Archiv

Ewige Sommerzeit?
Nie wieder eine Stunde geschenkt

In einer Online-Umfrage hat die Mehrheit der teilnehmenden EU-Bürger gegen die Zeitumstellung votiert. "Die Menschen wollen das, wir machen das", kommentierte Kommissionschef Juncker. Droht jetzt die ewige Sommerzeit? Schon melden sich warnende Stimmen: Die Zeitumstellungsumstellung hätte auch negative Folgen.

Von Florian Werner |
    Ein kleiner Hund ist hinter einer großen Uhr zu sehen, daneben ein Blumenstrauß
    Mensch und Tier leiden unter der Zeitumstellung, so viel scheint sicher (dpa/ Rolf Kremming)
    "Ewige Sommerzeit", jubelte gestern ein großer deutscher Nachrichtensender, "Sommerzeit für immer" ein anderer, und ein drittes Medium versprach: "Die Sommerzeit kommt!" Nur, damit keine falschen Hoffnungen geweckt werden: Der Beschluss der EU-Kommission, die halbjährliche Zeitumstellung abzuschaffen, bedeutet nicht, dass es in Zukunft keinen Winter mehr gibt - auch wenn die Uhren demnächst in immerwährender Sommerzeit ticken, wird es doch nasskalt und grau.
    Mit welchen Erwartungen auch immer: Die EU-Bürger haben sich mehrheitlich für eine Abschaffung der Zeitumstellung ausgesprochen, und plötzlich kann es gar nicht schnell genug gehen: "Die Menschen wollen das, wir machen das", verkündete Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vollmundig, kaum dass die Ergebnisse bekannt waren; und der CDU-Europaabgeordnete Peter Liese ergänzte, das entsprechende Gesetz könne noch vor der nächsten Europawahl verabschiedet werden. Klar: Beim Thema Zeit zählt jede Sekunde.
    Weniger als ein Prozent der EU-Bürger stimmten ab
    Ein Sieg der direkten Demokratie also? Nun ja: Von rund 500 Millionen EU-Bürgern haben sich gerade einmal 4,6 Millionen an der Abstimmung beteiligt; von diesen haben wiederum 84 Prozent für die Abschaffung votiert, das entspricht weniger als einem Prozent. Das Ergebnis, das nun allenthalben als "überwältigende Mehrheit" präsentiert wird, gibt also bloß einen Bruchteil des Wählerwillens wieder. Mit solchen Zahlen könnte auch die Autofahrerpartei den Bundeskanzler stellen.
    Am ehesten entspricht das Ergebnis noch dem Willen der Deutschen, die mit Abstand am eifrigsten zur digitalen Wahlurne gestürmt sind: Zweidrittel der Stimmen kamen von hier. Dass das Thema hierzulande besonders emotional besetzt ist, konnte man ja bereits erahnen: Der Klagegesang über die schrecklichen Folgen der Zeitumstellung für den Biorhythmus erklingt seit ihrer Einführung so regelmäßig - alljährlich im März und Oktober -, dass man die Uhr danach stellen kann. Ausgerechnet der Reiseweltmeister Nummer eins, die Deutschen, die gern mal für ein Wochenende nach New York fliegen und sechs Stunden Zeitverschiebung locker im Handgepäck wegstecken, sind chronobiologisch offenbar hochsensibel: Eine schlappe Stunde Zeitumstellung pro Halbjahr verursacht ihnen unerträglichen Jetlag.
    Keine Schlafforscher mehr in Talkshows
    Die negativen Folgen der Zeitumstellungsumstellung, sollte sie denn kommen, dürften jedenfalls dramatisch sein: Heerscharen von Schlafforschern werden im Frühjahr und Herbst untätig herumsitzen, weil keine Talkshow mehr ihre Biorhythmusexpertise benötigt. Die Hinweiskästchen auf den Titelseiten der Tageszeitungen, auf denen halbjährlich zu lesen war: "Nicht vergessen: Heute Nacht ist Zeitumstellung!", werden leer bleiben. Vor allem aber werden wir nie wieder dieses herrliche Gefühl haben - an einem Samstagabend im Herbst ins Bett zu gehen, auf den Kalender zu schauen und erfreut festzustellen: Heute Nacht bekomme ich eine Stunde geschenkt!
    Aber noch ist Hoffnung: Schließlich wurde die Zeitumstellung in Deutschland immer wieder eingeführt und wieder abgeschafft: Es gab sie von 1916 bis 1918, mit Unterbrechungen von 1940 bis 1949, und jetzt wieder seit 1980. Die Abschaffungsbefürworter sollten sich also nicht zu früh freuen: Die nächste Zeitumstellung kommt bestimmt.