Um ein Beispiel für die Wirkung von Mutation und Selektion in der Stadt zu zeigen, muss der Evolutionsbiologe Menno Schilthuizen von der Universität Leiden in den Niederlanden nur in den kleinen Garten hinter seinem Haus gehen. An der Gartenmauer findet er kleine Schnecken, deren Schneckenhäuser sich farblich verändert haben. "Durch die Hitze in der Stadt haben die Schnecken mit hellen Schneckenhäusern einen Vorteil", erläutert Menno Schilthuizen. Sie reflektieren das Sonnenlicht besser, heizen sich im Sommer weniger auf und schützen sich so vor der Hitze der Stadt.
Tauben hingegen werden in den Städten dunkler. Sie lagern den Farbstoff Melanin in ihre Federn ein. Das Melanin im Gefieder bindet Schwermetalle und andere schädliche Substanzen. "So entgiften sich die Stadttauben und können zwischen Häusern und Autos besser überleben", erklärt Schilthuizen. Diese grauen Tauben sind eine Anpassung an das Stadtleben. Die Evolution war gefordert und hat geliefert.
Die "U-Bahn-Mücken" in London
Das gleiche gilt für so genannte "U-Bahn-Mücken" in London. Dort hat sich eine ursprünglich auf Vogelblut spezialisierte Mückenart auf Menschenblut umgestellt. So können sie unterirdisch überleben. Auch das Verhalten der Mücken hat sich bei der Verlagerung des Lebensraumes von der Oberfläche in die U-Bahn verändert. Die Mückenmännchen bilden keine Schwärme mehr, um Weibchen anzulocken, sondern gehen einzeln auf Partnersuche. Da die U-Bahnröhren der verschiedenen Linien in London voneinander getrennt sind, werden die Mücken voneinander getrennt und können sogar verschiedene Spezies ausbilden.
Für den Evolutionsbiologen Matthias Glaubrecht von der Universität Hamburg sind diese Anpassungen an das Stadtleben zwar eine Form der schnellen Evolution. Sie sind aber in keiner Weise geeignet, dem weltweiten Artenschwund entgegenzuwirken. Denn gleichzeitig findet weltweit eine nie dagewesene Zerstörung von Lebensräumen statt. Und mit den Biotopen werden auch die Arten vernichtet, die sich auf das Leben darin spezialisiert haben. Die Zahl der Insekten und Vögel sinkt dramatisch.
Stadt-Evolution stoppt nicht den Artenschwund
Um die Menschen in den Städten zu ernähren, müssen auf dem Land immer mehr Nahrungsmittel erzeugt werden. Riesige Agrarsteppen mit intensiv betriebener Landwirtschaft bieten Insekten und Vögeln immer weniger Nahrung und kaum noch Lebensraum. Zunächst sinkt die Zahl der Lebewesen und später die Artenzahl, und mit den Arten verschwinden auch deren Gene. Sie fehlen als Rohstoff für die Evolution. Für die Anpassung an eine veränderte Umwelt stehen sie nicht mehr zur Verfügung, beklagt Matthias Glaubrecht. Er warnt: "Ob das Ende der Evolution, das ab der Mitte des 21. Jahrhunderts droht, aufzuhalten sein wird, darüber entscheidet unser Tun in den unmittelbar vor uns liegenden Jahrzehnten."
Buchtipps:
Menno Schilthuizen: "Mir ist aufgefallen, dass die Leute denken, die 'echte' Natur gäbe es nur dort draußen in den Bergen, in den Wäldern, im Dschungel. Sie meinen, dass das, was in der Stadt lebt, nichts wert ist. Nicht interessant. Deshalb ignorieren sie es. Und das halte ich für einen Fehler."
Darwin in der Stadt
Die rasante Evolution der Tiere im Großstadtdschungel
Von Menno Schilthuizen
dtv
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Matthias Glaubrecht: "Die großen Bestände an Tieren und Pflanzen sind das Angebot, aus dem sich die Evolution bedient. Das heißt: Auch wenn wir zunächst nicht die Arten ausrotten, aber die Bestände reduzieren, dann reduzieren wir das Material und damit die Möglichkeit für die Evolution."
Das Ende der Evolution
Der Mensch und die Vernichtung der Arten
Von Matthias Glaubrecht
Erscheint bei C. Bertelsmann am 30. September 2019
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