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EVP-Fraktionschef Weber
"Wir schaffen an der Außengrenze sehr viel"

Der CSU-Europapolitiker Manfred Weber findet, dass Europa "im Kern" funktioniere. Nur weil es in der Flüchtlingsfrage hake, müsse man nicht gleich die Grundsatzfrage stellen, sagte er im DLF. Sicher sei aber: Die EU brauche mehr Solidarität - etwa bei der Verteilung der Flüchtlinge.

Manfred Weber im Gespräch mit Mario Dobovisek |
    Manfred Weber bei einer Pressekonferenz.
    Manfred Weber, Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europaparlament. (dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Weber ist Vorsitzender der konservativen EVP-Fraktion im Europäischen Parlament. Er beklagte die politische Entwicklung in den einzelnen Mitgliedsstaaten. "Wenn man den Blick auf die nationale Ebene wirft, dann ist in Frankreich Le Pen stark, in Italien ist es Grillo." Und in Polen gebe es eine Regierung, die die Grundwerte nicht mehr ernst nehme. "Großbritannien ist durch den Wind", weil man dort nicht wisse, wie mit dem Brexit-Ergebnis der Bürger umgegangen werden soll.
    Nur weil man in der Flüchtlingsfrage streite und schwer vorankomme, sollte man aber nicht gleich die Grundsatzfrage stellen, meinte Weber. Zugleich verteidigte er die EU-Flüchtlingspolitik gegen Kritik. Die Balkanroute sei geschlossen und in Passau an der deutschen Grenze kämen keine Flüchtlinge mehr an.
    Weber lobte in diesem Zusammenhang das Abkommen mit der Türkei. In der Ägäis stürben keine Menschen mehr. Und die EU gehe im Mittelmeer intensiver gegen Schlepper vor. Weber sagte wörtlich: "Wir schaffen an der Außengrenze sehr viel". Zugleich mahnte der CSU-Politiker mehr Solidarität unter den EU-Staaten bei der Verteilung der Flüchtlinge an. Es könne nicht sein, dass die Gemeinschaft Griechenland, Italien und die Türkei alleine lasse. Im Europäischen Parlament gebe es eine klare Mehrheit für die von der EU-Kommission vorgeschlagene Quote zur Verteilung der Flüchtlinge. Weber kritisierte nationale Vorbehalte. Es gebe einen unsäglichen Streit der Staats- und Regierungschefs in dieser Frage.

    Das Interview in voller Länge:
    Mario Dobovisek: Am Telefon begrüße ich Manfred Weber, CSU-Politiker. Er ist Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volksparteien im Europaparlament. Guten Morgen, Herr Weber.
    Manfred Weber: Guten Morgen.
    Dobovisek: Hat Juncker gestern zum Aufbruch geblasen?
    Weber: Juncker hat gestern eine jährliche Bestandsanalyse gemacht. Europa ist in keiner guten Verfassung und das hat zunächst mal gar nichts mit der Europäischen Union, mit Institutionen zu tun. Sondern wenn man einen Blick auf die nationale Ebene wirft, dann ist Le Pen in Frankreich stark, dann ist Grillo in Italien stark, dann haben wir in Polen leider Gottes eine Regierung, die die Grundwerte nicht mehr ernst nimmt, dann ist Großbritannien derzeit total durch den Wind, weil die nicht wissen, wie sie mit dem Brexit-Ergebnis der Bürger umgehen sollen. Das ist die Analyse auf nationaler Ebene, und wenn die Staaten nicht stark sind, kann die Europäische Union nicht stark sein.
    Dobovisek: Durch den Wind, sagen Sie. Das trifft ja auch auf weite Teile der EU insgesamt zu. Glauben Sie noch an ein gemeinsames Europa?
    Weber: Ja natürlich, weil Europa im Kern auch funktioniert. Schauen Sie, wir haben jetzt ein großes Thema, die Flüchtlingsfrage, und da streiten wir. Aber wenn wir streiten bei einem Thema, wenn gerungen wird zwischen Ost und West, zwischen Parteien in Europa, dann wird gleich gesagt, wegen des Streites ist Europa im Bestand gefährdet. Es würde niemand auf die Idee kommen, angesichts des Streits, den wir in Deutschland um die Flüchtlingspolitik haben, zu sagen, Deutschland ist im Bestand gefährdet. Wir müssen uns das abgewöhnen, dass immer gleich die Grundsatzfrage gestellt wird, macht Europa Sinn, nur weil ein Thema, das uns Deutschen zur Zeit sehr wichtig ist, im Moment in Europa etwas schwierig vorankommt.
    "Der Brexit ist ein historischer Einschnitt"
    Dobovisek: Die Briten wollen Europa verlassen, auch wegen der Flüchtlingskrise. Das sagen zumindest die Meinungsforscher nach dem Referendum dort. Also ist die Frage ja durchaus berechtigt, ob Europa noch so bleiben wird, wie es war.
    Weber: Ja, das ist richtig, und der Brexit ist ein historischer Einschnitt, und ich gehe davon aus, dass der Brexit am Ende dazu führt, dass der Rest der Europäischen Union versteht, auch die Bürger mehr Verständnis dafür entwickeln, wie wichtig die Gemeinschaft ist. Weil wenn Sie sich jetzt die letzten Wochen anschauen seit diesem Brexit-Ergebnis, hat das britische Pfund elf Prozent an Wert verloren. Viele internationale Konzerne überlegen sich, ihren Standort von Großbritannien wegzuverlagern. Schottland droht, Großbritannien zu verlassen. Ich habe selbst mit der schottischen Premierministerin darüber gesprochen. Sie sagt, wir lassen uns das von den Engländern und Walisern nicht vorschreiben, wo wir sind. Wir sind für Europa. Das Land ist tief gespalten und das sehen die Leute europaweit. Und deswegen: Europa mag vielleicht, die Europäische Union mag vielleicht nicht spannend sein, Brüssel mag vielleicht auch etwas behäbig und intransparent sein. Aber im Kern verstehen die Leute, es macht Sinn, dass wir in Europa, in dieser Gemeinschaft der Staaten zusammenarbeiten, um gemeinsam Stabilität zu erzeugen. Ich glaube, dass der Effekt so sein wird, dass wir uns vergewissern, dass es richtig ist zusammenzuarbeiten.
    Dobovisek: Ist es dann richtig, dass Sie mit Julian King einen Briten heute in die EU-Kommission berufen wollen als Europäisches Parlament?
    Weber: Eines der Grundprinzipien in Europa ist, dass wir Recht einhalten, dass wir uns Prinzipien geben und die einhalten. Und bis heute hat die britische Regierung keinen Austrittsantrag gestellt. Großbritannien ist heute normales Mitglied der Europäischen Union, nur politisch in einem Schwebezustand, aber rechtlich ein normales Mitglied. Und deswegen stimmen die britischen Abgeordneten im Europäischen Parlament ab, und deswegen muss auch ein britischer Kommissar dort am Tisch sitzen. Wir haben das jetzt so organisiert, auch mit Jean-Claude Juncker, dass Julian King zwar mit dabei ist, aber unter Aufsicht anderer Kommissare seine Arbeit durchführen wird. Ich glaube, dass das ein guter Mittelweg ist.
    "Auch im Mittelmeer gehen wir gegen die Schlepper viel intensiver vor"
    Dobovisek: Kommen wir zurück zu einem gemeinsamen Europa, zurück auch zur Flüchtlingskrise. Viele glauben in Europa einfach nicht mehr an ein gemeinsames Europa. Ratspräsident Donald Tusk spricht von einem geschwächten Vertrauen, und das ist noch recht diplomatisch ausgedrückt. Der Gipfel morgen in Bratislava, sagt er, er müsse einen Wendepunkt bilden, und meint damit eben die Flüchtlingskrise, den Schutz der Außengrenzen etwa. Ein Wendepunkt, wie muss der für Sie aussehen?
    Weber: Ich denke, wir haben bereits viel erreicht. Es kommen heute in Passau bei uns in Deutschland keine Flüchtlinge mehr an. Die Balkan-Route ist geschlossen, das Türkei-Abkommen wirkt, es sterben keine Menschen mehr in der Ägäis zwischen Griechenland und der Türkei. Und auch im Mittelmeer gehen wir gegen die Schlepper viel intensiver vor. Wir haben über 200 Schiffe aufgegriffen, bevor Flüchtlinge an Bord gegangen sind, bevor sie diesen unsicheren Weg gegangen sind. Das heißt, wir schaffen an der Außengrenze bereits sehr, sehr viel. Über das muss man auch mal reden. Auch Donald Tusk, auch die Staats- und Regierungschefs müssen darüber reden. Und es bleibt eine große offene Frage, nämlich wenn die Außengrenzen heute besser geschützt werden als vor einem Jahr, dann steht die Frage im Raum, was machen wir dann mit den Menschen, die wirklich als Flüchtlinge in Lesbos und in Lampedusa ankommen und dort in den neu aufgebauten Hotspots auch als Flüchtlinge anerkannt werden. Es kann nicht sein, dass wir dann Griechenland und die Italiener mit diesem Thema alleine lassen. Dann brauchen wir einen Mechanismus der Solidarität, eine Quote. Und ich darf noch mal darauf verweisen: Die Kommission hat die vor einem Jahr vorgelegt. Die EU-Kommission hat diese Quote vor einem Jahr vorgelegt. Wir im Europäischen Parlament, obwohl wir auch Polen und Ungarn und Litauer in unserem Parlament haben, wir haben eine klare parlamentarische Mehrheit für diese Quote. Europa in Brüssel funktioniert in diesem Zusammenhang. Es ist der unsägliche Streit zwischen den Staats- und Regierungschefs, der leider Gottes dazu führt, dass wir da eine Blockade haben, und deswegen ist mein Appell an Bratislava: Hört auf mit diesem Kindergarten, setzt euch endlich zusammen und findet eine gemeinsame Lösung. Die Menschen erwarten Schluss mit Streit, sie erwarten, dass jetzt endlich die Probleme angepackt werden.
    Dobovisek: Dieser Kindergarten, Herr Weber, wie Sie ihn nennen, geht ja so weit, dass die Ungarn am 2. Oktober sogar darüber abstimmen werden, ob sie sich an die Zusagen halten der Flüchtlingsverteilung, Flüchtlinge aufzunehmen. Können Sie Jean Asselborn verstehen, wenn er sagt, er möchte Ungarn am liebsten ausschließen?
    Weber: Das ist Teil des Kindergartens, wenn ich das ganz ehrlich sagen darf. Wenn wir in einer Union beisammen sind, dann mag einem nicht alles passen, was andere Staaten sagen. Aber wenn Staaten Argumente einbringen, dann muss man sich zusammensetzen und Lösungen bringen. Das gilt für diejenigen, die viel für Flüchtlinge tun wollen, genauso für die, die jetzt wie Viktor Orbán am besten alles abriegeln wollen. Beide Positionen müssen sich zusammenraufen. Es muss jeder ein Stück auf den anderen zugehen. Wir haben in Europa heute zu viel nationalen Egoismus, weil jeder glaubt, er kann damit seine Bürger überzeugen, mit diesem Einigeln zuhause, weil uns ja auch die Populisten im Nacken sitzen als seriöse Politiker. Und die Antwort ist: Geht aufeinander zu, löst die Probleme. Dann werden die Menschen in Europa sagen, ich gewinne wieder Vertrauen in Politik und in die Europäische Union zurück.
    "Grenzen müssen geschützt werden"
    Dobovisek: Ist ein Appell, der in der großen Union wichtig ist und ankommen muss, aber auch in der sozusagen nationalen, der kleinen Union, der Union aus CDU und CSU in Deutschland. Die ist sich ja auch nicht einig, und Sie sind CSU-Politiker. Da gibt es immer wieder den Streit um die Obergrenze und so weiter und so fort. Man kommt nicht wirklich voran, zumindest in der Wahrnehmung von draußen. Wie soll sich denn Europa einig werden, wenn es noch nicht mal Schwestern in Deutschland schaffen?
    Weber: Sie beschreiben das zurecht. Die Diskussion gibt es sowohl national als auch europäisch. Und die Grundmelodie muss sein, erstens: Grenzen müssen geschützt werden. Und solange das an der europäischen Grenze nur mäßig funktioniert, sind auch nationale Grenzen wie in Schweden, in Deutschland, in Österreich bisher jetzt auch geschützt worden. Das heißt, Grenzen müssen geschützt werden. Das Zweite ist: Wir müssen helfen. Es kann nicht sein, dass in Aleppo und in Syrien bis vor wenigen Tagen Menschen unter Bombenterror litten, dass wir dann wegschauen als Europäer. Und das Dritte ist: Wir müssen es dann solidarisch tragen in Europa. Wenn uns das gelingt, dass wir eine europäische Lösung hinkriegen, dann glaube ich auch, dass das einen wesentlichen Einfluss auf die deutsche Debatte haben wird. Meine Partei, die CSU, hat Angela Merkel in der Lösung auf europäischer Ebene immer unterstützt. Auch wir wollen eine europäische Lösung.
    Dobovisek: Ihre Partei sagt aber auch, dass es eine Obergrenze sagen müsse. Sie sagen jetzt, dass wir auf jeden Fall helfen müssen. Gilt das dann für den Zweihunderttausendersten nicht mehr?
    Weber: Sehen Sie, wir haben in der jetzigen Türkei-Vereinbarung Kontingente festgelegt. Wir reden mit der Türkei, setzen uns zusammen und sagen, ihr habt drei Millionen und wir wollen die Last, wie man Flüchtlinge unterbringt, mit euch teilen, wir wollen uns solidarisch zeigen. Und da setzt man sich als Staaten zusammen und versucht, einen vernünftigen Weg zu gehen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Schlepper entscheiden, wie viele Menschen kommen, dass die Mafia entscheidet, wie viele Menschen kommen, sondern das müssen Staaten entscheiden, und das macht die ganze Welt so. Kanada hat 40.000 angeboten, die USA hat Kontingente angeboten, wie viele Flüchtlinge sie von Jordanien beispielsweise aufnimmt. Und so sollte Europa auch handeln, solidarisch sein, aber alles mit Maß und Ziel.
    Dobovisek: Kommen wir noch auf einen anderen Punkt zu sprechen. Jean-Claude Juncker ist Kommissionspräsident, stammt aus Ihrer Parteifamilie, den Volksparteien nämlich. Er schlägt vor, dass Martin Schulz Parlamentspräsident bleibt, ein Sozialdemokrat. Es gehe ihm um Kontinuität, sagt er. Sie lehnen das ab, erst gestern Abend auch wieder beschlossen in Ihrer Fraktion. Warum bestehen Sie auf bestehenden Vereinbarungen, anstatt auf Kontinuität zu setzen, gerade in dieser Krise?
    Weber: Die Vereinbarung zwischen der Europäischen Volkspartei und den Sozialdemokraten zu Beginn der Legislaturperiode hat sich auf die Wahl des Parlamentspräsidenten bezogen, dass zunächst für zweieinhalb Jahre die Sozialdemokraten einen Vorschlag machen dürfen und für zweieinhalb Jahre dann die Europäische Volkspartei. Wir sind die größte Fraktion im Parlament, und es ist gute Tradition, dass wir das miteinander gestalten und uns auch gegenseitig respektieren. Nichtsdestotrotz sage ich auch: Die Wahlen sind im Januar 2017. Das heißt, wir haben noch ein halbes Jahr. Und ich würde uns auch davor warnen, jetzt ein halbes Jahr nur über Personalfragen zu diskutieren. Ich möchte, dass wir das im Dialog mit allen anderen Fraktionen im Parlament diskutieren, wie die Institution Europäisches Parlament sich weiterentwickelt, und das werden wir in aller Gelassenheit tun.
    "Auch eine andere Führung des EU-Parlaments ist in der Lage, die Probleme, die wir haben, zu lösen"
    Dobovisek: Klingt aber mit Verlaub, Herr Weber, trotzdem auch nach Kindergarten, um Ihren eigenen Begriff noch mal aufschnappen zu dürfen an dieser Stelle, wenn doch Kontinuität gerade in dieser Situation, gerade in der Flüchtlingskrise, in dem uneinigen Europa, wie Sie es ja auch zutreffend beschrieben haben, so wichtig wäre.
    Weber: Nein, das ist nicht Kindergarten, sondern das ist ein ganz normales Verfahren, das wir vereinbart haben. Dass Institutionen sich zusammenraufen müssen, dass politische Parteien Konsens finden müssen, hat was mit Kompromiss zu tun. Der eine gibt was und der andere gibt was. Das ist Grundprinzip der Demokratie. Und diese Vereinbarung haben wir zu Beginn getroffen. Auch eine andere Führung des Europäischen Parlaments ist in der Lage, die Probleme, die wir aktuell haben, zu lösen. Aber ich sage noch mal: Wir sind jetzt am Beginn des Prozesses. Ich möchte mit allen Fraktionen, auch mit der Sozialdemokratie, auch mit Martin Schulz, gemeinsam diskutieren, wie wir das gestalten.
    Dobovisek: Manfred Weber ist Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volksparteien im Europaparlament. Ich danke Ihnen für das Interview.
    Weber: Ich bedanke mich.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.