Die Steinzeit hat unser Erbmaterial maßgeblich geprägt, weil sie viel länger dauerte als die Epoche der letzten 5.000 bis 10.000 Jahren, erläutert der Psychiater Martin Brüne von der Ruhruniversität Bochum. In seinem Buch "Der unangepasste Mensch" verdeutlicht er das mit einer Menschenkette: "Wenn man seinen Vater an die Hand nimmt, und der seinen Vater und so weiter und so weiter, dann ist man mit 400 Leuten in der Steinzeit." Die Steinzeit hingegen dauerte länger als zwei Millionen Jahre. Mit 25 Jahren je Generation wären das 80.000 Generationen. Es leuchtet ein, dass diese Zeit die Biologie des Menschen weit stärker prägte als die 400 Generationen kultureller Entwicklung.
Doch nicht alle Menschen der Steinzeit lebten unter den gleichen Bedingungen. Diese Epoche reichte von den Frühmenschen, die in kleinen Gruppen die Savanne durchstreiften, bis zu den Anfängen der Landwirtschaft in der Jungsteinzeit. Das Hamstern beispielsweise kann erst entstanden sein, als die Menschen sesshaft wurden und im Sommer Nahrung für den Winter horteten.
Jagende Männer, sammelnde Frauen?
Dass die Evolution neben unserem Körper auch unsere Psyche und unser Verhalten beeinflusst, liegt auf der Hand. Schon Charles Darwin äußerte sich dahingehend in seinem Buch "Die Abstammung des Menschen". Wieder aufgegriffen wurde die Idee in den 1980er Jahren von der Psychologin Leda Cosmides und dem Anthropologen John Tooby an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara. Ihrer Theorie nach ist der menschliche Geist in Modulen organisiert. Das sind psychologische Anpassungen, die unseren jagenden und sammelnden Vorfahren dazu dienten, bestimmte Herausforderungen der steinzeitlichen Umwelt zu meistern. Also: Moderner Schädel, aber steinzeitlicher Geist.
Mit diesem Ansatz wurde zum Beispiel erklärt, warum wir heute immer noch mehr Angst vor Schlangen haben als vor Autos. Das wird als Anpassung an Gefahren der Steinzeit interpretiert, die mit den heutigen Risiken wenig zu tun hat. Auch das angeblich bessere räumliche Orientierungsvermögen von Männern wird mit den Herausforderungen der Steinzeit begründet. Männer, die gemäß der gängigen Vorstellung beim Jagen weitere Strecken zurücklegten als Frauen, brauchten eine bessere Orientierung. Angeblich können sie deshalb bis heute besser einparken.
Die Gene sind nicht alles
Robin Dunbar, emeritierter Professor für Evolutionspsychologie an der Universität Oxford in Großbritannien, stimmt Cosmides und Tooby zu, dass einige geistige Eigenschaften tatsächlich an vergangene Umgebungen angepasst sein könnten, hält die Idee aber nicht für allgemeingültig. Letztendlich gehe es beim Einfluss der Evolution auf unsere Psyche um grundsätzliche Motivationsmechanismen, die dem Überleben und der erfolgreichen Weitergabe der Gene dienten: "Verhaltensweisen, die die Geburtenrate, die erfolgreiche Aufzucht der Nachkommen oder noch besser die Zahl der eigenen Enkelkinder optimieren, sind mit großer Wahrscheinlichkeit die, die sich im Lauf der Evolution durchsetzen."
Das bedeutet für Dunbar allerdings nicht, dass unser konkretes Verhalten in einer bestimmten Situation genetisch vorgezeichnet sei. Unterschiedliche Lebensumstände könnten vielmehr zu ganz verschiedenen Verhaltensweisen führen. "Sie maximieren vielleicht die Anzahl der Enkelkinder, die Sie hinterlassen. Aber das liegt nicht daran, dass Sie ein genetisches Rezept haben, das sagt: Du musst die Anzahl deiner Enkel maximieren! Was genetisch ist, ist die Motivation, Ihre Kinder zu lieben und Sex zu genießen, um sich zu vermehren. Aber ein großes Gehirn zu haben, erlaubt es Ihnen gleichzeitig, diesen Antrieb flexibel an die Umstände anzupassen, unter denen Sie gerade leben." Ein Volk auf den Andamanen etwa hat es über Jahrzehntausende geschafft, die begrenzten Ressourcen ihrer Insel durch Geburtenkontrolle zu erhalten.
Evolution und psychische Störungen
Auch psychische Störungen wie Depressionen sind Teil unseres biologischen Erbes. "Evolution hat nicht primär das Ziel, uns superglücklich zu machen und ein schönes Leben zu haben," erläutert Frank Rühli, Leiter des Instituts für Evolutionäre Medizin der Universität Zürich. Evolution sorgt vielmehr für Vielfalt, so dass die Gruppe auf plötzliche Veränderungen reagieren kann.
In jeder Gruppe gibt es Ängstliche und Mutige, Nachdenkliche und Schlagfertige. Erst die Gemeinschaft verschiedener Persönlichkeiten macht die Gruppe stark. Für manche Herausforderung braucht es die Ängstlichen, für andere die Mutigen, Kreativen, Zähen. Das gelte auch für Verhaltensweisen, die wir heute als Störungen bezeichnen, sagt der Psychiater Martin Brüne: "Eine depressive Reaktion ist nicht immer krankhaft. Denn in bestimmten Situationen kann vorübergehender sozialer Rückzug von Vorteil sein, weil man einem nicht anders zu lösenden Konflikt ausweicht."
Die Bandbreite von Verhaltensweisen könnte nützlich sein für einzelne und für die Gemeinschaft. Greta Thunberg zum Beispiel hat das Asperger-Syndrom, eine Form des Autismus, und sie hat dazu getwittert: "Ich habe Asperger, und das bedeutet, dass ich manchmal ein bisschen anders bin als die Norm. Und unter den richtigen Umständen anders zu sein, ist eine Superkraft."
Die Evolution optimiert nicht, sie spielt
Umgekehrt heißt dies nicht, dass jede psychische Störung als sinnvolle Variante menschlichen Verhaltens verstanden werden kann. Die Evolution optimiert nicht, sie spielt. Randolph Nesse, Gründer des Zentrums für Evolution und Medizin an der Arizona State University vergleicht etwa extreme Formen von Schizophrenie mit einer Metapher aus der Pferdezucht: "Züchtet man Pferde auf Geschwindigkeit, werden die Tiere immer schneller. Aber die Knochen ihrer Beine werden dabei länger, dünner und leichter – und anfälliger für Brüche. Die natürliche Selektion treibt dieses System also bis an den Rand." Ein weiterer Schritt, und das Ganze breche zusammen, so Nesse. "Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Menschen bei vielen körperlichen, aber vor allem geistigen Merkmalen bis zu einem Punkt vorangeschoben werden, an dem sie verletzlich werden und von der Klippe stürzen."
Evolutionspsychologie: Zu simpel gestrickt?
In populärwissenschaftlichen Büchern liefert die Evolutionspsychologie für komplizierte Probleme oft erfrischend einfache, unterhaltsame Erklärungen. Allerdings stehen die Theorien mitunter auf sehr wackeligen Füßen. Das fängt schon damit an, dass niemand weiß, wie unsere Vorfahren in der Steinzeit genau lebten. Sie jagten Mammuts, nutzten dafür Steinspitzen, sammelten Samen und Nüsse. Aber wie verteilten sie ihre Beute, und jagten wirklich nur die Männer?
Als Modell greifen Evolutionspsychologen und -psychologinnen mitunter auch auf heutige Jäger-Sammler-Gemeinschaften zurück. Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in Berlin kritisiert diese Herangehensweise: "Als hätten die Menschen damals, nur weil sie jetzt Steinwerkzeuge benutzen, sonst keinerlei Entwicklung genommen. Und man denkt, sie wären quasi in der Tiefkühltruhe der Evolution verblieben, und wir könnten sie jetzt auf solchen Stufen zuordnen. Das hat man in der Zeit des Kolonialismus mit allen unterworfenen Bevölkerungen gemacht."
Was fremd ist, ist nicht minderwertig
Die Gefahr sei groß, anderes oder fremdes Verhalten unbewusst abzuwerten, kritisiert Andreas Heinz: "Das ganz große Problem der Evolutionspsychologie ist, dass man Natur und Kultur verschleift - mit völlig unpassenden und extrem eurozentristischen Begriffen. Dieser Versuch quasi zu imaginieren, wie andere Gesellschaften waren, ist bei der Evolutionspsychologie fast nie durch anthropologisches Fachwissen getrübt."
Zu ergründen, wie Genetik und Verhalten zusammenhängen, ist eine komplexe Herausforderung. Denn die Genetik beeinflusse nicht das Verhalten, so Andreas Heinz, sondern das Gehirn, als Träger des Verhaltens. "Aber jetzt versuchen Sie mal, Funktionen des Gehirns, die sozial relevant sind, zu definieren." Keiner der Ansätze sei widerspruchsfrei. Und selbst, wenn sich die Widersprüche ausräumen ließen: "Dann müsste man zeigen, welche dieser Funktionen tatsächlich evolutionär stabil sind. Was man halt nicht kann, weil wir die alten Völker nicht untersuchen können, die jetzt nicht mehr leben. Und dann wird es eine Konstruktion. Das ist eine interessante Erzählung. Aber es ist eine Erzählung unter mehreren."
Jäger und Sammler hamstern eher nicht
Die moderne Evolutionspsychologie erhebt nicht den Anspruch, einzelne Verhaltensweisen unmittelbar biologisch abzuleiten. Sie verweist eher darauf, dass sich im Lauf der Evolution Mechanismen durchsetzen sollten, die das Überleben und die Weitergabe der Gene fördern – was sich je nach Umwelt anders äußern kann.
Unstrittig ist also, dass die Evolution unsere Psyche und unser Verhalten beeinflusst. Nur wie genau – das ist schwer zu ermitteln und entsprechend umstritten. Viele populärwissenschaftliche Erklärungsversuche für einzelne Verhaltensweisen bleiben Spekulation – es könnte so gewesen sein, oder eben anders.
Legt die Corona-Pandemie den Steinzeitmenschen in uns frei? Beim Hamstern jedenfalls ist Andreas Heinz wenig überzeugt: "Das können Sie von mir aus auch evolutionär erklären. Wobei wir wirklich nicht wissen, wie viel die Menschen früher gehortet haben. Jäger und Sammler können fast gar nicht horten, die müssen mit ganz wenig leben. Die haben kaum eigenen Besitz."
Evolution und Corona
Was uns in der Pandemie schützt, ist der Überlebenswille der Menschheit, und der hat eine evolutionäre Grundlage. Ins Bild passt auch die manchmal große Bandbreite an Verhaltensweisen, die wir im öffentlichen Leben beobachten können. Frank Rühli:
"Ich denke an die Vielfalt von Reaktionen in einer Krise – und COVID 19 ist ein gutes Beispiel dafür. Denn, wenn sie eine Gruppe sind, eine Population oder eine Spezies, und Sie eine Bedrohung haben, dann macht es durchaus Sinn, unterschiedliche Reaktionsmuster zu haben." Je vielfältiger eine Population, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie letztendlich durch eine Krise kommt.