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Evangelischer Kirchentag
Eine Institution auf Selbstfindungskurs

Ähnlich wie die Katholische Kirche hat auch die Evangelische ein Vertrauensproblem. Opfer von sexuellem Missbrauch werfen ihr vor, die Fälle nur halbherzig und zu spät aufzuarbeiten. Beim heute in Dortmund zu Ende gegangenen Kirchentag wollte man das verlorene Vertrauen zurückgewinnen.

Von Rainer Brandes |
Ein Kreuz steht beim Abschlussgottesdienst des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentages auf einem Altar.
Der Abschlussgottesdienst im früheren Westfalenstadion (Picture alliance /dpa / Bernd Thissen)
"Was für ein Vertrauen" hat der Kirchentag sich als Losung gegeben. Doch die Kirche hat ein Vertrauensproblem. Im Fußball-Stadion, wo sonst der BVB seine Heimspiele hat, steht Pastorin Sandra Bils heute Vormittag auf dem Rasen und erzählt: "Letztens jemand beim Bier zu mir: Du Sandra, nimm es mir echt nicht übel. Aber: Ich kann auch ohne Kirche. Es ist nicht so, dass ich nicht an Gott glaube, oder so. Aber dafür brauch‘ ich keine Kirche. Eure Zeit ist irgendwie vorbei, weißt du?"
Tatsächlich hat die Evangelische Kirche ein Problem mit ihrer Glaubwürdigkeit. Das wurde gestern überdeutlich auf einem Podium des Kirchentages. Es ging um sexuellen Missbrauch. Anders als die katholische hat die evangelische Kirche erst im vergangenen Jahr angefangen, Missbrauchsfälle in ihren Reihen systematisch aufzuarbeiten. Und auch das bisher nur halbherzig. Das ist jedenfalls der Vorwurf, den Opfer erheben. Opfer, wie Kerstin Claus.
Langsame Aufarbeitung
Sie ist erst nachträglich zum Podium eingeladen worden. Dort sagt sie: "Wenn es so viele Betroffene gibt, dann müssen Sie vielleicht nicht nur lernen, uns Betroffene auszuhalten, sondern dann muss man auch im Kopf sich klar machen, dann gibt es auch so viele Täter und manchmal auch Täterinnen. Und erst, wenn ich über Täterstrategien sprechen kann, über Geheimniskonstrukte, über all diese Dinge, dann durchbreche ich diese Strategien."
Auch der Kirchentag als Institution steht in der Kritik. Jahrelang saß der mutmaßliche Haupttäter an der Odenwaldschule, Gerold Becker, im Kirchentagspräsidium. Auf Nachfrage des Deutschlandfunks überlässt Kirchentagspräsident Hans Leyendecker lieber seiner Generalsekretärin Julia Helmke eine Antwort: "Wir nehmen das jetzt auf und an. Und das lassen wir gerade recherchieren, welche Themen das waren und was das vielleicht auch bedeutet."
Pastorin Sandra Bils aus Hannover spricht beim Abschlussgottesdienst beim 37. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Dortmund die Predigt.
Abschlussgottesdienst des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentags (dpa/Roland Weihrauch)
Dieser Kirchentag war aber auch Debattenort für drängende politische Fragen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier forderte die Politik auf, die Regeln der Digitalisierung nicht den großen Konzernen zu überlassen: "Was einmal gestaltet worden ist, kann auch neu gestaltet werden. Und was programmiert worden ist, kann auch neu programmiert werden. Trauen wir uns also zu und reden wir über die Änderung des Programms."
Kritik an Flüchtlingspolitik
Nach der Eskalation zwischen den USA und dem Iran ruft Bundeskanzlerin Angela Merkel den Kirchentagsbesuchern zu: Eine diplomatische Lösung müsse möglich sein: "Und deshalb werde ich wieder und wieder dafür werben, dass wir multilateral statt unilateral, global statt national, weltoffen statt isolationistisch, gemeinsam statt allein denken und handeln."
Ein Schwerpunkt aber bildet die Migrationspolitik. "Schicken wir ein Schiff": So ist eine Resolution überschrieben, die der Kirchentag verabschiedet hat. Eingebracht hat sie unter anderem der Grünen-Europa-Politiker Sven Giegold. Darin fordert der Kirchentag die Evangelische Kirche in Deutschland auf, ein eigenes Rettungsschiff ins Mittelmeer zu schicken. Die Politik mache sich schuldig, sagt Kirchentagspräsident Hans Leyendecker im Schlussgottesdienst.
"Pilatus hat sich die Hände in Unschuld gewaschen. Europäische Politikerinnen und Politiker waschen sie in dem Wasser, in dem Flüchtlinge ertrinken."