Die "Denkschrift zur Lage der deutschen Nichtarier" kursierte vor 80 Jahren in Nazi-Deutschland. Darin prognostiziert der Verfasser anonym, was die Nationalsozialisten mit den Juden vorhaben. Doch er fand wenig Gehör. Nach dem Krieg geriet die Schrift in Vergessenheit. Erst Jahrzehnte später wurde klar, dass es Elisabeth Schmitz war, die den Text verfasst und verteilt hat. Und so hat die Geschichte begonnen:
Eine Erika-Schreibmaschine, ein Vervielfältigungsapparat, jede Menge Papier. Es ist nicht ungefährlich, was sich die Berliner Studienrätin im Sommer 1935 anschafft. Doch Elisabeth Schmitz meint es ernst. Ihr Entschluss, das Schweigen zu durchbrechen, ist über Jahre gereift. Schon im April 1933, nur wenige Monate nach der "Machtergreifung" der Nazis, beginnt sie Briefe zu schreiben an bekannte Theologen wie Karl Barth und Friedrich von Bodelschwingh. Sie mahnt und drängt ihre Kirche, endlich laut gegen die Diskriminierung und Verfolgung der Juden zu protestieren. Doch die Kirche, so der Historiker Manfred Gailus, tat zur großen Enttäuschung von Elisabeth Schmitz wenig bis gar nichts.
"Es ging ihr nicht nur um die evangelischen Nichtarier in der Kirche, sondern um die Juden insgesamt. Das war ungewöhnlich in der Kirche, denn wenn die Kirche überhaupt was sagte zu dem Thema, dann eher intern zu den eigenen Mitgliedern, also zu den Christen jüdischer Herkunft. Zugleich findet man bei ihr nicht die Spur von Antijudaismus oder Antisemitismus, was ganz erstaunlich ist, denn in der damaligen Kirche war Antijudaismus eine Selbstverständlichkeit, weitverbreitet, theologische Schulmeinung bei Pfarrern, aber auch im Kirchenvolk. Personen wie Schmitz sind frei davon."
Mitglied der Bekennenden Kirche
Elisabeth Schmitz, Jahrgang 1893, stammte aus einem christlichen Elternhaus in Hanau. Sie studierte Geschichte und Theologie, war hochgebildet. Seit 1915 lebte sie in Berlin, unterrichtete Deutsch, Geschichte, Religion. Nach dem Machtantritt der Nazis zählt Schmitz zur Bekennenden Kirche. Weit mehr aufgehoben mit ihren kritischen Gedanken war sie jedoch in einem Kreis gleichgesinnter Frauen. Mit dabei ihre Lehrerkollegin Elisabeth Ahrbeck, die Töchter des Theologen Adolf von Harnack oder die Pflanzengenetikerin Elisabeth Schiemann. Ein kleines, subversives Netzwerk widerständiger Frauen aus dem hauptstädtischen Kulturprotestantismus. Schmitz pflegte auch Freundschaft zu bedrängten Juden. Später, während des Krieges, half diese Gruppe aktiv, Verfolgte zu verstecken.
"Ein hohes Maß an Empathie ist bei allen diesen Frauen zu beobachten. Das war ein wichtiges Kriterium für ihr Verhalten. Also bei anderen, ich sage jetzt mal bei professionellen Theologen, konnte die damalige Theologie auch wie ein Brett vor dem Kopf wirken. Eine Schranke die ihnen gebot, sich hier nicht weiter zu engagieren."
So sah Schmitz das, was andere nicht sahen oder nicht sehen wollten. Die 15 Maschinenseiten ihrer Denkschrift sind eine fundamentale Abrechnung mit dem Kern der nationalsozialistischen Weltanschauung, der Rassenlehre. Und zugleich sind sie eine schonungslose Kritik am Verhalten der Kirche, nicht zuletzt auch ihrer eigenen, der Bekennenden Kirche.
"Elisabeth Schmitz zeigt mit ihrer Schrift, wie viel man damals, 1935, von der Verfolgung bereits erkennen konnte. Also man staunt darüber, wie viel sie weiß und welche Einzelheiten sie alle zusammenträgt. Alles dieses konnte man 1935 wissen. Sie zieht dann auch einige Schlussfolgerungen, wie das weitergehen könnte: Sie sagt, wenn man das weiterdenkt, läuft das auf eine Vernichtung des Judentums hinaus."
200 Exemplare im Umlauf - bis nach London
Schmitz verfasst ihre Denkschrift anonym. Im Vorfeld der Berliner Bekenntnissynode vom September 1935 gibt sie das Papier Vertrauten. Bald macht das Papier die Runde. Sogar bis nach Württemberg. Dietrich Bonhoeffer, der nicht ahnt, aus wessen Feder sie stammt, findet sie so bedeutend, dass er sie einem befreundeten Pfarrer in London zukommen lässt. Ein halbes Jahr später – unter dem Eindruck der Nürnberger Rassengesetze – überarbeitet und vervielfältigt Schmitz ihre Schrift. Schließlich sind gut 200 Exemplare im Umlauf. Es grenzt an ein Wunder, dass die Gestapo im Dunkeln tappt, wer der Verfasser ist.
Pionierin der Neubwertung des Judentums
Welche Resonanz ihre Schrift fand, lässt sich heute nur schwer ausmachen. Sie hat jedenfalls zu keinen konkreten Beschlüssen geführt. Die Bekennende Kirche war gefangen in ihrer Zurückhaltung. Schließlich war die evangelische Theologie selbst noch tief in antijüdischen Vorurteilen verhaftet. Für Manfred Gailus ist Elisabeth Schmitz daher auch eine Pionierin der theologischen Neubewertung des Judentums.
"Auch in der Bekennenden Kirche war die sogenannte Judenfrage ein schwieriges Thema. Man konnte sich dort auch nicht zu einer klaren gemeinsamen Position durchringen. In der Bekennenden Kirche hat man theologische Kommissionen eingesetzt, man hat jahrelang darüber debattiert theologisch, wie denn die korrekte Haltung zur Judenfrage sei, aber man kam eigentlich nicht zu Ergebnissen. Es gab auch in der Bekennenden Kirche Theologen, die sagten, Arierparagraf in der Kirche, das geht nicht. Aber Zurückdrängung des jüdischen Einflusses im öffentlichen Leben, in verschiedenen Berufszweigen usw., alles dieses ist durchaus gerechtfertigt."
Nach der Pogromnacht im November 1938 schreibt Elisabeth Schmitz erneut mahnende Briefe. Wenig später zieht sie Konsequenzen aus ihrer Ablehnung des Regimes: Mit bemerkenswert offenen Worten, dass sie aus Gewissensgründen nicht länger in der vom Regime gewünschten Weise unterrichten könne, bittet sie die Schulverwaltung um Entlassung aus dem Dienst. Das Kriegsende erlebt sie schließlich in Hanau. Für einige Jahre kehrt Elisabeth Schmitz dann noch einmal in den Schuldienst zurück. Doch von ihren mutigen Aktionen wissen nur wenige. Es ist schließlich eine ehemalige Schülerin, die nach jahrelanger Recherche Elisabeth Schmitz mit der Denkschrift von 1935 in Zusammenhang bringt. Doch noch immer, auch 80 Jahre nach dieser Denkschrift, ist sie eine weitgehend vergessene Heldin.
"Gemessen an der historischen Bedeutung der Denkschrift ist Elisabeth Schmitz immer noch viel zu unbekannt. Die EKD mit ihren 20 Gliedkirchen hat wenige Persönlichkeiten aus der Zeit des Dritten Reiches, die so mutig, so klar und so hellsichtig waren wie Elisabeth Schmitz. Sie können sich glücklich schätzen, dass sie wenigstens ein paar solche Personen haben. Und sie sollten diese mehr und deutlicher herausstellen in ihrer Gedenk- und Erinnerungsarbeit."