zum Teil wie gesagt waren sie selber vorher Mitglied im Verein ehemaliger Heimkinder.
Heinlein: Aber es gibt kein offizielles Mandat in dieser Form?
Anke: Es sind Betroffenengruppen herangezogen worden. Es gibt ja keine Organisation der 800.000 ehemaligen Heimkinder.
Heinlein: Nun hat dieser Verein der ehemaligen Heimkinder weitere juristische Schritte angekündigt, weil es eben keine pauschalen Opferrenten geben wird. Wie bewerten Sie diese Ankündigung? Es wird also keinen Schlussstrich geben, weder juristisch noch moralisch.
Anke: Ich gehe nicht davon aus, dass juristische Wege zu irgendeinem Erfolg führen können. Abgesehen von den Fragen der Verjährung, die ja immer wieder auch angeführt werden, ist ja das Besondere an der Heimerziehung, dass das insgesamt ein System war, an dem nicht Versagen Einzelner das Entscheidende war, sondern dass das Versagen in den Grundlagen, in den gemeinsamen Strukturen der Heimerziehung der 50er- und 60er-Jahre gelegen hat. Deswegen wird man, wenn man einzelne Klagen führt, nicht weiterkommen können. Etwa die Landeskirchen sind ja rechtlich nicht in irgendeiner rechtlichen Verantwortung, aber selbstverständlich in einer moralischen, und deswegen wird die Evangelische Kirche in Deutschland die Verantwortung übernehmen und an diesem Fonds sich beteiligen.
Heinlein: Gibt es denn in der Schlusserklärung, wenn Sie jetzt die moralische Seite ansprechen, eine klare Entschuldigung der Kirchen und der anderen Institutionen an die Opfer der Heimerziehung?
Anke: Mit der Aufarbeitung ist ja deutlich geworden, dass erhebliches Unrecht und Leid in der Heimerziehung auch in den diakonischen Einrichtungen erfolgt ist, und deswegen wird es eine Erklärung geben, in der wir bei den Betroffenen um Entschuldigung bitten werden.
Heinlein: Also klar und deutlich steht das in dieser Schlusserklärung?
Anke: In der Schlusserklärung steht, dass es wichtig ist, dass die Betroffenen entstigmatisiert werden, dass anerkannt wird, dass sie Leid und Unrecht erfahren haben, ohne dass es ihr eigenes Versagen ist, denn sie führen ihre Situation ja oft darauf zurück, dass sie Heimkinder sind. Deswegen ist es wichtig, dass die beteiligten Institutionen das anerkennen, dass Unrecht ihnen erfahren ist und dass sie sozusagen nicht mehr am Rande der Gesellschaft stehen, und deswegen wird dieser Bericht darauf hinweisen, dass die Institutionen ihrerseits um Entschuldigung bitten sollen.
Heinlein: Der Runde Tisch Heimerziehung präsentiert heute seinen Abschlussbericht. Dazu heute Morgen hier im Deutschlandfunk der Präsident des Kirchenamtes der EKD, Hans Ulrich Anke. Ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören.
Anke: Ich danke Ihnen. Auf Wiederhören.