"Dortmund hat ein doppeltes Naziproblem: Einmal die Nazis selbst, die sich in einer ganz besonderen Weise aufstellen. Und Dortmund hat ein Naziproblem, was sein Image und die überregionale Wirkung angeht, indem immer wieder behauptet wird, dass die Dortmunder sich nicht genug gewehrt hätten - und beidem wollen wir entgegentreten."
Friedrich Stiller, evangelischer Pfarrer und Aktivist, war schon vor fast 20 Jahren Mitbegründer des Dortmunder Arbeitskreises gegen Rechtsextremismus, später auch der "Christen gegen Rechtsextremismus". Jetzt steht Stiller mit einer kleinen Besuchergruppe am Platz der Alten Synagoge, die 1938 von den Nazis zerstört wurde.
Der Platz ist Ausgangspunkt für einen alternativen Stadtrundgang gegen Rechtsextremismus. Während des evangelischen Kirchentages Mitte Juni wird er zweimal täglich angeboten, wenn mehr als 100.000 Besucher aus dem In- und Ausland in der Stadt sind. Nazi-Kiez oder Gefahrenzone für Fremde, solche Zuschreibungen hält Stiller für völlig überzogen.
"Es gibt keine No-go-Areas in Dortmund, das gehört zu den Mythen! Sondern sowohl die Zivilgesellschaft ist überall präsent, vor allen Dingen aber auch die Polizei."
Als die Nazis den Kirchturm besetzten
Das hat sich 2016 etwa bei der Besetzung der Reinoldikirche in der Dortmunder City gezeigt, auch sie eine der insgesamt acht Stationen des Stadtrundgangs. An einem Freitagabend im Advent hatten Neonazis hier den Kirchturm besetzt, ein fremdenfeindliches Banner aufgehängt und mit einem Megafon ihre Thesen verbreitet. Die Pfarrerin läutete daraufhin geistesgegenwärtig die Glocken und dominierte damit die Szene, während Passanten draußen riefen: "Nazis raus!". Wenn Stiller solche Dortmunder Geschichten erzählt, dann liefert er den politischen Kontext gleich mit: So wird der Rundgang zum lebendigen Politikunterricht.
"Wir stehen hier vor der Reinoldikirche, also unserer Dortmunder Stadtkirche. Wenn Sie sich das hier überlegen: Da wird beim Weihnachtsmarkt, in weihnachtlicher Stimmung, der Turm der Stadtkirche besetzt, dann sehen Sie noch ein anders Politikelement, einen anderen Teil der Strategie der Nazis, nämlich die Provokation. Das haben sie hier in den letzten Jahren zu einer gewissen Kunst entwickelt: Solche Aktionen, das ist das Bewegungsorientierte, die an der strafrechtsrelevanten Grenze sind. Das heißt, Dinge, die gerade nicht oder noch nicht verboten sind."
Oder nur mit geringen Strafen belegt sind, wie die Kirchturmbesetzung, dafür aber ein bundesweites Presseecho garantieren. Gleichzeitig gibt es viele Menschen in Dortmund, die den öffentlichen Raum nicht mehr den Nazis überlassen wollen.
Eine Frau sagt: "Ich mache mir Sorgen um unsere Demokratie, um die Zukunft meiner Kinder auch, weil ich mir wünsche, dass sie weiter in einem friedlichen und demokratischen Land leben können. Ich finde es erschreckend, was ich immer für so selbstverständlich gehalten habe, dass das für mich so an einem seidenen Faden hängt."
Ein Mann ergänzt: "Es ist wichtig, dass Dortmund sich auch zeigt, was hier passiert - auch an Widerstand. Das sollte bundesweit bekannt werden, weil Städte - ob das Chemnitz ist oder Rostock oder Solingen - da passieren einzelne schreckliche Dinge, und die ganzen Städte sind gebrandmarkt, für lange, lange Zeit."
"Wir konnten das nicht mehr ertragen"
Mahnwachen zum Schutz von Flüchtlingen, Demos bei Nazi-Aufmärschen, Trainings zum Thema "Nazis begegnen" und eine enge Zusammenarbeit von Stadt, Polizei und Zivilgesellschaft – die Liste der Aktivitäten ist lang. Und doch gibt es auch tragische Ereignisse. Der Tod eines Punkers etwa, der vor 14 Jahren in einem U-Bahnhof von einem 17-jährigen Neonazi erstochen wird, auch das eine Station des Rundgangs. Oder die Einschüchterung von zwei jungen Leuten im Stadtteil Dorstfeld, von dem Stadtführerin Sabine Fleiter erzählt. Hier hatten sie abends auf dem Heimweg ein abgerissenes Nazi-Plakat aufgehoben. Darauf waren sie verfolgt und fotografiert worden.
"Die Beiden hätten das eigentlich schon längst wieder vergessen, denn als sie zu Hause waren, waren sie froh und dachten: Der Spuk ist vorbei. Als einige Wochen später sie darauf aufmerksam gemacht worden sind, von Freunden, dass auf der Seite der Neonazis ihre Bilder auftauchten und es wurde ein direkter Link zu ihrer Facebook-Seite hergestellt, so dass auch die Namen herauszufinden sind. Das hat die beiden sehr schockiert, weil sie mit einem Mal dastanden wie Freiwild. Sie haben sich seitdem unsicher gefühlt und mittlerweile sind sie auch fortgezogen. Sie sagten, wir mussten da weg, wir konnten das nicht mehr ertragen."
"Kirche und Christen bleiben hartnäckig"
Der zweistündige Rundgang endet mit der Erinnerung an den türkischen Kiosk-Besitzer Mehmet Kubasik am NSU-Mahnmal hinter dem Hauptbahnhof. Kubasik wurde 2006 von der Terrorgruppe NSU erschossen, aber erst Jahre später richteten die Behörden ihre Ermittlungen endlich nicht mehr auf seine Familie, sondern auf die rechte Szene.
"Wir würden uns natürlich alle wünschen, dass die rechtsextreme Szene hier in Dortmund irgendwann verschwindet, aber im Moment müssen wir uns darauf einstellen, dass sie das nicht tut. Darum ist es entscheidend, dass alle Seiten - Polizei, Stadt, vor allem aber Bürgerinnen und Bürger - einfach einen langen Atem behalten und dazu gehört auch, dass die Kirche und die Christen sich hartnäckig weiter engagieren. Wir müssen zusammen diesen Druck aufrechterhalten und die Dämme bauen, damit sie sich nicht ausweiten können."
So Pfarrer Friedrich Stiller. Ob und wie die rechte Szene auch beim Kirchentag aktiv wird, kann derzeit niemand sagen. "Wir sind in Habachtstellung" heißt es von offizieller Seite.