"Das Risiko besteht darin, dass es eigentlich nur scheitern kann", sagt Volkhard Krech. Er steht vor einer scheinbar unlösbaren Aufgabe. Denn er hat sich etwas vorgenommen, das er selbst für unmöglich hält: Er will die Evolution der Religion erklären:
"Das Risiko besteht eigentlich in der Hybris, in der Anmaßung, dass eine einzelne Person wie ich jetzt heutzutage - bei der großen Spezialisierung, die wir haben, bei einem enormen Wissen, das man für so eine Megafrage braucht – überhaupt als Einzelperson da drangeht."
Doch wenn sein Projekt schon zum Scheitern verdammt ist, "dann müssen wir gescheiter scheitern."
Also hinterher schlauer sein als vorher.
"Ich habe niemanden gefunden, der mitmachen will"
Volkhard Krech ist Professor in Bochum und leitet dort das Centrum für Religionswissenschaftliche Studien:
"Aber, das kann ich etwas flapsig-lapidar formulieren: Ich habe niemanden gefunden, der mitmachen will bei dem Evolutionsprojekt."
Keiner wollte mitscheitern. Also macht sich Krech erst mal alleine an das Megaprojekt. Einen Fehler will er dabei schon mal vermeiden, um nicht direkt zu scheitern – und zwar an einem Ansatz, den viele Forscher vor ihm verfolgt haben oder bis heute verfolgen: die Evolution der Religion als eine chronologische Geschichte erzählen:
"Erzählen möchte ich nicht, das unterscheidet mich vielleicht von vielen historischen Ansätzen, weil es in dem Sinne keine Story gibt, die man erzählen könnte."
Jede Geschichte braucht einen Anfang. Und schon daran scheitert es bei der Religionsgeschichte.
"Es gibt nicht 'den Anfang'. Also irgendwann - was weiß ich - 423.000 vor unserer Zeitrechnung startete das, was wir Religionsgeschichte nennen. Und dann bis heute. Also das karikiere ich jetzt. Es gibt erstens nicht den einen Ursprung, weder systematisch, kausal noch auch zeitlich. Zweitens aber - und das ist mir wichtiger - muss man Anfänge von hinten her rekonstruieren, von ihren Wirkungen her", so Krech.
Seelenreise mit Hirschgeweih?
Krech will also von dem aus, was man heute kennt, zurückschauen. Er macht das deutlich an zwei Beispielen, zwei ganz frühen Beispielen aus der Religionsgeschichte:
"Eines der ersten Gräber – im heutigen Israel – ist eine Erd-Höhlen-Bestattung, um 100.000 vor unserer Zeitrechnung. Eine Bestattungspraxis, die Zeichen birgt, die über reine Hygienefragen hinausgehen."
In diesem vermutlich ältesten bekannten Erdgrab der Menschheitsgeschichte, da liegt nämlich nicht nur das Skelett eines jungen Mannes drin, sondern auch "vermutlich eine Grabbeigabe. Ein Hirschgeweih."
Und bei diesem Geweih könnte man nun vermuten: Wer seine Toten nicht einfach nur entsorgt, sondern ihnen Gegenstände mitgibt, der glaubt an ein Jenseits oder an Wiedergeburt oder so was in der Art.
"Von hinten her gesehen: Wir haben irgendwann Kosmologien. Wir haben irgendwann Seelenreisekonzepte und dergleichen. Und von dort aus kann man dann ganz vorsichtig zurückschließen, dass möglicherweise das Hirschgeweih als Grabbeigabe im Zusammenhang eines Seelenreisekonzeptes steht", sagt Krech.
"Das Sinnpotential rekonstruieren"
Er spricht hier von Sinnpotential: Das Hirschgeweih könnte als Grabbeigabe für das Jenseits gedacht gewesen sein, könnte es aber eben auch nicht. Ähnlich deutet der Religionswissenschaftler auch ein weiteres prähistorisches Beispiel, und auch hier kommt ein Hirsch vor:
"Es gibt eine Höhlenzeichnung, die zeigt eine Art Zwischenwesen, zwischen - so rekonstruieren Fachleute - zwischen einem Hirschen und einem Menschen."
Der sogenannte "Zauberer der Drei-Brüder-Höhle" in Südfrankreich. Die Höhlenzeichnung ist rund 20.000 Jahre alt. Dass es sich bei dieser Mischung aus Mann und Hirsch aber um einen Zauberer handelt, wie Forscher vermutet haben - oder um einen Schamanen oder einen Priester oder sogar einen Gott – diese Interpretationen gehen Volkhard Krech zu weit. Er deutet auch diese Zeichnung "von hinten her" - vor dem Wissen, dass Menschen Jahrhunderte später an diverse Mischwesen glauben:
"Ab 3.000 vor unserer Zeitrechnung haben wir das alles textlich gut belegt: die ganzen Dämonen, die Geister und so weiter. Wir können hier das Sinnpotential rekonstruieren, das sich dann in späterer Entwicklung verwirklicht."
Auch hier gilt also: Kann sein, dass der Hirschmann ein Vorfahre späterer Zwischenwesen ist. Muss aber nicht sein. Trotzdem deuten die beiden Beispiele mit den Hirschgeweihen auf einen Zusammenhang hin: den von Religion und Jagd. Beim Jagen geht es um Leben und Tod, und deshalb sei es nicht weit zu religiösen Vorstellungen. Auch hier erkennt Krech einen möglichen Ursprung der Religionsgeschichte:
"Jäger machen schlechte und gute Erfahrungen. Und beides muss verarbeitet werden. Eine schlechte Erfahrung: zum Beispiel, dass Jäger sterben bei der Jagd. Oder dass das Wild ausbleibt. Da dockt Religion an. Aber auch umgekehrt: der Dank, der Überschuss. Eine gelungene Ernte, das ist so eine Disposition, so eine Möglichkeit, dass Religion daraus entstehen kann."
"Evolution ist blind"
Das besagte Sinnpotential also. Aber allzu viel Sinn will Volkhard Krech auch nicht hineininterpretieren in die Evolutionsgeschichte der Religion:
"Evolution ist blind. Alltagssprachlich würden wir sagen: Sie ist zufällig. Deswegen kann es auch kein Ziel geben, und deswegen kann es keinen Fortschritt geben."
Damit widerspricht Krech Modellen der religiösen Evolution, wie sie vor allem im 19. Jahrhundert entstanden sind: von vermeintlich primitiv zu komplex, von der Beseeltheit der gesamten Natur zum Glauben an einen einzigen Gott. Oft erschienen als Ziel dieser Evolution dann der Monotheismus und vor allem das Christentum. Eine solche Wertung will Krech nicht vornehmen, könne er als Wissenschaftler auch nicht:
"Ich hab gar keine wissenschaftlichen Mittel zu sagen: Nirwana ist besser als eine Paradiesvorstellung oder so was. Wie sollte ich das wissenschaftlich tun?"
Das sei eine Glaubensfrage. Und an Glaubensfragen will Volkhard Krech ganz sicher nicht scheitern, wenn er versucht, die Evolution der Religion zu erklären.